CO-ABHÄNGIGKEIT UND RESILIENZ VON FRAUEN MIT ALKOHOLABHÄNGIGEN ANGEHÖRIGEN EIN BEITRAG ZUR BIOGRAFIEFORSCHUNG FÜR DIE SEELSORGE (CODEPENDENCE AND RESILIENCE OF WOMEN WITH ALCOHOL-ADDICTED RELATIVES. A CONTRIBUTION TO BIOGRAPHICAL RESEARCH FOR PASTORAL COUNSELLING) by Waltraud Hörauf submitted in accordance with the requirements for the degree of MASTER OF THEOLOGY in the subject PRACTICAL THEOLOGY at the UNIVERSITY OF SOUTH AFRICA SUPERVISOR: DR ANDRÉ DE LA PORTE CO-SUPERVISOR: DR MANFRED BAUMERT 2 Statement Student number: 4802-219-5 Hiermit versichere ich, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig und ohne un- erlaubte fremde Hilfe verfasst habe und dass alle wörtlich oder sinngemäß aus Veröffentlichungen entnommenen Stellen dieser Arbeit unter Quellenangaben ein- zeln kenntlich gemacht sind. Für die vorliegende Arbeit wurden neben den in der Bibliographie aufgeführten Quellen keine weiteren Hilfsmittel verwendet. I declare that „Co-Abhängigkeit und Resilienz von Frauen mit alkoholabhängigen Angehöri- gen – Ein Beitrag zur Biografieforschung für die Seelsorge“ (Codependence and Resilience of Women with alcohol-addicted Relatives – A Contribution to Bio- graphical Research for Pastoral Counselling) is my own work and that all the sources that I have used or quoted have been indicated and acknowledged by means of complete references. Waltraud Hörauf Kaufungen, 28. Januar 2014 3 Danksagung Mein besonderer Dank gilt den sechs Biografinnen, die den Mut hatten und sich die Zeit nahmen, mir ihre Lebensgeschichte zu erzählen; ohne sie wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen. Großen Dank schulde ich meinen beiden Supervisoren, Herrn Dr. André de la Porte, University of South Africa und Herrn Dr. Manfred Baumert, Theologisches Seminar Adelshofen, die mich durch den Forschungsprozess mit konstruktiven Ratschlägen und weiterbringenden Impulsen in wohltuend wertschätzender Weise begleiteten. Zusätzlicher Dank gebührt Irmgard und Manfred Baumert für unermüdliche Ermuti- gung und aufbauende Worte, besonders in Zeiten der Blockierungen und Störungen. Dankbar bin ich allen, die mich in Verwaltungsangelegenheiten, in technischen und computertechnischen Fragen beraten haben. Besonders danke ich allen meinen Freunden, die für mich, diese Arbeit und für alle, die daran beteiligt waren, gebetet haben und beten. Nach Phasen, in denen immer wieder einmal die eigene Resilienzfähigkeit auf dem Prüfstand stand, kann ich bestätigen: „Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft“ Jes 40,31a. 4 Zusammenfassung Die Alkoholabhängigkeit ist die am stärksten verbreitete Abhängigkeitserkrankung in Deutschland. Unbekannt ist die Zahl der betroffenen Angehörigen. Nach Erarbeitung not- wendiger theoretischer Grundlagen und Vorstellung aktueller Forschungsergebnisse stan- den narrative Interviews mit Frauen von alkoholabhängigen Partnern im Mittelpunkt der Forschungsarbeit. Durch Datenanalyse und Dateninterpretation mit Methoden der rekon- struktiven Sozialforschung wurde ein tieferes Verständnis für die Lebensgeschichte der beiden ausgewählten Biografinnen gewonnen. Risiko- und Schutzfaktoren konnten diffe- renziert erfasst und resilienzfördernde Maßnahmen für Seelsorge und Beratung abgeleitet werden. Besondere Beachtung fand die Bedeutung des christlichen Glaubens als Resilienz- faktor. Weitere Beobachtungen durch Einbeziehung aller Interviews als Datenmaterial wurden als Hilfen für das Verständnis der Gesamtproblematik ausgewertet. Aus der Dis- kussion der Ergebnisse ergaben sich Handlungsempfehlungen für die christliche Gemeinde und richtungsweisende Impulse für Seelsorge und Beratung. Schlüsselbegriffe: Praktische Theologie; Empirische Theologie; Seelsorge; Alkoholabhängigkeit; Co- Abhängigkeit; Resilienz; Risiko- und Schutzfaktoren; Biografieforschung; rekonstruktive Sozialforschung; narrative Interviews. 5 Summary Alcohol dependence is the most widespread addictive disease in Germany, the number of affected relatives unkown. After acquiring theoretical foundations and current research results, my research focused on narrative interviews with wives of alcohol dependent part- ners. By the use of reconstructive social research methods, data analysis and interpretation a deeper understanding of the life history of the two selected biographers was obtained. After detecting risk and protective factors, resilience promoting factors for pastoral care and counselling could be derived. Special attention was paid to the importance of Christian faith. For an understanding of the overall problem, all interviews were included as data material and evaluated. From the discussion of the results, recommendations for the Chris- tian Church and impulses giving direction for pastoral care and counselling were derived. Key Terms Practical theology; empirical theology; pastoral care: alcohol dependence; co-dependence; resilience; risk and protective factors: biographical research; reconstructive social research; narrative interviews. 6 Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis der Anlagen Verzeichnis der Grafiken und Tabellen Formalia I. Einleitung ................................................................................................................. 13 I.I Motivation und Relevanz I.II Begründung des Forschungsvorhabens I.III Eingrenzung I.IV Problemkreise und Fragestellungen I.V Aufbau der Arbeit I.VI Hinweise auf das methodisch-empirische Vorgehen I.VII Literaturauswahl 1 Praktisch-theologische Ansätze Wissenstheoretischer Rahmen ................ 18 1.1 Praktische Theologie als empirische Wissenschaft ............................................ 18 1.2 Praktische Theologie im Kontext von Human- und Gesellschaftswissenschaften ............................................................................. 19 1.3 Poimenik ............................................................................................................ 21 1.3.1 Theologische Aspekte .............................................................................. 21 1.3.2 Empirische Wende in der Poimenik .......................................................... 22 1.3.3 Gegenwärtige Positionen der Poimenik .................................................... 24 1.4 Zusammenfassung ............................................................................................. 27 2 Alkoholmissbrauch und Alkoholabhängigkeit ................................................. 29 2.1 Begriffsklärungen ............................................................................................... 29 2.1.1 Alkoholmissbrauch ................................................................................... 29 2.1.2 Alkoholabhängigkeit/Abhängigkeitssyndrom ............................................ 29 2.1.3 Krankheitskonzept der Alkoholabhängigkeit ............................................. 31 2.2 Alkohol und seine Wirkung ................................................................................. 31 2.3 Entstehung der Alkoholabhängigkeit .................................................................. 33 2.3.1 Biologische Grundlagen des Abhängigkeitspotentials .............................. 33 2.3.2 Entstehungsbedingungen, die vom betroffenen Individuum ausgehen ................................................................................................. 34 2.3.2.1 Familie und Genetik .................................................................. 34 2.3.2.2 Psychische Disposition .............................................................. 35 2.3.2.3 Psychodynamische Theorien .................................................... 35 2.3.2.4 Lern- und verhaltenspsychologische Theorien .......................... 36 2.3.3 Entstehungsbedingungen, die vom sozialen Umfeld ausgehen ................ 37 2.3.3.1 Soziokulturelle Einflüsse ........................................................... 37 2.3.3.2 Soziales Umfeld, Beruf und Familie, finanzielle Situation .................................................................................... 37 2.3.3.3 Zusammenfassende Darstellung der Entstehung von Alkoholabhängigkeit .................................................................. 38 2.4 Formen und Verlauf der Alkoholabhängigkeit ..................................................... 39 2.4.1 Typologien ............................................................................................... 39 2.4.2 Verlaufsphasen der Alkoholabhängigkeit.................................................. 40 2.5 Wege aus der Alkoholabhängigkeit heraus ........................................................ 42 2.5.1 Kontakt- und Motivierungsphase .............................................................. 42 2.5.2 Entgiftungsphase ..................................................................................... 43 7 2.5.3 Entwöhnungsphase .................................................................................. 43 2.5.4 Nachsorgephase ...................................................................................... 44 2.5.5 Rückfälle .................................................................................................. 44 2.6 Zusammenfassung ............................................................................................. 45 3 Co-Abhängigkeit ..................................................................................................... 47 3.1 Entstehung und Entwicklung des Begriffs........................................................... 47 3.2 Ansätze zur Darstellung und Diagnose der Co-Abhängigkeit ............................. 47 3.2.1 Co-Abhängigkeit als Persönlichkeitsstörung nach Timmen Cermak ...................................................................................... 47 3.2.2 „Die Sucht hinter der Sucht“ nach Anne Wilson Schaef ............................ 48 3.2.3 Suchtförderndes Verhalten nach Carnot E. Nelson .................................. 49 3.2.4 Phasenmodell nach Helmut Kolitzus ........................................................ 50 3.2.5 Spirale der Co-Abhängigkeitsentwicklung nach Monika Rennert .............. 52 3.2.6 Hauptfaktoren der Co-Abhängigkeit nach Matthias Hermann Köhler ......................................................................... 54 3.2.7 Merkmale der Co-Abhängigkeit nach Jens Flassbeck .............................. 55 3.3 Entstehungsbedingungen ................................................................................... 57 3.3.1 Bedeutung der Herkunftsfamilie ............................................................... 57 3.3.2 Gesellschaftliche Einflüsse ....................................................................... 59 3.4 Wege aus der Co-Abhängigkeit heraus .............................................................. 61 3.4.1 Zwölf-Schritte-Programm der Anonymen Alkoholiker ............................... 61 3.4.2 Angehörigenarbeit durch CRAFT – Community Reinforcement and Family Training .................................................................................. 64 3.4.3 Leitthemen und Leitlinien der personzentrierten Behandlung der Co-Abhängigkeit nach Jens Flassbeck ..................................................... 66 3.5 Zusammenfassung ............................................................................................. 69 4 Resilienz ..........................................................................................................71 4.1 Bedeutung von Resilienz und verwandter Begriffe ............................................. 71 4.1.1 Resilienz und Vulnerabilität ...................................................................... 71 4.1.2 Salutogenese und Kohärenz .................................................................... 72 4.1.3 Coping ..................................................................................................... 72 4.2 Forschungsstand zum Themenkreis Resilienz ................................................... 73 4.2.1 „Wellen“ der Resilienzforschungsgeschichte ............................................ 73 4.2.2 Studien der Resilienzforschung ................................................................ 74 4.2.3 Risiko- und Schutzfaktoren-Konzepte ...................................................... 75 4.2.3.1 Risikofaktoren ........................................................................... 75 4.2.3.2 Schutzfaktoren .......................................................................... 75 4.2.3.3 Resilienzmodelle: Zusammenwirken von Risiko- und Schutzbedingungen .................................................................. 76 4.2.3.4 Schutzfaktoren im Erwachsenenalter ........................................ 77 4.3 Praktische Theologie und Resilienz.................................................................... 78 4.3.1 Theologische Aspekte der Resilienz ......................................................... 78 4.3.2 Christlicher Glaube als Resilienzfaktor ..................................................... 79 4.4 Resilienz in Entwicklungs- und Persönlichkeitspsychologie ................................ 82 4.5 Co-Abhängigkeit als Thema der Resilienzforschung .......................................... 85 4.6 Wege zur Resilienzförderung im Erwachsenenalter ........................................... 87 4.6.1 Zehn-Schritte-Konzept von Samuel Pfeifer ............................................... 87 4.6.2 “The Road to Resilience” nach Bengel & Lyssenko .................................. 87 4.6.3 Acht Schritte und acht Lehren nach Georg Pieper .................................... 88 4.6.4 Sieben Schlüssel für mehr innere Stärke nach Jutta Heller ...................... 89 8 4.6.5 „Wie Phönix aus der Asche – aus Krisen gestärkt hervorgehen“ – 10 Empfehlungen von Elisabeth Lukas ................................................. 89 4.7 Schlussfolgerungen für die Untersuchung und Zusammenfassung .................... 90 5 Empirische Forschung .......................................................................................... 93 5.1 Forschungsdesign .............................................................................................. 93 5.1.1 Qualitative Sozialforschung ...................................................................... 93 5.1.2 Grundannahmen und Prinzipien der interpretativen Sozialforschung........................................................................................ 93 5.1.3 Biografieforschung ................................................................................... 95 5.1.4 Erleben-Erinnern-Erzählen ....................................................................... 96 5.1.5 Narratives Interview ................................................................................. 98 5.1.6 Analyseverfahren ................................................................................... 101 5.1.7 Ethische Überlegungen .......................................................................... 104 5.1.8 Methodisches Vorgehen ......................................................................... 106 5.1.8.1 Suche nach Interviewpartnerinnen .......................................... 106 5.1.8.2 Profil der Interviewerin ............................................................. 108 5.1.8.3 Durchführung der Interviews ................................................... 108 5.1.8.4 Begründung der Auswahl zur Transkription ............................. 109 5.1.8.5 Anonymisierung ...................................................................... 110 5.1.8.6 Transkription ........................................................................... 110 5.2 Datenanalyse ................................................................................................... 110 5.2.1 Elsa ........................................................................................................ 111 5.2.1.1 Analyse des gelebten Lebens ................................................. 111 5.2.1.1.1 Familiengeschichte.................................................. 111 5.2.1.1.2 Biografische Daten .................................................. 112 5.2.1.1.3 Beispiel der Hypothesenbildung, Biografische Daten „Elsa“ ........................................ 113 5.2.1.1.4 Lebensgeschichte Elsas .......................................... 114 5.2.1.1.5 Zusammenfassende Strukturhypothese .................. 116 5.2.1.2 Analyse des erzählten Lebens ................................................ 117 5.2.1.2.1 Sequenzierung und Textsortenbestimmung des narrativen Interviews von Elsa .......................... 117 5.2.1.2.2 Auswertung ............................................................. 118 5.2.1.2.3 Zusammenfassung .................................................. 120 5.2.1.3 Analyse des erlebten Lebens .................................................. 120 5.2.1.3.1 Selbstwert ............................................................... 121 5.2.1.3.2 Beruf ....................................................................... 122 5.2.1.3.3 Christlicher Glaube .................................................. 124 5.2.1.3.4 Ehe/Ehemann ......................................................... 126 5.2.1.4 Risiko- und Schutzfaktoren: Lebensgeschichte Elsa ............... 130 5.2.1.4.1 Kindheit – Risikofaktoren ......................................... 130 5.2.1.4.2 Kindheit – Schutzfaktoren........................................ 130 5.2.1.4.3 Erwachsenenalter – Risikofaktoren ......................... 131 5.2.1.4.4 Erwachsenenalter – Schutzfaktoren ........................ 131 5.2.1.5 Zusammenwirken von Risiko- und Schutzfaktoren .................. 132 5.2.1.6 Bezug zur Forschungsfrage .................................................... 133 5.2.2 Lena ....................................................................................................... 135 5.2.2.1 Analyse des gelebten Lebens ................................................. 135 5.2.2.1.1 Familiengeschichte.................................................. 135 5.2.2.1.2 Biografische Daten .................................................. 137 5.2.2.1.3 Beispiel der Hypothesenbildung, Biografische Daten „Lena“ ....................................... 137 5.2.2.1.4 Lebensgeschichte Lenas ......................................... 138 5.2.2.1.5 Zusammenfassende Strukturhypothese .................. 141 9 5.2.2.2 Analyse des erzählten Lebens ................................................ 142 5.2.2.2.1 Sequenzierung und Textsortenbestimmung des narrativen Interviews von Lena ......................... 142 5.2.2.2.2 Zusammenfassende Auswertung ............................ 143 5.2.2.3 Analyse des erlebten Lebens .................................................. 144 5.2.2.3.1 Selbstwert ............................................................... 144 5.2.2.3.2 Beruf ....................................................................... 145 5.2.2.3.3 Christlicher Glaube – Gemeinde.............................. 146 5.2.2.3.4 Ehe/Ehemann ......................................................... 147 5.2.2.4 Risiko- und Schutzfaktoren: Lebensgeschichte Lena .............. 149 5.2.2.4.1 Kindheit – Risiko- und Schutzfaktoren ..................... 149 5.2.2.4.2 Erwachsenenalter – Risiko- und Schutzfaktoren ........................................................ 150 5.2.2.5 Zusammenwirken von Risiko- und Schutzfaktoren .................. 151 5.2.2.6 Bezug zur Forschungsfrage .................................................... 151 5.2.2.7 Synopse der Lebensgeschichten: Elsa und Lena bezüglich der Resilienzansätze ............................................... 152 5.2.3 Beobachtungen in Korrelation zu Themenschwerpunkten aus den Fachbereichen ................................................................................ 152 5.2.3.1 Korrelation zur Alkoholabhängigkeit ........................................ 152 5.2.3.2 Korrelation zur Co-Abhängigkeitsforschung ............................ 154 5.2.3.3 Korrelation zur Resilienzforschung .......................................... 155 5.3 Zusammenfassung ........................................................................................... 156 6 Diskussion der Ergebnisse und Handlungsempfehlungen ......................... 158 6.1 Reflexion des Forschungsprozesses – Gütekriterien ........................................ 158 6.1.1 Intersubjektive Nachvollziehbarkeit ........................................................ 158 6.1.2 Indikation des Forschungsprozesses ..................................................... 159 6.1.3 Empirische Verankerung ........................................................................ 159 6.1.4 Limitation ................................................................................................ 160 6.1.5 Reflektierte Subjektivität ......................................................................... 161 6.2 „Co-Abhängigkeit und Resilienz“ als Beitrag zur Biografieforschung ................ 161 6.3 „Co-Abhängigkeit und Resilienz“ als Beitrag zur Praktischen Theologie ...................................................................................... 164 6.3.1 Stärken und Schwächen – Kritische Betrachtungen ............................... 164 6.3.2 Herausforderungen für die Seelsorge ..................................................... 166 6.3.2.1 Selbstwertproblematik ............................................................. 166 6.3.2.2 Paar- Beziehungsstörung ........................................................ 170 6.3.3 Handlungsempfehlung für die christliche Gemeinde ............................... 173 6.4 Möglichkeiten der Weiterarbeit ......................................................................... 174 6.5 Schlussthesen .................................................................................................. 175 Bibliographie .............................................................................................................. 181 Anlagen ....................................................................................................................... 193 10 Inhaltsverzeichnis der Anlagen A1 Grafik 1: Anlagen ............................................................................................. 193 A2 DSM-5 Substanzgebrauchsstörung .................................................................. 194 A3 DSM-IV-TR Diagnostic Criteria for Alcohol Abuse und Dependence ................................................................................... 195 A4 Tabelle 1: Kurz- und langfristige neurobiologische Alkoholwirkungen ………. .. 196 A5 Grafik 4: Teufelskreise als Planetengetriebe197 .............................................. 197 A6 Grafik 5: Mehrstufige Behandlungskette für Alkoholkranke (nach Athen) ......... 198 A7 Co-Abhängigkeit / Kriterien – Kernsymptome – Merkmale – Faktoren (Cermak, Schaef) ............................................................................................. 199 A8 Co-Abhängigkeit / Kriterien – Kernsymptome – Merkmale – Faktoren (Köhler, Mellody, Rennert) ............................................................................... 200 A9 Co-Abhängigkeit / Kriterien – Kernsymptome – Merkmale – Faktoren (Flassbeck) ...................................................................................................... 201 A10 Vulnerabilitätsfaktoren – Risikofaktoren ........................................................... 202 A11 Risikofaktoren (Fortsetzung) – Traumatische Erlebnisse .................................. 203 A12 Grafik 9: Das Risiko- und das Schutzfaktorenkonzept als zentrale Konzepte der Resilienzforschung I ......................................................................................... 204 A13 Grafik 10: Das Risiko- und das Schutzfaktorenkonzept als zentrale Konzepte der Resilienzforschung II ........................................................................................ 205 A14 Personale Ressourcen ..................................................................................... 206 A15 Soziale Ressourcen ......................................................................................... 207 A16 Religiosität und Gesundheit ............................................................................. 208 A17 „The Road to Resilience".................................................................................. 209 A18 Einverständniserklärung der Interviewpartnerin ................................................ 210 A19 Einverständniserklärung des Interviewers ........................................................ 211 A20 Einverständniserklärung der Interviewpartnerin nach der Auswertung ............. 212 A21 Legende der Transkriptionszeichen.................................................................. 213 A22-I Narratives Interview mit „Elsa" am 17.07.2013, Haupterzählung ...................... 214 A23-I Narratives Interview mit „Lena" am 18.09.2013, Haupterzählung .................... 230 11 Verzeichnis der Grafiken und Tabellen Grafiken Grafik 1: Praktische Theologie, Anlagen, A1 .............................................................. 193 Grafik 2: Multikonditionales Bedingungsgefüge für die Entstehung der Alkoholabhängigkeit....................................................................................... 33 Grafik 3: Teufelskreis der Alkoholabhängigkeit nach Küfner ........................................ 38 Grafik 4: Teufelskreise als Planetengetriebe, Anlagen, A5 ......................................... 197 Grafik 5: Mehrstufige Behandlungskette für Alkoholkranke (nach Athen), Anlagen, A6 ................................................................................................. 198 Grafik 6: Co-Abhängigkeit ............................................................................................ 51 Grafik 7: Entwicklung von Co-Abhängigkeit .................................................................. 53 Grafik 8: Modell der Interaktion .................................................................................... 77 Grafik 9: Das Risiko- und das Schutzfaktorenkonzept I, Anlagen, A12 ....................... 204 Grafik 10: Das Risiko- und das Schutzfaktorenkonzept II, Anlagen, A13 ...................... 205 Grafik 11: Überwindung des niedrigen Selbstwertgefühls ............................................ 167 Grafik 12: Modell zu einem Miteinander und Füreinander in Partnerschaft und Familie173 Tabellen Tabelle 1: Kurz- und langfristige neurobiologische Alkoholwirkungen........................... 196 Tabelle 2: Alkoholikertypologie nach Jellinek ................................................................ 39 Tabelle 3: Beispiele von Entwicklungsaufgaben im Kindes- und Jugendalter ................. 83 Tabelle 4: Sequenzierung und Textsortenbestimmung des narrativen Interviews von Elsa ....................................................................................................... 118 Tabelle 5: Sequenzierung und Textsortenbestimmung des narrativen Interviews von Lena ...................................................................................................... 143 12 Formalia Bei der vorliegenden Arbeit mit einer frauenspezifischen Thematik wird oft explizit die weibliche Form gewählt; wird die männliche Form verwendet, sind beide Geschlechter gemeint, wenn nicht der Kontext dagegen spricht. Die allgemeinen Abkürzungen entsprechen denen in Siegfried Schwertners Abkür- zungsverzeichnis aus der Reihe TRE (1992). Andere Abkürzungen werden gesondert er- klärt. Zitationen erfolgen nach der Harvard-Methode (Studienbrief von Christof Sauer 2004). Die Bibelzitate und die entsprechenden Abkürzungen der biblischen Bücher sind der revidierten Bibelübersetzung von Martin Luther 1984, Ausgabe 1999 in neuer Recht- schreibung, entnommen. Die wörtlichen Zitate übernehmen die vorgefundene Rechtschreibung, einschließlich der dort verwendeten Abkürzungen. Abkürzungsverzeichnis BI Bildungsinitiative für Seelsorge, Prävention und Beratung BTS Biblisch therapeutiche Seelsorge CRAFT Community Reinforcement Approach Family Training DHS Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen EG Evangelisches Gesangbuch EKD Evangelische Kirche in Deutschland EKKW Evangelische Kirche von Kurhessen und Waldeck GBFE Gesellschaft für Bildung und Forschung in Europa e. V. IPS Hochschul-Institut für Psychologie und Seelsorge LIT Literaturverlag P & S Magazin für Psychotherapie und Seelsorge SCM Stiftung Christliche Medien 13 I. Einleitung I.I Motivation und Relevanz „Wir leben in einer Suchtgesellschaft“ (Kolitzus 2009:7)! Die Abhängigkeitserkrankung hat erschreckend viele Gesichter und Facetten. Auch wenn stoffungebundene Süchte stärker in der Öffentlichkeitsdiskussion stehen, so ist Alkohol nicht nur die älteste Droge der Welt, son- dern auch die am häufigsten konsumierte, leicht zugänglich, erschwinglich, legal. Auch in der Gemeinde der Verfasserin ist sie die verbreitetste. Sowohl in zwei Frauenkrei- sen als auch im Trauercafé gibt es trockene Alkoholikerinnen und betroffene Angehörige. Über die Alkoholabhängigkeit zu sprechen, wird immer noch als Tabubruch gesehen und be- sonders in christlichen Gemeinden, in denen es offiziell keine Suchtkranken geben sollte, ge- hören Abhängigkeitserkrankungen zu den Themen, über die man schweigt. Das Problem der Co-Abhängigkeit begegnete der Verfasserin bezeichnenderweise zu- nächst bei der Diskussion nach einem Vortrag zum Thema „Umgang mit Depressionen“, dann in Einzelgesprächen. Die Motivation, sich mit dem Forschungsthema zu beschäftigen, hat sich aus diesen Begegnungen entwickelt. Die Gefahr, ein ausgeprägtes Helfersyndrom (HS) zu entwickeln, ist bei Christen, insbe- sondere bei Christinnen oder bei Menschen mit helfenden Berufen sehr hoch. „Bei Frauen fällt das HS weniger auf, da Rücksicht auf andere, fürsorgliches, beschüt- zendes Verhalten, Zurückstellung eigener Bedürfnisse, passive narzisstische Bedürftigkeit und indirekte Aggressionsäußerung mehr zur weiblichen Rollenvorschrift in der bürgerli- chen und kleinbürgerlichen Gesellschaft gehören“ (Schmidbauer 2009:203). Die Einsicht, dass mit dem Schweigen, Ertragen von Demütigungen und Rettenwollen der Alkoholabhängige in seiner Krankheit stabilisiert wird und man letztlich nichts ausrichten kann, ist schwer vermittelbar, fühlt sich die helfende Frau doch lange Zeit gut und moralisch auf der richtigen Seite. Der Entschluss, aus einer Co-Abhängigkeit auszusteigen, erfordert viel Mut und Veränderungsbereitschaft und bedarf der Motivation und der Unterstützung. I.II Begründung des Forschungsvorhabens Im Jahrbuch Sucht 2011 wird darauf hingewiesen, dass sich von 2000 zu 2009 eine prozen- tuale Steigerung der Alkoholintoxikation in allen Altersgruppen von 111,91% ergibt. (Deut- sche Hauptstelle für Suchtfragen, DHS, 2011:13). Angehörige von Alkoholabhängigen wer- den nur an der Stelle erwähnt, an der es um nicht zu berechnende volkswirtschaftliche Kosten geht. 14 „So genannte intangible Kosten, wie etwa Kosten durch Verlust an Lebensqualität, Leid und Schmerzen auf Seiten der Betroffenen, Angehörigen und der gesamten Gesellschaft, blieben in den o.g. Kostenrechnungen unberücksichtigt“ (:14). Die Zahl der betroffenen Angehörigen von alkoholkranken Menschen ist nicht abzuschät- zen, schon gar nicht ihr Verlust an Lebensqualität. Die Co-Abhängigkeit als Ursache psycho- somatischer Erkrankungen, besonders von Frauen, wird selbst in Arztpraxen selten themati- siert. „Ihnen wäre viel geholfen, wenn der Hauptnenner, die Co-Abhängigkeit, erfasst würde“ (Kolitzus 2008:11). Ursula Lambrou, Pädagogin mit psychologischer Ausbildung in den USA, arbeitet im Be- reich der Suchtprophylaxe und greift auf eigene Erfahrungen als Tochter eines alkoholkran- ken Vaters und einer medikamentenabhängigen Mutter zurück, wenn sie Auswirkungen der Familienkrankheit Alkoholismus beschreibt (Lambrou 2010:11). Sie weist auf positive As- pekte von Verhaltensweisen der Co-Abhängigen hin, wenn sie in einem anderen Zusammen- hang benutzt werden, z. B. Verantwortung übernehmen, sich schnell auf kontrastreiche Situa- tionen einstellen, Chaos aushalten oder in turbulenten Situationen den Überblick behalten. Viele der betroffenen ehemaligen Co-Abhängigen arbeiten in Selbsthilfegruppen mit, sind Suchtberater, Therapeuten oder Fachärzte. Sie haben die Widrigkeiten und Schwierigkeiten nicht nur gemeistert, sondern nutzen ihre Erfahrungen in konstruktiver Weise oder sind auf andere Weise zu resilienten Persönlichkeiten geworden. I.III Eingrenzung Es soll in dieser Arbeit um frauenspezifische Problemzusammenhänge gehen, bei der die Co- Abhängige und die Seelsorge für sie selbst im Mittelpunkt stehen. Bewusst ist nur eine Ab- hängigkeitserkrankung, die Alkoholabhängigkeit, gewählt. Nicht selten sind Vater/Mutter, Ehemann/Partner u n d Sohn/Tochter alkoholabhängig, aber zunächst ist in Bezug auf Ange- hörige der Co-Abhängigen nur der Partner, Ehemann oder Lebensgefährte einbezogen. Inter- kulturelle Probleme würden eine neue Sichtweise erfordern, deshalb beschränkt sich die Un- tersuchung auf deutsche Frauen, deutsche Familien. Nur in Ausnahmefällen wird englisch- sprachige Literatur einbezogen. I.IV Problemkreise und Fragestellungen Durch den interdisziplinären Charakter der Arbeit, mit dem Schwerpunkt Poimenik, einer Unterdisziplin der Praktischen Theologie, ergeben sich mehrere Problemkreise und Fragestel- lungen. Einbezogen sind Entwicklungs- und Persönlichkeitspsychologie, psychosomatische Medizin (Abhängigkeitserkrankung) und Sozialwissenschaften (Biografieforschung). 15 Im Mittelpunkt stehen die co-abhängigen Frauen mit alkoholabhängigen Partnern. Neben der Forschungsfrage: „Welche Resilienzansätze sind aus den narrativen Interviews zu erschlie- ßen, um zur persönlichen Förderung in der seelsorgerlichen Begleitung beizutragen?“ sollen auch andere Themenbereiche im Umfeld der Problematik bei der Auswertung berücksichtigt werden. Es gilt zunächst die verschiedenen Aspekte der Co-Abhängigkeit zu beleuchten, Behand- lungsmöglichkeiten aufzuzeigen und entsprechende Hilfen für Seelsorge und Beratung abzu- leiten. Welche Kenntnisse über Entstehung, Verlauf und Behandlung der Alkoholabhängigkeit helfen den co-abhängigen Frauen? Welche Erkenntnisse aus der Resilienzforschung können dazu beitragen, co-abhängige Frauen zu stabilisieren und resilient werden zu lassen? Welche niederschwelligen Angebote können in christlichen Gemeinden gemacht werden, um zum Beenden der Co-Abhängigkeit zu ermutigen und den christlichen Glauben als Res- source zu nutzen oder zu entdecken? I.V Aufbau der Arbeit Die Klassifikation von Alkoholmissbrauch und Alkoholabhängigkeit, verschiedene Entste- hungsbedingungen, Verlauf der Krankheit, Alkoholfolgeschäden und mögliche Behandlungs- methoden bilden, unter Berücksichtigung aktueller Forschungsergebnisse, die Ausgangsbasis der Arbeit. Als wissenstheoretischer Rahmen dient die Praktische Theologie. Ihre Entwicklung zur empirischen Wissenschaft und der Forschungsstand im Kontext von Human- und Gesell- schaftswissenschaften sind darzulegen. Durch die Übernahme der Methoden, in diesem Fall aus der rekonstruktiven Sozialforschung, ist die Gefahr gegeben, dass die theologische Refle- xion unterbleibt. Möglichkeiten und Grenzen der empirischen Theologie sind aus diesem Grund besonders zu beachten. Es folgt die Darlegung gegenwärtiger Seelsorgeansätze im evangelisch-kirchlichen Kontext. Die Co-Abhängigkeit ist nicht nur unter impressionistischen Gesichtspunkten zu beschrei- ben, auch den möglichen Ursachen und Wurzeln, den Auswirkungen und den Wegen aus der Co-Abhängigkeit heraus ist nachzugehen, um Probleme und Möglichkeiten co-abhängiger Frauen einschätzen zu können. Die Erkenntnisse aus der Resilienzforschung, besonders die Risiko- und Schutzfaktoren, die auch im Erwachsenenalter entwickelt werden und die Wechselwirksamkeitsmechanismen sind zu erfassen, um sie in den Lebenserzählungen der co-abhängigen Frauen erkennen zu 16 können. Der Beitrag von Glaube und Religion zur Resilienzförderung soll besonders berück- sichtigt werden. Als Übergang zum empirischen Teil der Arbeit folgen die Beschreibung der Erhebungsme- thoden aus der rekonstruktiven Sozialforschung und die Darstellung der Interviewdurchfüh- rungen. Die Fragestellungen erfolgen nach dem „Drei-Welten-Modell“1 von Johann Mouton (2004). Die Überlegungen zum Theorieansatz der Biografieforschung nach Alfred Schütz und seinem Wirklichkeitsverständnis („Dritte Welt“) korrespondieren mit dem biografischen Erle- ben, Erinnern und Erzählen der co-abhängigen Frauen mit alkoholabhängigen Partnern im Alltagsgeschehen. Sie bestimmen auch die Datenanalyse und Interpretation der Forscherin und der Biografinnen. In der „Zweiten Welt“ (Forschungsansätze) werden die Kriterien der Resilienzforschung in Bezug zur „Dritten und Ersten Welt“ gesetzt. Aus der Erörterung der gewonnenen Erkenntnisse sollen Folgerungen und Konsequenzen für die seelsorgerliche Be- ratung und Begleitung abgeleitet werden. Forschungsstand und Begriffsklärungen werden in den jeweiligen Kapiteln, thematisch geordnet, behandelt. I.VI Hinweise auf das methodisch-empirische Vorgehen Die Auswahl der Interviewpartnerinnen zum narrativen Interview erfolgt in Zusammenarbeit mit der Fachklinik Calden-Fürstenwald, mit dem Blauen Kreuz2 und/oder dem Diakonischen Werk in Kassel. Es ist keine Altersbeschränkung vorgesehen. In ein oder zwei (höchstens drei) Sitzungen erzählen die Frauen ihre Lebensgeschichte. In der Nachfragephase können Sachverhalte geklärt und auch Punkte angesprochen werden, die für die Thematik der Disser- tation wichtig sind. Geplant sind 4-6 Interviews, von denen zwei analysiert werden sollen. Die anderen Transkripte sollen zum Vergleich und für weitere Beobachtungen als Datenmaterial verwendet werden. Es erfolgt keine Beratung. In der qualitativen Biografieforschung ist die resilienzfördernde Wirkung narrativer Inter- views bekannt und nachgewiesen. Ob andere Erhebungsmethoden, z. B. Genogramme, hinzu- genommen werden, hängt von der jeweiligen Interviewpartnerin ab. Das anonymisierte, ansonsten wörtliche Transkript nach der Tonbandaufnahme dient als Unterlage für Datenanalyse und Interpretation. Die Frauen geben vor dem Interview eine 1 „Three Worlds Framework“: “World 1: The world of everyday life and lay knowledge, World 2: The world of science and scientific research, World 3: The world of meta science” (Mouton 2004:137). 2 Das Blaue Kreuz ist ein Fachverband für Suchtkrankenhilfe, Mitglied im Diakonischen Werk der evangeli- schen Kirche und in der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen. In Kassel ist sowohl die stationäre Behand- lung in einer Klinik als auch eine ambulante Therapie möglich. Das „Blaue Café“ ist ein beliebter Treffpunkt und wird von ehrenamtlichen Helfern betrieben. 17 schriftliche Erklärung ab, dass sie mit der Tonaufzeichnung und mit der Verwendung ihrer Lebensgeschichte für die Forschungsarbeit einverstanden sind. I.VII Literaturauswahl Standardwerke und Monografien werden mit wenigen Ausnahmen ( Schaef 1986; Seitz 1978) vom Jahr 1990 an berücksichtigt; dadurch ist der Vorteil gegeben, entweder die jeweils über- arbeiteten Auflagen der Standardliteratur einzusehen oder neuere Forschungsarbeiten integrie- ren zu können. Fachvorträge, Zeitschriftenartikel, Dissertationen, Online-Veröffentlichungen werden in ihren neuesten Fassungen gesucht. Weitere Informationen sind durch die Zusammenarbeit mit der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen, DHS, zu erwarten. 18 1 Praktisch-theologische Ansätze Wissenstheoretischer Rahmen 1.1 Praktische Theologie als empirische Wissenschaft Seit der Wende von der kerygmatischen zur empirischen Gestalt der Praktischen Theologie gewinnen psychologische, pädagogische und soziologische Methoden an Einfluss auf die Praktische Theologie; sie wandelt sich zur „empirischen Handlungswissenschaft“, wie der Soziologe Helmut Schelsky formuliert (Meyer-Blanck 2003:1562). „Die ‚empirische Wendung‘3 führte seit 1968 zu einer Praktischen Theologie als ‚Handlungswissenschaft‘, die das Gespräch mit den Humanwissenschaften suchte und sich ihrer Methoden bediente, um dem Ruf nach ‚theologischer Kompetenz‘ zu genügen“ (Möller 2004:23). Heimbrock (2007) empfiehlt als Arbeitsdefinition: „Empirische Theologie ist ein theologischer For- schungsansatz, der Erkenntnis gelebter Religion im methodisch gesicherten Rückgriff auf Erfahrung versucht“ (:15). Das Grundinteresse richtet sich auf situationsgemäßes und ad- ressatenbezogenes kirchliches Handeln in Predigt, Seelsorge und Unterricht (:19). Die Praktische Theologie als Wahrnehmungs- und Erfahrungswissenschaft ist bei gegenwärti- gen Ansätzen in allen Teildisziplinen um Integration bemüht. „Praktische Theologie ist, gerade auch in der postmodernen Situation, kritische In- tegrationswissenschaft, die die ‚Macht des Faktischen und den Reiz des Mögli- chen‘(Henkys; Schultze) theologisch verantwortlich im Interesse experimenteller Praxis wahrnimmt, ökumenisch orientiert und lokal konkretisiert“ (Schöer 1997:210). Das Integrationsmodell wird, z. B. im religionspädagogischen Ansatz der Lehrbücher „Religion entdecken-verstehen-gestalten“ deutlich. Die Herausgeber Koretzki, Tammeus (2000) haben ein Werk vorgelegt, in dem traditionserschließende, problemorientierte und symboldidaktische Strukturen berücksichtigt werden. „Die grundlegende Einsicht, wonach Form und Inhalt immer nur gemeinsam reflektiert werden können, führte zu der Überzeugung, dass theologische Inhalte und humanwis- senschaftliche Erkenntnisse nur in ihrem Miteinander Sinn machen und die Praktische Theologie nur so vor Einseitigkeiten bewahrt werden kann“ (Deeg 2009:66). Die verschiedenen Zugänge zu den Handlungsfeldern der Praktischen Theologie sollen nicht „substitutiv“, sondern „komplementär“ angewandt werden (:11; siehe Grafik 1, An- lagen, A1). 3 Der Begriff geht auf den Religionspädagogen Klaus Wegenast zurück (Möller 2004:14; Schröer 1997:207). 19 1.2 Praktische Theologie im Kontext von Human- und Gesellschaftswissenschaften4 Beim Verhältnis der Praktischen Theologie zu den Human- und Sozialwissenschaften un- terscheidet der niederländische Pastoraltheologe Johannes A. van der Ven5 (1999) vier Modelle: „1. Monodisziplinarität 2. Multidisziplinarität 3. Interdisziplinarität6 4. Intradisziplinarität“ (:267). Um die konkrete gegenwärtige Situation zu erfassen, plädiert van der Ven für das Modell der Intradisziplinarität, bei dem davon ausgegangen wird, dass die Praktische Theologie selbst empirisch werden muss (:273). Die Methoden der Sozialwissenschaften werden von den theologischen Forschern übernommen und in Form eines fünfphasigen Forschungs- zyklus operationalisiert (:272-275). Kritisch hinterfragt wird dieses Konzept, z. B. von Norbert Mette (2011)7: „Es werden Zweifel angemeldet, ob schon bei dem Entwurf des Forschungsdesigns und erst recht bei der Auswertung neben den für eine saubere empirische Forschung erfor- derlichen Kriterien etwa der Validität und der Reliabilität auch im hinreichenden Maße theologische Kriterien zum Zuge kämen“ (:133). Unabhängig von Fragen des Forschungsdesigns kann auf die Einbeziehung der Human- und Gesellschaftswissenschaften nicht mehr verzichtet werden. Christian Grethlein (2012) betont in seiner Neu-Konzeption der Praktischen Theologie, in der er ihren Gegenstand als „Kommunikation des Evangeliums in der Gegenwart“ defi- niert (:324), die Notwendigkeit der Mehrspektivität (:135) und der Netzwerk-Strukturen, um den dynamischen Differenzierungsprozessen in Kultur und Gesellschaft gerecht zu werden (:569). Aus der Soziologie verwenden wir empirische Methoden, z. B. die „Qualitative Inhaltsana- lyse“ (Flick; Mayring), aber auch Feldanalysen, Milieustudien oder Statistiken, die helfen, Gesellschaft und Alltagswelt realistisch wahrzunehmen. Engemann (2007) stellt drei Reflexionsebenen heraus, bei denen die Praktische Theologie auf sozialwissenschaftliche Erkenntnisse angewiesen ist: 4 Schwerpunktartig wird auf den Bezug zur Soziologie und zur Psychologie eingegangen. 5 Van der Vens Ansatz der „vergleichenden empirischen Theologie“ (2005) stellt einen beachtenswerten Beitrag zum interreligiösen Dialog dar, auf den im Rahmen dieser Dissertation nicht eingegangen werden kann. 6 Nach der Klassifizierung von van der Ven (1999) geht es bei der vorliegenden Dissertation um einen interdisziplinären Dialog (:272). 7 Mette (2011) bezieht sich dabei auf Först ( 2010), Kiessling (2005), Klein (2005), Fuchs (2000) - (:133). 20 1. Erschließung sozialer Wirklichkeit 2. Begleitung der kritischen Selbstreflexion der Kirche 3. Wahrnehmung der sozialen Wirklichkeit Seine Begründung ist verständlich und nachvollziehbar. „Trotz seiner Einzigartigkeit ist der Mensch aufgrund seiner sozialen Verankerung in der Welt immer auch Teil einer Gruppe (Familie), einer sozialen Schicht, eines beste- henden Milieus, das ihn prägt, ihn zu einer ‚Haltung‘ dieser Gruppe bzw. diesem Sys- tem gegenüber herausfordert und die Übernahme von ‚Rollen‘ anträgt. Praktische The- ologie muss um die Übernahme solcher Rollenerwartungen wissen, um die Kommuni- kation des Evangeliums mit der Stärkung bzw. dem Boykott entsprechender Rollen verbinden zu können“ (:170). Stephanie Klein (1994) sieht vor allem in der Biografieforschung eine Ansatzmöglichkeit, die zum einen den theologischen Anforderungen an empirischer Forschung gerecht wird und zum anderen kann sie „in einer handlungstheoretisch ansetzenden Praktischen Theolo- gie eine grundlegende Bedeutung erlangen“ (:77). „Die qualitative Sozialforschung, insbesondere aber die Biographieforschung, stellen einen empirischen, methodologischen und theoretischen Zugang zum Menschen dar. Der Mensch kommt hier von seiner subjektiven Dimension der eigenen Deutungen, Entscheidungen und Handlungen, in seiner objektiven Dimension der gesellschaftli- chen und zeitgeschichtlichen Eingebundenheit und in der Dimension der Zeitlichkeit, in der die subjektiven und objektiven Dimensionen im wechselseitigen Bedingungsver- hältnis die Lebensgeschichte konstituieren“ (:77). Psychologie als Bezugswissenschaft der Praktischen Theologie ist in der gegenwärtigen Diskussion grundsätzlich nicht hinterfragt, sondern wird im „konstruktiv-kritischen Mitei- nander und gegenseitiger Wertschätzung“ eingesetzt; Unterschiede beim Menschenbild, bei Zielen und Ressourcen sind zu beachten (Utsch 2011:29). Rolf Sons (1995) fordert für die Zusammenarbeit mit der Psychotherapie „Unterscheidung, aber nicht Trennung, Zu- sammenschau, aber nicht Vermischung.“ „Wo die Seelsorge und die Psychotherapie, verbunden durch eine ganzheitliche Schau des Menschen, zusammenarbeiten, kommt es zu einem Verständnis der Seelsorge, das weder die Gottesbeziehung des Menschen außer acht läßt, noch seine psychologische und soziale Bedingtheit ausklammert“ (:200). Lange Zeit galt Psychologie als Ersatzreligion; der religionskritische Ansatz Sigmund Freuds wurde verallgemeinert und auf alle Methoden bezogen, die aus der Psychoanalyse herrührten; sie wurden deshalb in christlichen Kreisen abgelehnt. Inzwischen sind der Zu- sammenarbeit zwischen Psychologen bzw. Psychotherapeuten und Theologen wertvolle Untersuchungen und Erkenntnisse zu verdanken, z. B. die Arbeiten des Tiefenpsychologen 21 Fritz Riemann.8 Durch die Tiefenpsychologen Alfred Adler (1870-1937) und Carl Gustav Jung (1875-1961) kommen nach Sigmund Freud grundlegende Erkenntnisse für die Per- sönlichkeitsdiagnostik zur Sprache. Entwicklungspsychologie und pädagogische Psycho- logie liefern Verständnishilfen und -grundlagen für kind- bzw. altersgemäßen Umgang in Kindergarten, Schule und kirchlichem Unterricht und sind unverzichtbar auch in der Seel- sorge, um das Gewordensein einer Person zu verstehen. Methoden der Gesprächsführung wurden in Seelsorge und Unterricht aus der psychologischen Praxis übernommen, dazu gehört vor allem die „Klientenzentrierte Gesprächsführung“ nach Carl Rogers (1902- 1987).9 Das Phänomen Resilienz ist sowohl Thema der Psychologie, besonders der Ent- wicklungspsychologie (Bengel, Lyssenko, Masten), der Pädagogischen Psychologie (Wustmann), der Psychotherapie (Frick, Pfeifer, Welter-Enderlin) als auch der Soziologie (Hildenbrand, Schulze). Die Verfasserin sieht in der Praktischen Theologie eine Handlungs- und Wahrneh- mungswissenschaft, die auf das Gespräch mit den Human- und Gesellschaftswissenschaf- ten und auf die Einbeziehung ihrer Methoden angewiesen ist, die aber die theologische Dimension auf keinen Fall vernachlässigen sollte. In den letzten Jahren ihrer Tätigkeit als Religionspädagogin in einem neuen Bundesland (1994-2006) erkannte sie zunehmend die Bedeutung kerygmatischer Element in Unterricht und Seelsorge, da eine christliche Sozia- lisation nicht mehr vorauszusetzen ist. In erster Linie geht es darum, besonders dem Men- schen von heute das Evangelium nicht vorzuenthalten. In ihrem Seelsorgeverständnis vertritt sie die trinitätstheologische Perspektive und ein ganzheitliches Menschenbild im Sinne der Bibel.10 Sie sieht deshalb den Menschen in den vier Beziehungsrelationen (Seitz 2011:7-9)11 und Seelsorge als Auftrag, Ratsuchenden in der einen oder anderen gestörten Relation beizustehen und ihnen möglichst zum Gleich- gewicht zu verhelfen. 1.3 Poimenik12 1.3.1 Theologische Aspekte Christliche Seelsorge hat eine lange Geschichte und ist als Teildisziplin der Praktischen Theologie ein bedeutendes Arbeitsfeld der kirchlichen Arbeit. 8 Er arbeitete mit dem Theologen Richard Riess zusammen. 9 Weitere Methoden werden in Kapitel 1.3. angeführt. 10 Siehe auch Erklärung von Ulrich Giesekus, S. 25-26. 11 Siehe auch Herbst (2012). 12 Der griechische Begriff wird synonym mit dem deutschen Wort „Seelsorge“ gebraucht. 22 Der griechische Begriff Poimenik geht zurück auf Gott (Ps 23) und auf Jesus Christus (Joh 10, 11.14) als Hirten. „Am Leitbild des fürsorglichen Hirten muss sich die Gemeindelei- tung orientieren (1.Petr 2,21b ff; Ez 24; Joh 21,15-19; Hebr 13,20f)“ (Weyel 2008:139). Seelsorgerliches Tun wird in der Bibel auf vielfältige Weise beschrieben, auch wenn der Begriff Seelsorge nicht gebraucht wird. Die Gabe „mit den Müden zur rechten Zeit zu re- den“ weist schon beim Propheten Jesaja (50,4b) auf seelsorgerliche Kompetenz hin. Im Neuen Testament ist Seelsorge als „Grunddimension christlichen Handelns“ zu sehen (Weyel 2008:139). Möller (2004) zeigt „sachliche Äquivalente für ein christusgemäßes Sorgen um die Seele“ im Neuen Testament auf. Nach Julius Schniewind heißt Seelsorge im NT „Paraklese“. „Paraklese umfasst Trost, Mahnung, Ermutigung, Einladung“ (:151). Das Trösten (1. Thess 4,18; 5,14b), Ermahnen, Zurechtweisen (2. Kor 13,11; 2. Thess 3,15), Lösen und Binden (Mt 16,9), das Einanderannehmen und Einanderbeistehen, die Zuwendung zu den Schwachen (Phil 4,3; Gal 6,2) gehören ebenfalls zur biblisch verstan- denen Seelsorge. Auch sind Hungernde zu speisen, Nackte zu kleiden, Kranke13 und Ge- fangene zu besuchen, Fremde in die Gemeinschaft aufzunehmen (Mt 25,35-36). Stollberg stellt fest: „Seelsorge ist in der ersten Christenheit selbstverständlicher Aspekt des Ge- meindelebens“ ( zit. in Herbst 2012:175). Ziemer (2004) stellt heraus, dass von den Be- gegnungen Jesu mit Menschen besondere Impulse für die Seelsorge ausgehen. „Sie werden im NT als ein interaktives Geschehen im Spannungsfeld von Wahrneh- mung und Annahme, Herausforderung zum Glauben sowie Zuspruch und Heilung be- schrieben. Von der Praxis Jesu leitet sich der Seelsorgeauftrag an die Gemeinde und ih- re Leiter her“ (:1111 und 1112). Eine Zusammenfassung dieser Aspekte bietet die Definition von Steiger (2000): „Christliche Seelsorge ist biblisch gesehen (eschatologisch bedingt stets unvoll- kommene, gewagte) Nachahmung des tätigen (u.a. stärkenden, heilenden, tröstenden, lehrenden) und (mit-)leidenden Lebens des Erzhirten Christus und konkretisiert sich in der Sympathie der Glieder am Leibe Christi (vgl. Gal 6,1f; Röm 12,4-6,15; I Kor 12,26)“ (:7). 1.3.2 Empirische Wende in der Poimenik Die empirische Wende in der Poimenik, Ende der 60er Jahre, wird durch Impulse aus der „Seelsorgebewegung“ Amerikas und der Niederlande geprägt. Anton T. Boisen (1876- 1965), ein amerikanischer Pfarrer, gilt als Vater dieser Seelsorgebewegung, die über die Niederlande durch Hejie Faber, Ebel van der Schoot und Wylie Zijlstra für Europa bzw. für Deutschland umgesetzt wird. ( Ziemer 2008:86-87; Steiger 2000:25). Eine Fülle neuer 13 Siehe auch Sir 7,39; Jak 5,14 (über einem Kranken beten). 23 Methoden wird zur Verstärkung psychologischer und psychotherapeutischer Aspekte in die Seelsorge einbezogen.14 Vom Seelsorger verlangt man psychologische, therapeutische und kommunikative Kompetenz. Zur beratenden oder therapeutischen Seelsorge15 gehört des- halb eine entsprechende Ausbildung. Die Seelsorgebewegung wird durch Forderung und Angebot einer praxisnahen Aus- und Fortbildung zur Seelsorgeausbildungsbewegung (Karle 2007:564). Für Pfarrer ist in der Vikariatszeit das Clinical Pastoral Training (CPT) bzw. die Clinical Pastoral Education (CPE) Pflicht. Es entstehen Seelsorgepfarrämter. Die Konzeption Joachim Scharfenbergs „Seelsorge als Konfliktbearbeitung mit Hilfe religiöser Symbole“ (:594) prägt die „Pastoralpsychologie“ in dieser Zeit. Klaus Winkler definiert Pastoralpsychologie als ‚die unserer Situation entsprechende anthropologische Wahrneh- mungsfunktion einer praxisbezogenen Theorie‘, in der der psychoanalytische Ansatz (im- mer noch) dominiert, auch wenn logotherapeutische, verhaltenstherapeutische, gestaltthe- rapeutische, körpertherapeutische und systemische Konzepte (inzwischen) hinzugekom- men sind (Weyel 2008:145). Kritisch anzumerken ist, dass es in der Zeit der ersten Hochphase der beratenden- therapeutischen Seelsorge zu Kompetenzüberschreitungen kam und durch zu häufige und unangemessene Anwendung sogar Schäden und Verletzungen verursacht wurden. Auch wenn Pfarrer seelsorgerlich ausgebildet sind, verfügen sie nicht über die professionelle Kompetenz eines Psychotherapeuten; nach deutschem Recht machen sie sich strafbar, wenn sie „therapeutisch“ tätig werden. Giesekus (2011) weist darauf hin, dass „sobald eine krankheitswertige Störung vorliegt, eine Behandlung nur mit staatlicher Zulassung (für Psychotherapie) legal ist“ (:37). Die Diskussionen und Kämpfe zwischen der verkündigenden16 und der beratenden Seelsorge hören Ende der 80er Jahre auf (Hauschildt, Karle, Ziemer). Man ist stärker um Integration bemüht.17 Gemeinsame Kritikpunkte werden gefunden und diskutiert: 1. „Gleichheitsdefizit“ (Hauschildt 2000:67). 2. „Soziologiedefizit“ (:67)18 3. „Pluralitätsdefizit“ (Hauschildt 2000:68). 4. „Alltagsdefizit“ (:68). 14 Beispiele: Gesprächstherapie (Carl Ransom Rogers), Gruppendynamik (Joseph W. Knowles), Themenzentrierte Interaktion (Ruth C. Cohn), Transaktionsanalyse (Eric Berne). 15 Der Begriff geht auf Dietrich Stollberg (1969) zurück. 16 Der Hauptvertreter war Eduard Thurneysen (1888-1974). Seelsorge ist (liturgisches) Gespräch; dem Einzelnen soll das Evangelium verkündet werden, von anderen Gesprächen zu unterscheiden durch Bibelwort, Beichte und Gebet (Hauschildt 2000:78; Ziemer 2008:82-84). 17 Ein Beispiel dafür ist die Biblisch-Therapeutische Seelsorge (BTS) seit 1987. 18 Siehe auch: Pohl-Patalong und Klessmann in: Ziemer (2008:106-107). 24 Die verschiedenen Positionen und Handlungsfelder der Poimenik in der Gegenwart versu- chen, diesen Defiziten entgegenzuwirken. 1.3.3 Gegenwärtige Positionen der Poimenik Neben der verkündigenden und der beratenden Seelsorge mit verschiedenen Akzentset- zungen, wobei die Ansätze mit beratendem Schwerpunkt in der Überzahl sind, wird in der gegenwärtigen poimenischen Landschaft auch die evangelikale oder biblische Seelsorge genannt. Es wird dabei zwischen nouthetischer Seelsorge (Jay E. Adams), biblisch- therapeutischer Seelsorge (BTS, Michael Dieterich) und christlicher Psychologie (Rolf Senst, IGNIS) unterschieden. Während Adams Psychologie und ihre Therapieansätze ab- lehnt, empfiehlt Dieterich die psychologische Methodenvielfalt zu nutzen; IGNIS hat eine eigene biblische Psychologie geschaffen (Ziemer 2008:81-96). Die Kritik in Bezug auf therapeutische Ziele in der Seelsorge der BTS – Gefahr der Kompetenzüberschreitung – führte zu einer Schwerpunktverlagerung hin zur seelsorgerlichen Begleitung, zu Beratung und Prävention (Bildungsinitiative, BI, Pfarrer Wilfried Veeser).19 Mit Hilfe der Trinitäts- lehre ist es Holger Eschmann (2000) in seiner Dissertation gelungen, die unterschiedlichen theologischen Schwerpunkte in Seelsorgefeldern sinnvoll aufeinander zu beziehen, sodass sie sich gegenseitig ergänzen und befruchten. Diese ganzheitliche Sicht der Seelsorge mit ihren Chancen für die Praxis ist gut angenommen worden ( Herbst 2012; Giesekus 2011). Eschmann ( 2009) bestimmt nach den Artikeln des Glaubensbekenntnisses drei Dimensio- nen der Seelsorge:20 „1. Hilfe zum Leben – Seelsorge im Horizont von Schöpfung und Erhaltung“ „Auch im Bereich des 1. Glaubensartikels ist Beratung und Lebenshilfe Seelsorge und nicht Psychotherapie, so argumentiert Eschmann, da sie „durch Seelsorger und Seel- sorgerinnen geschieht, die sich zum christlichen Glauben bekennen, weil auf Fragen des Glaubens, wenn sie im Gespräch thematisiert werden, ohne Vorbehalte eingegan- gen wird, weil die Möglichkeiten zum Gebet besteht und weil der christliche Glaube an den dreieinigen Gott die Begründung und Motivation zu solcher Seelsorge ist.“ (:377). „2. Hilfe zu Glaube und Umkehr – Seelsorge im Horizont von Offenbarung und Versöhnung“ „Der Christologie oder dem Artikel von der Erlösung kann eine Seelsorge zugordnet werden, die sich auf die Vermittlung der liebevollen Geschichte Gottes mit den Men- schen in Jesus Christus konzentriert. Dass diese Dimension von der vorher genannten nicht zu trennen ist, zeigt sich schon daran, dass Fragen um Schuld und Vergebung bis in psychosomatische Bereiche hinein Auswirkungen haben können. Glaubenshilfe wird dann zur Lebenshilfe“ (:378). 19 Die Verfasserin ist Christliche Lebensberaterin bei der BI. 20 Es wird dabei auf den Aufsatz: Eschmann (2009): „Seelsorge in trinitätspsychologischer Perspektive“, Bezug genommen. 25 „3. Hilfe zu Gemeinschaft und Spiritualität – Seelsorge im Horizont von Nachfolge und Heiligung“ „In der Gemeinschaft der Glaubenden geschieht ein gegenseitiges Sich-Helfen auf dem Weg in der Nachfolge Christi, ein gemeinsames Wachsen und Reifen im Vollzug des Glaubens, ein Leben in der Heiligung. Dass christliche Seelsorge im Raum der christli- chen Gemeinde ihren Ort findet, darauf weist vor allem diese Dimension einer trinitari- schen Sicht der Seelsorge“ (:378). Seelsorge ist besonders durch die Kategorie der Beziehung gekennzeichnet. „Die Trinitäts- lehre denkt der Beziehung im dreieinigen Gott selbst, den Beziehungen zwischen Gott und den Menschen und zwischen den Menschen nach“ (:379). Nach Eschmann gründet sich seelsorgerliche Kompetenz auf die eigene spirituelle Praxis, auf erlernbare Methoden aus dem humanwissenschaftlichen Bereich und auf Erfahrung mit dem diagnostischen Instru- mentarium in trinitätstheologischer Perspektive, die das Wissen um die Ressourcen der christlichen Gemeinde einschließt (:377-379). Hauschildt (2004) sieht die Identitätsfrage bei Seelsorgern und Seelsorgerinnen als Herausforderung der Gegenwart an, dazu gehören das Wahrnehmen und Aushalten verschiedener Rollen und das Ausbalancieren aus Nähe und Distanz zwischen Persönlichem und den Rollen (:1125-1126). Hierzu ist anzumerken, dass zum einen in der seelsorgerlichen Ausbildung auf diese Aufgaben geachtet wird und zum anderen auftauchende Probleme in der Supervision besprochen werden können. Ul- rich Giesekus, Klinischer Psychologe, war jahrelanger Ausbilder bei der BTS, später bei der BI. Er beschreibt ein Seelsorgeverständnis, dem sich die Verfasserin anschließen kann: „1. Christliche Seelsorge hat ein christliches Wirklichkeitsverständnis. Die unsichtbare Welt ist so real wie die unsichtbare. Transzendente Erfahrungen, die Gegenwart Gottes, die Bedeutung des Gebets, das Wirken des Geistes Gottes, Beken- nen von Schuld und Zuspruch von Vergebung, die Bibel als Wort Gottes usw. werden nicht ‚psychologisiert‘ und als ‚subjektive religiöse Erfahrung‘ abgetan, sondern im Glauben an einen lebendigen und liebenden Gott einbezogen. Auch die sichtbare Welt offenbart Gottes Schöpfungshandeln und ist damit nicht zweitrangig. Seelsorge ist also ein ‚weisheitliches‘ Handeln. Das bezieht sich auch auf wissenschaftliche Erkenntnisse aus den Sozial-und Humanwissenschaften: Medizin und Psychologie beschreiben Got- tes Schöpfung und können daher relevante Einblicke in wichtige Zusammenhänge auf- zeigen. 2. Christliche Seelsorge hat ein christliches Menschenbild. Der Mensch ist in der Bibel als eine Ganzheit aus Geist (hebr. ruach, griech. pneuma), Seele (näfäsch, psyche) und Leib (basar, soma) gesehen. Diese unterschiedlichen As- pekte menschlicher Existenz lassen sich nicht voneinander trennen. Die geistliche Di- mension ist unsichtbar und entzieht sich der empirischen Beobachtung (es gibt kein ‚Glaubometer‘). Seele (Psyche) und Leib dagegen sind in der sichtbaren Welt zu be- obachten und können daher wissenschaftlich untersucht werden. Reifung und Wachs- tum, Probleme und Lösungen, Beziehungen und Konflikte, Krankheit und Gesundheit – immer sind die drei Aspekte dabei, wenn es um eine ganzheitliche Sichtweise geht. 26 3. Christliche Seelsorge findet in unterschiedlichen Beziehungen und Rahmenbe- dingungen statt. Die Gemeinde Jesu braucht Seelsorge auf jeder Ebene: seelsorgerlich handelnde Men- schen im Alltag, geschulte seelsorgerliche Begleiter, fachkompetent ausgebildete seel- sorgerliche Lebensberater und zugelassene psychotherapeutisch tätige, gläubige Profis“ (2011:38-39). Manfred Seitz (2011) sieht Konflikte als Beziehungsstörungen und Vergehen an den ge- schöpflichen Realitäten: Ich – DU (Gott) – Relation; Ich – du (Mitmensch) – Relation; Ich – Es – Relation; Ich – Selbst – Relation. Wenn eine oder mehrere der Relationen über- bewertet werden, kommt es zum Ungleichgewicht, zu Verletzungen oder Beschädigungen. Der Auftrag der Seelsorge besteht darin, „inmitten dieser Daseinsnöte“ auf vielfältige Wei- se Hilfe zu bieten, um wieder zurechtzukommen. „Es geht darum, den Menschen mit allen vier Realitäten zu versöhnen.“ Ziel und Achse der Seelsorge ist es, „das ganze Gefüge un- ter den Schutz des Namens des Herrn zu stellen.“ Seitz plädiert für das Praktizieren des ‚Priestertums aller Glaubenden‘, z. B. wenn wir „die Weisungen Gottes im biblischen Wort und in der Lebensklugheit glaubender Menschen wahrnehmen und mit eigenen Wor- ten wiedergeben“ (:7-9). Auch Michael Herbst (2012) geht auf dieses Beziehungsnetz des Menschen ein. „Seel- sorge geschieht eben beziehungsweise oder auch als Beziehungssorge.“ „Alle Rede von Ganzheitlichkeit, die eine dieser Beziehungen unterschlägt oder eine andere über alle Maßen betont, wird dem Menschen als ganzen nicht gerecht. Seelsorge ist dann christliche Seelsorge, wenn sie den Menschen immer in dieser vielfachen Be- zogenheit sieht und ihn in jeder dieser vier Beziehungen beisteht und hilft“ (:202). Grethlein (2012) verortet Seelsorge im Modus „Lehren und Lernen: Kommunikation über Gott“ und dort bei der Tätigkeit: „Miteinander Sprechen“ (:519-522). Im Modus „Helfen zum Leben: Kommunikation von Gott her“ finden wir Seelsorge bei den Tätigkeiten „Seg- nen“ und „Heilen“, die sehr ausführlich dargestellt werden (550-562). Das Heilen stellt er in Beziehung zu Buße, Beichte und Vergebung und zeiht damit wichtige Zusammenhänge auf. Auch eine klare Abgrenzung gegen ein magisches Verständnis von Segnung und Hei- lung ist hilfreich (:567-568). In Anlehnung an Hauschildt (2010) weist Grethlein (eben- falls) auf die zunehmende Bedeutung der „ehrenamtlichen Alltagsseelsorge“, der „den Pro- fessionellen zuarbeitenden Seelsorge“ und der „semiprofessionellen Seelsorge“ hin (:460). In den Handbüchern der Praktischen Theologie kommen die Begriffe „Co-Abhängigkeit“ und „Resilienz“ nicht vor. Ulrike Wagner-Rau (2007) betont allerdings in ihrem Beitrag „Therapiekultur“ die verstärkte Wahrnehmung der Transzendenz bei Bewältigung von Kri- sen oder lebensgeschichtlichen Übergängen (:414, in: Gräb & Weyel 2007). 27 „Religiöse wie psychotherapeutische Sichtweisen und Praktiken können hilfreiche An- gebote darstellen, um die in der Spätmoderne besonders notwendige Arbeit biographi- scher (Re-)Konstruktion zu unterstützen. Die lebensbegleitenden Rituale der christli- chen Kirchen gewinnen vor diesem Hintergrund eine spezifisch moderne Bedeutung“ (Wagner-Rau 2007:414). Ausgehend vom biblisch-holistischen Menschenbild (Herbst 2012; Giesekus 2011; Esch- mann (2009) geht es auch und besonders bei der Seelsorge von co-abhängigen Frauen um die Versöhnung mit den vier Beziehungsrelationen (Seitz 2011:7-9). Durch die Tabuisie- rung der Problematik liegt das sichtbare Ungleichgewicht vor allem auf der „Ich- du (Mit- mensch)-Relation“, auch in den christlichen Gemeinden. Der Frage, inwieweit durch Ver- stärkungen, z. B. des Beziehungsnetzes, Hilfen zur Resilienzförderung co-abhängiger Frauen gegeben bzw. gewonnen werden können, soll (u. a.) in dieser Arbeit nachgegangen werden (siehe auch Kapitel 4.3). Die Methoden der Biografieforschung bieten sich an, weil über sie ein Zugang zum Menschen möglich wird, der subjektive und objektive Dimensio- nen und ihre wechelseitige Beziehung erkennen lässt.21 1.4 Zusammenfassung Praktische Theologie als empirische Wissenschaft hat sich etabliert und bewährt. Der Be- zug zu den Human- und Sozialwissenschaften ist unverzichtbar geworden, wird aber sehr differenziert betrachtet und eingesetzt. Theologisch und methodisch sind integrative An- sätze gefragt. Die Bedeutung von Beziehungen und Kommunikation bestimmen gegenwär- tige Diskussionen; die Kraft liturgischer Formen (wie etwa des Betens und Segnens) wird wieder entdeckt und die Ressourcen der christlichen Gemeinde (Gemeinschaft) neu ge- würdigt. Änderungen und theologische Schwerpunktverlagerungen gehen in der Geschich- te der Poimenik immer mit den sich ändernden gesellschaftlichen Gegebenheiten und mit der Entwicklung der Wissenschaften – in jüngerer Zeit auch mit der von Kommunikations- und Medienwissenschaften – einher. „In Sachen Seelsorge entwickeln sich die Dinge so, wie im Rest der Gesellschaft auch“ (Zimmerling 2011:56). Neue Handlungsfelder in der Seelsorge stellen sich auf geänderte Bedürfnisse in der sozialen Wirklichkeit ein und zwin- gen zur Zusammenarbeit. Letztlich ist die geplante Untersuchung mit den Methoden der Biografieforschung ebenfalls als Reaktion auf eine festgestellte Lücke zu verstehen und soll dazu beitragen, das Problembewusstsein für ein neues Handlungsfeld in der Gemeinde 21 Siehe auch Stephanie Klein (1994), S. 20 dieser Arbeit. 28 zu schärfen und zur Diskussion in der öffentlichen Theologie22 anzuregen. Um Resilienz- ansätze in der seelsorgerlichen Begleitung im Sinne der Forschungsfrage23 zu erkennen, wird der Bezug zu den gegenwärtigen Positionen der Poimenik bei der Beantwortung eine entscheidende Rolle spielen. 22 In der öffentlichen Theologie ist die Bedeutung der Kirchen als Orte für Orientierungswissen und ethische Reflexionen besonders betont (Bedford-Strohm 2011) und damit für Thematik und Ziele dieser Untersu- chung sehr wichtig. 23 „Welche Resilienzansätze sind aus den narrativen Interviews zu erschließen, um zur persönlichen Förde- rung in der seelsorgerlichen Begleitung beizutragen?“ 29 2 Alkoholmissbrauch und Alkoholabhängigkeit 2.1 Begriffsklärungen 2.1.1 Alkoholmissbrauch Der unscharfe Begriff „Alkoholismus“, der 1852 von dem schwedischen Arzt Hus geprägt wurde, ist seit 1977 durch die Expertenkommission der WHO durch die differenzierende Definition von „Alkoholmissbrauch“ und „Alkoholabhängigkeit“ ersetzt worden. Der Be- griff „Abhängigkeit“ löste auf Vorschlag der WHO auch den Begriff „Sucht“ ab. Synonym werden die Begriffe „Alkoholismus“ und „Sucht“ aber bis heute für „Alkohol- abhängigkeit“ gebraucht. In der aktuellen Klassifikation (ICD-10-German Modification 2010 und 2012) werden die Bezeichnungen: “Schädlicher Gebrauch“ (F 10.1) und „Ab- hängigkeitssyndrom“ (F 10.2). verwendet. Auf den „akuten Rausch“ (akute Alkoholintoxi- kation) weist die Fassung ICD-10-GM 2012 unter F 10.0 hin, ergänzt durch F 10.3 „Ent- zugssyndrom“ und F 10.4 „Entzugssyndrom mit Delir“ (Dilling 2012:64f). Missbrauch bzw. „schädlicher Gebrauch ist definiert durch ein Konsummuster psycho- troper Substanzen, das zu einer Gesundheitsschädigung führt. Dies kann körperliche Störung oder eine psychische Störung, z. B. eine depressive Episode nach massivem Alkoholkonsum, sein. Soziale Schäden werden nicht berücksichtigt.“ (Soyka 2008:11). In der Klassifikation nach DSM-IV24 werden bei Missbrauch vier Faktoren genannt: 1. „Vernachlässigung von Pflichten (1) 2. Alkohol trotz körperlicher Risiken (2) 3. Alkohol trotz Problemen mit der Polizei (3) 4. Alkohol trotz psychosozialer Probleme (4)“ (:13,Tabelle 1.2). 2.1.2 Alkoholabhängigkeit/Abhängigkeitssyndrom Die Definition für Alkoholabhängigkeit ist im Wesentlichen seit 1992 festgelegt; auf Un- terschiede, die sich im Laufe der Jahre ergeben haben, wird verwiesen, z. B. bei DSM-5. „1992 wurde in den USA von den beiden führenden Fachinstanzen (National Council on Alcoholism and Drug Dependence, American Society of Additive Medicine) fol- gende zusammenfassende Definition des Alkoholismus formuliert. Sie lautet (in freier Übersetzung): Alkoholismus ist eine primäre, chronische Krankheit, deren Entstehung und Manifestation durch genetische, psychosoziale und umfeldbedingte Faktoren be- einflusst werden. Alkoholismus wird durch eine Reihe von dauernd oder zeitweilig auf- tretenden Kennzeichen charakterisiert: durch die Verschlechterung des Kontrollvermö- gens beim Trinken und durch die vermehrte gedankliche Beschäftigung mit Alkohol, der trotz besseren Wissens um seine schädlichen Folgen getrunken und dessen Konsum häufig geleugnet wird“ (Soyka 2008:9 und 10). 24 Siehe Anlagen, A3. 30 „ ‚Der innere Zwang, Substanzen zu konsumieren, wird meist dann bewusst, wenn ver- sucht wird, den Konsum zu beenden oder zu kontrollieren‘ “ (:11). Um ein Abhängigkeitssyndrom festzustellen, „ werden im Einzelnen (nach der Version von 1992)25 6 Kriterien aufgeführt: 1. Starker Wunsch oder eine Art Zwang, psychotrope Substanzen zu konsumieren 2. Verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich des Beginns, der Beendigung und der Menge des Konsums 3. Körperliches Entzugssyndrom bei Beendigung oder Reduktion des Konsums, nach- gewiesen durch substanzspezifische Entzugssyndrome oder durch die Aufnahme der gleichen oder einer nahe verwandten Substanz, um Entzugssyndrome zu mil- dern oder zu vermeiden 4. Nachweis einer Toleranz: Erforderlichkeit von zunehmend höheren Dosen, um die ursprünglich durch niedrigere Dosen erreichte Wirkung der Substanz hervorzuru- fen, (eindeutige Beispiele sind Tagesdosen von Alkoholikern oder Opioidabhängi- gen, die bei Konsumenten ohne Toleranzentwicklung zu einer schweren Beein- trächtigung oder sogar zum Tode führen würden) 5. Fortschreitende Vernachlässigung anderer Vergnügen oder Interessen zugunsten des Substanzkonsums; erhöhter Zeitaufwand, um die Substanz zu beschaffen, zu konsumieren oder sich von den Folgen zu erholen 6. Anhaltender Alkoholkonsum trotz Nachweis eindeutiger schädlicher Folgen, wie Leberschädigung durch exzessives Trinken, depressive Verstimmungen infolge starken Substanzkonsums oder drogenbedingte Verschlechterung kognitiver Funk- tionen. Es sollte dabei festgestellt werden, dass der Konsument sich tatsächlich über Art und Ausmaß der schädlichen Folgen im Klaren war oder dass zumindest davon auszugehen ist. Die Diagnose sollte nur gestellt werden, wenn irgendwann während des letzten Jah- res 3 oder mehr der genannten Kriterien vorhanden waren“ (Soyka 2008:11-12). DSM-526 löste im Mai 2013 DSM-IV-TR (2000) 27 ab. Die elf Kriterien beschreiben die Substanzgebrauchsstörung, ohne Unterscheidung in Missbrauch und Abhängigkeit. Statt- dessen sollen unterschiedliche Ausprägungsgrade die Schwere der Störung bestimmen. Weit verbreitet ist im allgemeinen Sprachgebrauch der Begriff „Sucht“, wenn es um die Alkoholabhängigkeit oder um Drogenkonsum geht. „Sucht (Suchtgefahr), von ad.28 und mhd.29 suht, engl. sick, nhd.30 siech, hat urspr. die Bedeutung von Kranksein […] und kennzeichnet im heutigen Sprachgebrauch das Er- gebnis einer Entwicklung, die mit dem einzelnen Rausch beginnt und durch Wiederho- lungszwang den Menschen in Abhängigkeit, Kontrollverlust und Selbstzerstörung führt“ (Neumann 2001:1827). 25 ICD-10 26 Anlagen, A2 27 Anlagen, A3 28 altdeutsch. 29 mittelhochdeutsch. 30 niederhochdeutsch. 31 2.1.3 Krankheitskonzept der Alkoholabhängigkeit Die Entscheidung des Bundessozialgerichts, die Alkoholabhängigkeit als Krankheit anzu- erkennen, hatte weitreichende Folgen für die Entstehung und den Ausbau therapeutischer Einrichtungen in Deutschland. „Der Krankheitsbegriff 31 kann unter verschiedenen Gesichtspunkten definiert werden: - dem naturwissenschaftlichen (biologischen) - dem entwicklungspsychologischen (psychodynamischen); (z. B. erlerntes Fehlver- halten) - dem sozialpsychologischen (z. B. Rollenveränderung) - dem juristisch-sozialrechtlichen (z. B. Behandlungsbedürftigkeit)“ (Feuerlein 2008:17). Gegen alle Kritik, ist am Krankheitskonzept festzuhalten. 1. Es ist erforderlich, bei der Alkoholabhängigkeit von einem biopsychosozialen Krankheitsmodell (im Sinne von Engel 1977) auszugehen (Feuerlein 2008:17). 2. „Die Krankenrolle bringt (nach Parsons 1951) dem Alkoholiker zwar eine Entlas- tung von seiner Verantwortung und eine Befreiung von seinen normativen Rollen- verpflichtungen, beinhaltet aber zugleich die Forderung an ihn, kompetente Hilfe zu akzeptieren und bei der Behandlung mitzuarbeiten“ (:17). 3. „Das Krankheitsmodell ist im Gegensatz zu anderen Modellen wertneutral. Es hilft, die Tabuisierung des Alkoholismus aufzuheben und den therapeutischen Zugang zu erleichtern“ (:17). 2.2 Alkohol und seine Wirkung Ausgehend von der Definition des Alkohols als chemische Substanz folgen Hinweise auf die Wirkungsweise auf den menschlichen Organismus und auf mögliche Langzeitfolgen. Eine detaillierte Behandlung dieses Themas kann hier nicht erfolgen. „Bei Ethanol handelt es sich um eine einfach strukturierte chemische Substanz (Summen- formel C2H5OH). Sie stellt eine farblose Flüssigkeit […] dar […], die in Wasser wie in Fetten löslich ist, was die leichte Resorption und Verbreitung des Alkohols im Organismus fördert“ (Feuerlein 2008:19). In Bezug auf den Alkoholgehalt und die enthaltenen Begleitstoffe unterscheiden sich alko- holische Getränke sehr stark voneinander. Verzweigte Alkohole und vor allem Methanol als Begleitstoff(e) werden für die toxischen Wirkungen (Alkoholkater!) verantwortlich gemacht (Soyka 2008:30). 31 „Krank ist, wer aus welchen Gründen auch immer über das landesweit übliche Maß hinaus leidet. (Lei- densaspekt), wer mit den gegebenen nicht allzu extremen Verhältnissen bis zu einem lebensbeeinträchtig- tem Maß nicht zurechtkommt (Versagensaspekt), wer infolge seines hochgradigen Andersseins nicht in lebendige Beziehung zu anderen Menschen treten kann (Beziehungsaspekt)“ (Hilgenstock 2010). 32 „Alkohol wird von den Schleimhäuten schnell resorbiert (genau genommen handelt es sich um eine Diffusion). Die geringsten Mengen werden in der Mundschleimhaut auf- genommen, wesentlich mehr im Magen, die Hauptmenge aber im Dünndarm“ (Feuer- lein 2008:20). Nach der Resorption, die individuell von der Magentätigkeit abhängt, verteilt sich der Al- kohol im ganzen Körper. 30-60 Minuten nach dem Trinken ist der höchste Blut- alkoholspiegel erreicht, der der Alkoholkonzentration im Gehirn und in der Atemluft ent- spricht. „Ca 94% des getrunkenen Alkohols werden in der Leber chemisch abgebaut. Über mehrere Zwischenschritte wird hierbei der Alkohol zu Fett, Kohlendioxyd und Wasser ‚verbrannt‘. Es ist insbesondere ein hierbei anfallendes Zwischenprodukt, das Acetal- dehyd, das aufgrund seiner besonderen Giftigkeit die meisten körperlichen Schädigun- gen durch Alkohol bewirkt“ (Lindenmeyer 2010:45). „Um die Vielfalt unterschiedlicher Auswirkungen auf das neurobiologische Gesamtsystem und auf das Erleben und Verhalten annähernd beschreiben zu können“, unterscheidet man zwischen kurz- und langfristiger Wirkung, zwischen großen und kleinen Alkoholmengen sowie zwischen positiver und negativer Wirkung (Soyka 2008:22/23, Anlagen, A4). Durch Alkoholmissbrauch wird das gesamte Organsystem direkt oder indirekt geschädigt. „Alkohol wirkt auf den Organismus - durch seine direkte Einwirkung auf die Zellen und ihre Überträgersysteme, z. B. die Nervenzellen (sog. Neurotransmitter), - durch Veränderungen des Stoffwechsels (Energiezufuhr, Einfluß auf den Eiweiß-, Fett-, Vitamin-, und Mineralstoffwechsel), - durch die Bildung von Stoffwechselprodukten (Metaboliten, z.B. Acetaldehyd), - durch Enzyminduktion (auf das MEOS), - durch Veränderungen von physiologischen Funktionen des Organismus (Veränderun- gen der Durchblutung)“ (Feuerlein 2008:22-23). Alkohol und außerdem viele der Begleitstoffe in alkoholischen Getränken, z. B. Fuselöle, aromatische „Kohlenwasserstoffe“ (sic) oder Tannine, haben karzinogene Wirkung (Soyka 2008:60-62). Die Langzeitfolgen durch Alkohol werden mit 250 körperlichen Erkrankun- gen in Verbindung gebracht ( Lindenmeyer: 2010:57). „Aktuelle Analysen zu alkoholbezogenen Gesundheitsstörungen und Todesfällen gehen jährlich von etwa 74 000 Todesfällen – durch Alkoholkonsum allein (26 %) oder durch den Konsum von Tabak und Alkohol bedingt (74 %) aus“ (DHS 2012:Daten/Fakten). In diesen Angaben sind die Todesfälle durch Stürze, Ertrinken oder durch Betriebs- und Verkehrsunfälle, bei denen Alkohol mitgewirkt hat, nicht einbezogen. 33 2.3 Entstehung der Alkoholabhängigkeit Um Missbrauch und Abhängigkeit von Alkohol zu verstehen, bedarf es der biopsy- chosozialen Betrachtungsweise. Ein multikonditionales Bedingungsgefüge geht von drei Faktorengruppen aus (:21, Abb.2.1). Grafik 2: Multikonditionales Bedingungsgefüge für die Entstehung der Alkoholabhängigkeit 2.3.1 Biologische Grundlagen des Abhängigkeitspotentials Durch die Ergebnisse der Hirnforschung hat man neue Erkenntnisse gewonnen, wie „Sucht“ im Gehirn funktioniert. Wird ein Suchtstoff, hier Alkohol, konsumiert, reagieren bestimmte Nervenzellgruppen im Gehirn – als Belohnungssystem oder Lustzentrum be- zeichnet – auf besondere Weise: der Botenstoff Dopamin wird freigesetzt; der Mensch fühlt sich freier und glücklicher. Im bewussten bzw. unbewussten Gedächtnis wird ein Lerneffekt gespeichert, der als starke, positive Motivationsquelle angesehen wird, die Sub- stanz, die das Wohlbefinden vermittelt hat, erneut zu sich zu nehmen (Erbe 2009:25). Wird Alkohol regelmäßig, über einen längeren Zeitraum und in größeren Mengen getrun- ken, kommt es zu Suchtentwicklung, da mehr und immer wieder Alkohol getrunken wer- den muss, um die gleiche Wirkung zu erzielen, denn die Dopaminausschüttung wird durch das Entstehen eines bestimmten Proteins reduziert. „Dieser Mechanismus greift in umgekehrter Weise, wenn der abhängig gewordene Be- troffene plötzlich nicht mehr konsumiert und Entzugserscheinungen bekommt. In die- sem Fall dauert es mehrere Tage, bis sich das Gleichgewicht der Botenstoffe im Gehirn wieder auf ein Leben ohne Suchtmittel eingestellt hat. Das Phänomen des Cravings (‚Suchtdruck‘, starkes Verlangen nach Suchtmitteln) spiegelt eine vom Gehirn subjek- tiv wahrgenommene Unterversorgung mit der betreffenden Substanz. Dieses Phänomen kann sich bei aktiv Konsumierenden ergeben, die akut zu wenig Suchtmittel vorrätig Droge (Missbrauchs- und Abhängigkeits- potential, Verfügbarkeit) Individuum Sozialfeld (physiologische und (soziale Rahmenbedingungen, psychologische Faktoren) soziale Beziehungen) 34 haben, es kann jedoch auch noch lange nach einer Entgiftung plötzlich in Erscheinung treten“ (:25). Das lebenslang vorhandene Suchtgedächtnis – durch ein weiteres Protein im Gehirnstoff- wechsel bewirkt – kann dazu führen, dass ein langjährig trockener Alkoholiker wieder in kurzer Zeit so viel trinkt wie früher. „Wichtig für das Verständnis des ‚Suchtgedächtnisses‘ ist, dass es nicht nur durch al- koholspezifische, sondern wahrscheinlich auch eher unspezifische Auslöserreize, z. B. Umgebungsreize (bestimmte Situation, Ort, ‚Stimmung‘) oder Stress angestoßen wer- den und so Suchtdruck auslösen kann“ (Soyka 2008:51). Die Medizinerin Jana Wrase (2009) sieht durch die neurobiologischen Forschungs- ergebnisse in Bezug auf die Alkoholabhängigkeit die Möglichkeit gegeben, den Patienten ein „entlastendes und zugleich motivierendes Erklärungsmodell“ zu bieten, das mit sich anschließender langfristiger Therapie zur notwendigen Umprogrammierung des Gehirns und damit zur Abstinenz führen kann (:53). Unbestritten ist, dass Drogen mit Abhängig- keitspotential, hier Alkohol, zu Veränderungen in postsynaptischen Regionen des Gehirns führen, die wichtig für Motivation, Lernen, Gedächtnis und Sucht sind (:43); dies ist eines der Gebiete, die die aktuelle Forschung herausfordert (Wätzig 2011). Anne Beck (2011) bezieht in ihrer Forschungsarbeit nicht nur die neurobiologischen Grundlagen mit ein, sondern auch relevante Persönlichkeitsvariablen, im Speziellen „Im- pulsivität“. „Es zeigte sich, dass alkoholabhängige Patienten eine Dysfunktion in der Belohnungs- verarbeitung in Richtung einer überproportionalen Aufmerksamkeitshinwendung auf Alkoholreize, auf Kosten von nicht-alkoholbezogenen Verstärkern, aufwiesen, welche mit erhöhter Impulsivität im Sinne einer Überbewertung kurzfristiger versus langfristi- ger Belohnung korrelierte“ (: 4 ). Diese Erkenntnisse werden in neuen Therapieansätzen zu beachten und zu nutzen sein. 2.3.2 Entstehungsbedingungen, die vom betroffenen Individuum ausgehen 2.3.2.1 Familie und Genetik In Familien von Nichtalkoholikern kommt Alkoholismus seltener vor als in Familien von Alkoholikern. Genetische Faktoren spielen eine Rolle, sind aber nicht ausschließlich dafür verantwortlich, dass ein Mensch alkoholabhängig wird. Von einer direkten Vererbung des Alkoholismus geht man nicht aus. Es ist aber bekannt, dass es hinsichtlich der Absorp- tions-, Abbau- und Ausscheidungsrate von Alkohol genetisch bedingte Unterschiede gibt. „50% der Angehörigen mongolischer Rassen (Chinesen, Japaner) reagieren schon auf kleine Mengen Alkohol mit Nebenerscheinungen wie Hautrötung und Brechreiz. Dies 35 hat mit genetisch bedingten Unterschieden im Alkoholabbau zu tun: Das giftige Zwi- schenprodukt des Alkohols, der Acetaldehyd, wird verzögert abgebaut“ (Feuerlein 2008:34). Je positiver die Wirkung und die Verträglichkeit von Alkohol erlebt werden, um so höher ist das Risiko, später alkoholabhängig zu werden. „Oft ist es so, dass Kinder aus Alkoholikerfamilien gerade dieses Risikoprofil zeigen, also Alkohol gut vertragen und ‚positiver‘ darauf ansprechen. Die natürlichen Bremsen, die viele davon abhalten, zu viel Alkohol zu trinken, versagen hier oder sind nur schwach“ (Soyka 2009:87). Bestätigt werden diese Aussagen durch vergleichende Analysen von Biografien junger Erwachsener in einer aktuellen Studie (Jüttemann-Lembke 2011). 2.3.2.2 Psychische Disposition Für die Disposition zur Alkoholabhängigkeit haben Tarter und Edwards (1987) folgende Faktoren genannt: 1. „-erhöhtes Aktivitätsniveau 2. -verstärkte Emotionalität 3. -mangelnde Soziabilität 4. -geringe Aufmerksamkeitsspanne 5. -verlangsamte Rückkehr zur entspannten Ausgangslage (‚soothability‘)“ (Soyka 2008:80). „Konkretere Konzepte, die als Dispositionsfaktoren und generell für Sucht untersucht und diskutiert werden, sind ADH-Störungen, Impulsivität und mangelnde Kontrollfä- higkeiten (Affektregulation), Reizsuche (Stimulus Seeking) und Neuigkeitensuche (no- velty seeking), erhöhtes Risiko- und Entscheidungsverhalten, geringe soziale Kompe- tenzen sowie Merkmale der antisozialen Persönlichkeit. Diese Konstrukte sind nicht unabhängig voneinander, sondern lassen sich letztlich auf die Bereiche Antriebsstärke und Steuerungs- bzw. Kontrollfähigkeit zurückführen“ (:80). 2.3.2.3 Psychodynamische Theorien „Aus moderner psychoanalytischer Sicht wurden vier Ansätze für die Entstehung ab- hängigen (süchtigen) Verhaltens herausgearbeitet: 1. Fixation auf der untersten, oralen Entwicklungsstufe. Alkohol gilt als Liebesobjekt (Triebpsychologischer Ansatz). 2. Störungen des Ich, der Identität, der Wahrnehmung. Die Trennung von Innen- und Außenwahrnehmung gelingt nur mangelhaft, ebenso die Differenzierung von Af- fekten und deren Signalfunktionen (Ichpsychologischer Ansatz). 3. Entwicklung von Kränkungen und Schuldgefühlen, kompensatorisch dazu Entwick- lung eines ‚grandiosen Selbst‘ (Narzißmustheoretischer Ansatz). 36 4. Störungen der Objektbeziehungen. Es bestehen Schwierigkeiten beim Aufschub von Triebbefriedigungen, es kommt zu Spaltungen, zu Frustrationsintoleranz, zu Idealisierungen und projektiven Identifizierungen (Objektpsychologischer Ansatz)“ (Feuerlein 2008:37-38). „Bei dem Versuch, diese Ansätze zu integrieren, kam Rost (1987) zur Beschreibung von drei Trinkertypen: 1. Neurotisch strukturierte Trinker (Konflikt- und Gelegenheitstrinker): Trinken zur Verdrängung von Konflikten. 2. Ich-schwache Trinker (introvertierte Personen mit depressiv-abhängiger Persön- lichkeitsstruktur): Trinken zum Reizschutz. 3. Autodestruktive Trinker (narzißtische, megalomane, teilweise aggressive Personen mit Neigung zu Impulsdurchbrüchen und asozialem Verhalten): Trinken zur Über- kompensation zur Ich-Schwäche“ (:38). 2.3.2.4 Lern- und verhaltenspsychologische Theorien Die Wechselbeziehungen zwischen biologischen, kognitiven und verhaltensbezogenen Faktoren zu untersuchen, ist für die Lern- und Verhaltenspsychologie wichtig, um die Suchtproblematik zu verstehen. Die Einstellung gegenüber Alkohol wird von Kindheit an durch viele verschiedenartige Einflüsse geprägt. „-Externe Faktoren: Trinksitten, Modellverhalten von Bezugspersonen, situative Be- dingungen, soziale Kontrolle. -Interne Faktoren: Wahrnehmungen, Stimmungen, Befindlichkeiten, die zu entspre- chenden Erwartungshaltungen führen können. -Pharmakologisch-psychotrope Eigenwirkungen des Alkohols: Entspannung, Enthem- mung, Euphorisierung, Depressivität. -Vermeidung negativer Verstärker: Vermeidung des Alkoholentzugssyndroms oder al- ternativer Verhaltensweisen mit strafendem Charakter“ (:36). Nach den Grundtheorien des klassischen (Pawlow und Hull) und des operanten Konditio- nierens (Skinner) wird die Entstehung der Alkoholabhängigkeit durch das Erlernen von Reiz-Reaktionsverbindungen bzw. nach den Prinzipien der Belohnung erklärt (:36-37). Das geschlossene Konzept, das die Entstehung eines Abhängigkeitssyndroms, auch für die stoffungebundene Abhängigkeit, allein durch diese Lerntheorien beschreibt, wird heute nicht mehr vertreten, vielmehr gehen neuere Verhaltenstheorien von den oben genannten Wechselbeziehungen aus. 37 2.3.3 Entstehungsbedingungen, die vom sozialen Umfeld ausgehen 2.3.3.1 Soziokulturelle Einflüsse Eine einheitliche Theorie über die gesellschaftlichen Wurzeln der Alkoholabhängigkeit gibt es nicht, beobachtet wurden aber regionale und epochale Unterschiede, die auf sozio- kulturelle Einflüsse schließen lassen. In den Abstinenzkulturen (Islam, Buddhismus) ist jeglicher Alkoholkonsum streng unter- sagt. Nach buddhistischen Vorschriften bezieht sich das Verbot auch auf jede Art von an- deren Drogen, was auf muslimische Länder nicht zutrifft. Einschränkende Regeln bestimmen den Umgang mit Alkohol in den Ambivalenz- kulturen. Ulrich Giesekus weist auf den (inzwischen) geringen Alkoholkonsum in Schwe- den und Norwegen hin, da es dort sehr strenge Alkoholbestimmungen gebe. „Strengere Alkoholkontrollen bringen auch in Deutschland nachweisbar positive Er- gebnisse: Fällt der Preis, steigt der Konsum und umgekehrt. Besonders stark ist dieser Effekt bei jugendlichen und starken Trinkern“ (Giesekus 2009:62-63). Ist man von Kindheit an an gemäßigten, kontrollierten Umgang mit Alkohol gewöhnt, spricht man von Permissiv-Kulturen, z. B. in Israel. Wein ist ein Zeichen der Freude und gehört bei allen jüdischen Festen zum rituellen Gebrauch. Sich zu betrinken, gilt als höchst unfein, als primitiv und wird streng bestraft. (Die Verfasserin erlebte während eines Kib- buzarbeitseinsatzes die sofortige Entlassung eines ausländischen Volontärs durch den Kib- buzrat, weil er betrunken randaliert hatte). 2.3.3.2 Soziales Umfeld, Beruf und Familie, finanzielle Situation Zu den Stress-Faktoren im Bedingungsgefüge des Alkoholismus gehören Änderungen im sozialen Umfeld, z. B. Umzug vom Land in die Stadt oder umgekehrt, Flüchtlingsschicksal Arbeitslosigkeit, Wohnungslosigkeit und Nichtsesshaftigkeit. Alkohol dient oft, besonders bei Alleinlebenden, bei Arbeitslosen und bei Menschen mit hohen finanziellen und psycho-sozialen Belastungen langfristig als Lebensbewälti- gungsmittel. In den alten Bundesländern gehören ungelernte männliche Arbeiter, Selbst- ständige, Unternehmer, Freiberufler und Menschen aus helfenden Berufen zur besonders gefährdeten Gruppe (Feuerlein 2008:42-43). Neuere Studien befassen sich mit „Sucht im Alter“ (Lützenkirchen 2010), da neben den Jugendlichen („Komasaufen“) auch Senioren als Risikogruppe hinzugekommen sind. Bei der Erforschung der sozialpsychologischen Einflüsse der Familie auf die Alkoholismusgefährdung hat man herausgefunden, dass die Schlussstellung in der Geschwisterreihe ein Risikofaktor sein kann; besonders negativ aber 38 Spannungen, Konflikte, aversive Zustände In d iv id u u m ist das kontinuierliche Fehlen einer Bezugsperson im Alter bis zu zwölf Jahren (Feuerlein 2008:44). Ebenso wichtig ist, ob Kinder in ihren Familien eine eindeutige Haltung gegen- über Alkohol entwickeln konnten. 2.3.3.3 Zusammenfassende Darstellung der Entstehung von Alkohol- abhängigkeit Um das komplexe Geschehen der Abhängigkeitsentwicklung zu erklären, ist eine Zusam- menschau der biologischen, psychologischen und soziologischen Faktoren notwendig. Es wird vom „Teufelskreis der Alkoholabhängigkeit“ gesprochen, da sich die Bedingungsfak- toren als Regelkreise gegenseitig beeinflussen. Heinrich Küfner hat 1981 das bekannteste Schema zur Veranschaulichung dazu entwickelt (Soyka 2008:21, Abb.2.2). Alkoholtrinken als Bewältigungsstrategie soziale Umwelt Grafik 3: Teufelskreis der Alkoholabhängigkeit nach Küfner Das Wesentliche eines Teufelskreises, dass negative Folgeerscheinungen zu neuen Auslö- sern werden, ist bei der Alkoholabhängigkeit mehrfach gegeben. Die kurzfristig positive Wirkung des Alkohols: Erleichterung, Entspannung, Euphorisierung wird zum Pseudo- Alkohol a) als allgemeiner Konflikt- und Spannungslöser b) als Hilfsmittel zur Euphorisierung somatischer Teufelskreis intrapsychischer Teufelskreis psychosozialer Teufelskreis 39 Problem- und Konfliktlöser und langfristig zur Problem- und Konfliktverschärfung (:21). Schneider geht von vier Teufelskreisen aus, die wie ein Planetengetriebe miteinander ver- zahnt sind. (Grafik 4, Anlagen, A5). Bei Entstehung und Aufrechterhaltung einer Sub- stanzabhängigkeit, in diesem Fall Alkohol, können sich die vier verschiedenen Teufels- kreise wechselseitig antreiben: ein psychischer, ein sozialer, ein pharmakologischer und ein cerebraler (Schneider 2009:172). Sowohl die Darstellung der Teufelskreise nach Küf- ner als auch die von Schneider zeigen die komplexen Wechselwirkungen bei der Alkohol- abhängigkeit und weisen darauf hin, dass man bei der Behandlung sehr individuell vorzu- gehen hat. 2.4 Formen und Verlauf der Alkoholabhängigkeit 2.4.1 Typologien Die älteste und bekannteste Typologie von E.M. Jellinek (1960) ist auch heute noch in Ge- brauch. Sie geht von fünf Typen aus, von denen vier zusammenhängen, weil jeweils zwei der Phasen aufeinander folgen können. Zwischen Alpha- und Gamma- und zwischen Beta- und Delta-Alkoholabhängigen kann es Übergänge geben (Soyka 2008:252, Tabelle 6.1). Typ Psycho- soziale Probleme Körperliche Probleme Trinkfrequenz Fähigkeit zu kontrolliertem Trinken Alpha (Konflikttrinker) + (+) diskontinuierlich (+) Beta (Gelegenheits- trinker) (+) (+) diskontinuierlich (+) Gamma (süchtige Trinker) ++ ++ kontinuierlich, manchmal diskontinuierlich 0 Delta (Gewohnheits- trinker) (+) + + immer kontinuierlich 0 Epsilon (episodische Trin- ker) ++ (+) episodisch 0 Tabelle 2: Alkoholikertypologie nach Jellinek 40 Nach einer Langzeit-Alkoholstudie zwischen 1976 und 1995 entwickelte Otto-Michael Lesch eine Typologie, die es erleichtern soll, Ziele oder Ansätze für Therapiestrategien und -methoden zu finden (Lesch 2009: 68f). „Typ I (Allergietyp, biologische Ursachen): Selbstregulierungsfähigkeit bricht zusam- men im Kontakt mit Alkohol (Nikotin). Grundsätzlich ist das Ich intakt und genügend Ich-Stärke für die Bewältigung des Alltags gegeben. Typ II (Konflikttrinker, psychologische Ursachen): Selbstregulierungsfähigkeit bricht zusammen in Situationen von Anspannung, Stress, Konflikt, Angst usw. Das Ich ist in bestimmten Belastungssituationen geschwächt, Copingstrategien wurden nicht erlernt oder sind abhanden gekommen. Mangelndes Selbstwertgefühl und eine erhöhte emoti- onale Sensibilität fördern die psychosoziale Krisenanfälligkeit. Typ III (Affektive Störung, Stimmungsschwankungen, Depression): Selbstregulie- rungsfähigkeit bricht in Phasen der affektiven Instabilität zusammen (Depression, Ma- nie, Hypomanie). Die Ich-Stärke löst sich phasenweise auf. Die Droge wird schlechthin als Ersatz der verloren gegangenen Selbstregulierungsfähigkeit eingenommen. In Pha- sen der Stimmungsstabilität kann die Fähigkeit zur Selbstregulierung aber durchaus vorhanden sein. Typ IV (cerebrale Vorschädigung, konstitutive Leistungsreduktion, soziale Deprivati- on): Die Selbstregulierungsfähigkeit ist von vornherein eingeschränkt. Die Leistungs- reduktion ist konstitutiv und irreversibel. Es müssen nicht alle Bereiche der Persönlich- keit betroffen sein. Das Defizit zeigt sich meist in einigen Teilbereichen der Persön- lichkeit deutlicher als in anderen (Unfähigkeit mit Geld umzugehen, Sprachstörung, Teilleistungsstörung, sexuelle Enthemmungen, Wohnungslosigkeit, Verwahrlosung usw.). Externe Mechanismen müssen an die Stelle der fehlenden Selbstregulierungsfä- higkeit treten (Strukturbildung)“ (Wetschka 2009:219-220). Die beiden ausgewählten Typologien zeigen, dass jeweils nur einige Aspekte der Alkohol- abhängigkeit erfasst werden können. Eine Vielzahl von Untergruppen ist zur differenzier- teren Erfassung denkbar. Auch relativieren sich aus Typologien abgeleitete Therapieziele durch die Berücksichtigung der individuellen Faktoren des Abhängigen (:221). Die Schwere einer Alkoholabhängigkeit einzuschätzen, ist ebenfalls nicht leicht und Ge- genstand gegenwärtiger Forschung. Schwerdtfeger (2011) hat dazu in ihrer Dissertation eine „ modifizierte Scala“ zur Erfassung entwickelt. 2.4.2 Verlaufsphasen der Alkoholabhängigkeit Generell unterscheidet man zwischen einer Phase des Erstkonsums, der Gewöhnung und der Abhängigkeit. Jellinek (1952) bezeichnet die Phasen mit: „1. Prodromalphase (Dauer 6 Monate bis 12 Jahre) 2. Kritische Phase 3. Chronische Phase“ (Soyka 2008:258). Vor diesen drei Phasen ist von einer präalkoholischen Phase (Dauer einige Monate bis zu zwei Jahren) auszugehen. Über die Dauer der beiden letzten Phasen gibt es keine Zeitan- gaben (:258). 41 Vom gelegentlichen Erleichterungstrinken in der Vorphase gehen einige Menschen dazu über, fast täglich, diese Erleichterung durch Alkohol zu suchen. Dass der Alkoholkonsum selbst Stress erzeugt, kann hier schon symptomatisch auftreten. Der wirkliche Alkoholkon- sum wird verschleiert; das Denken kreist um Alkohol bzw. um den Stoffnachschub; Ge- dächtnislücken treten auf; Schuldgefühle entwickeln sich, da allmählich bewusst wird, dass der Alkoholkonsum vom üblichen Maß abweicht; alle Anspielungen auf die Sucht werden vermieden; zur Sicherung des Stoffnachschubs werden Depots angelegt; auch die Entsor- gung der Flaschen geschieht heimlich. In der kritischen Phase wirkt der Kontrollverlust erst nach dem Beginn des Trinkens. Weitgehend hat der Trinker vorher noch die Kontrolle, ob er dem Verlangen nach Alkohol nachgeben will oder nicht. Weitere Kennzeichen dieser Phase sind Erklärungsversuche, um sich selbst Entlastung zu geben, weiter zu trinken. Es folgen Verhaltensänderungen gegen- über Familienangehörigen, Freunden und Kollegen. Der Trinkstil ändert sich. (Eine be- stimmte Menge an Alkohol muss bereits am Morgen eingenommen werden, um funktio- nieren zu können.) Oft wird die Ernährung vernachlässigt, körperliche Folgen des Alko- holmissbrauchs treten auf. Versuche, in dieser Phase das Trinken unter Kontrolle zu brin- gen, scheitern in der Regel. Das Trinken wird in der chronischen Phase zum Zwang, zur Besessenheit. Entzugser- scheinungen werden mit erneutem Trinken bekämpft; schwere tagelange Räusche sind charakteristisch. Besonders bei Männern kommt es zum Verlust der Alkoholtoleranz, d. h. bereits geringe Mengen verursachen eine starke Wirkung, der Alkohol wird schlechter ver- tragen. Schwere Alkoholfolgeschäden bis hin zu Alkoholpsychosen und Angststörungen kön- nen auftreten. Der totale Zusammenbruch ist meist die Folge; auch Suizidversuche sind nicht selten. 15% der chronischen Alkoholiker erleiden ein „Delirium tremens“ mit Krampfanfällen (Lindenmeyer 2010:218-229; Feuerlein 2008:77-78). Neben sozialen und körperlichen Folgeschäden der Alkoholabhängigkeit werden in neueren Forschungsarbeiten auch die psychischen Folgeschäden untersucht, vor allem die Komorbidität von depressiven Syndromen und Alkoholabhängigkeit steht im Mittelpunkt der Untersuchungen. Besonders bei Frauen im Alter ist ein verstärkter Zusammenhang zwischen Depressivität und Alkoholabhängigkeit festgestellt worden (Ellwardt 2010, Lüt- zenkirchen 2010). Lesch, Walter & Wetschka (2009) untersuchten die Beziehung zwischen alkoholabhängigen Patienten und Nikotinsucht.32 Während sich hier eine hohe Korrelation 32 Siehe auch Singer (2011). 42 ergab, hat sich die Hypothese, dass Alkoholabhängige auch eine starke Tendenz zur Inter- netabhängigkeit haben, nicht bestätigt (Siebrasse 2011: 25,73,85). 2.5 Wege aus der Alkoholabhängigkeit heraus 2.5.1 Kontakt- und Motivierungsphase Kein Alkoholabhängiger kann zur Krankheitseinsicht gezwungen werden. Oft entwickelt sich beim Süchtigen erst allmählich die Erkenntnis, dass er mit der Abhängigkeit nicht oder nicht allein fertig wird; bis zur Therapieeinwilligung kann wiederum eine ganze Zeit vergehen. Für suchtkranke Frauen sieht man spezielle Hindernisse. „Der Behandlung ste- hen nach Walitzer und Connors (1997) folgende Barrieren im Wege: Interne Barrieren: - Verleugnung von Problemen, die durch das Trinken entstanden sind - Angst vor Stigmatisierung als trinkende Frau - Sorge, die Kinder zurückzulassen oder zu verlieren sowie - Schuld- und Schamgefühle Externe Barrieren: - interpersonale Hemmnisse (z. B. Widerstand des Partners bzw. der Familie gegen eine Behandlung, soziale Kosten) - strukturelle Faktoren (z. B. fehlende Kenntnis professionell Tätiger über frauenspezi- fische Problemzusammenhänge, Fehlen frauenspezifischer Behandlungseinrichtun- gen)“ (Therapiekonzept der Fachklinik „Haus Immanuel“ 2006:13). Feuerlein formuliert sechs Zwischenziele zum Aufbau einer Therapiemotivation: 1. „Erkennen der Notwendigkeit einer Änderung (‚So geht es nicht mehr weiter‘). 2. Anerkennung der Hilfsbedürftigkeit ( ‚Ich schaffe es nicht mehr allein‘). 3. Akzeptieren der angebotenen Hilfe (‚Ich lasse mir helfen‘). 4. Anerkennung des Abhängigenstatus (‚Ich bin ein Alkoholiker‘). 5. Anerkennen des Abstinenzgebots (‚Ich darf überhaupt keinen Alkohol mehr trin- ken‘). 6. Anerkennung des Ziels der allgemeinen Verhaltensänderung (‚Ich muss mein Leben anders gestalten, wenn ich nicht mehr rückfällig werden will‘)“ (Feuerlein 2008:91-92). „Zusammenfassend lassen sich folgende Wirkfaktoren im Motivationsprozess bei Alkoho- likern FAMES) aufzeigen (92-93): Feedback ‚Rückmeldung‘ negativer Folgen des Alkoholismus Advice Beratung über Ziele und Vorgehensweisen der Behandlung Menu Wahlmöglichkeit zwischen verschiedenen Therapieformen Empathy Einfühlendes Verstehen Selfefficacy Förderung der Selbstwirksamkeitserwartung im Hinblick auf positive Veränderungen. 43 Drobetz & Maercker (2012) weisen darauf hin, dass bei Beratungen und Interventionen im Suchtbereich die Motivierende Gesprächsführung (“Motivational Interviewing”, MI) nach Miller & Rollnick, 1999, das früher angewandte Konfrontationskonzept abgelöst hat (:255). Bei MI unterscheidet man zwei Phasen: - Erste Phase: Auf- und Ausbau von Veränderungsmotivation durch MI, Abklärung der Erwartungen und Überwindung von Veränderungsambivalenzen - Zweite Phase: Erarbeitung konkreter Veränderungsziele und -wege vom Klienten selbst (:258-259). 2.5.2 Entgiftungsphase Der körperliche Entzug findet in der Regel stationär in einem Krankenhaus statt, kann ei- nige Tage bis einige Wochen dauern und wird durch geeignete Medikamente unterstützt, die einerseits die Entzugserscheinungen dämpfen und andererseits die körperlichen Alko- holfolgeschäden behandeln. Nur in leichten Fällen erfolgt die Entgiftung ambulant, ohne Medikamente, immer aber unter ärztlicher Aufsicht (Soyka 2009:111). 2.5.3 Entwöhnungsphase Das Einüben in ein Leben ohne Alkohol steht im Mittelpunkt der Entwöhnungsphase; der Abhängigkeitsprozess soll unterbrochen werden. So vielfältig der Prozess der Abhängig- keitsentstehung ist, so mehrdimensional und multidisziplinär muss das Therapieangebot sein, da es sich bei jeder Suchterkrankung, so auch bei der Alkoholabhängigkeit, um ein sehr komplexes Störungsmuster handelt (Therapiekonzept der Fachklinik „Haus Imma- nuel“:13). Die Entscheidung, ob diese Therapie stationär, teilstationär oder ambulant erfolgen sollte, bedarf – wie auch das gesamte Behandlungsprogramm – einer sehr individuellen Einschätzung. „Bei der Behandlung jedes einzelnen Patienten ist es […] von entscheidender Bedeu- tung, welchen Stellenwert der jeweilige Teufelskreis für die Entstehung und die Auf- rechterhaltung der Abhängigkeit bei diesem Patienten einnimmt“ (:13). Behandlungsinstrumente werden aus der Verhaltenstherapie, der Gesprächspsycho- therapie, aus systemisch orientierten Verfahren und aus der Psychoanalyse herangezogen (:14). Hinzu kommen Entspannungstherapien, Arbeits-, Gestaltungs- und Musiktherapie, Ernährungsberatung, Sport, sonstige physikalische Therapien, Angehörigenarbeit und Seelsorge als Angebote (:22-24; Feuerlein 2008:97). 44 2.5.4 Nachsorgephase Um die Abstinenzmotivation nachhaltig aufrecht zu erhalten, bedarf es in der Nachsorge- phase in der Regel weiter einer Betreuung. Erfahrungsberichten ist zu entnehmen, dass der Besuch von Selbsthilfegruppen sehr sinnvoll ist. „In vielen Fällen empfiehlt sich, die Behandlung bei einer Suchtberatungsstelle oder einem niedergelassenen Psychotherapeuten weiterzuführen. Durch die wöchentlichen Treffen kann die Umsetzung der Änderungsziele in den Alltag systematisch unterstützt werden“ (Lindenmeyer 2010:113). Das Angebot, eine Zeitlang in einer betreuten Wohngemeinschaft zu leben, kann für solche Menschen hilfreich sein, die aus einem ungünstigen sozialen Umfeld stammen. Oft sind Hilfen bei der Wiedereingliederung in den Beruf, beim Berufswechsel oder beim Finden eines neuen Arbeitsplatzes notwendig. Spezifische Rehabilitationsangebote setzen insbe- sondere eine interdisziplinäre Zusammenarbeit voraus ( Ratzke 2011; Wetschka 2009). Nicht zu unterschätzen ist, dass das gesamte familiäre und partnerschaftliche Bezie- hungsgefüge zur Disposition steht und es für alle nicht einfach ist, sich umzustellen. Die Bedeutsamkeit der Einbeziehung von Partnern und Angehörigen bereits während einer frühen Phase der Suchtbehandlung wird auf diesem Hintergrund noch einmal sehr deutlich. Untersuchungen der Alkoholabhängigkeit aus familienbiografischer oder familien- systemischer Perspektive finden aus den genannten Gründen zunehmend Beachtung (Jüt- temann-Lembke 2011; Molter 2009; Welter-Enderlin 2009).33 Ein besonderes Forschungs- interesse besteht darin, aus den gewonnenen Erkenntnissen Präventionsmaßnahmen abzu- leiten, besonders für Kinder und Jugendliche (Klein 2005; Jüttemann-Lembke 2011; Lan- genberg 2011). (Übersicht über die mehrstufige Behandlungskette, Grafik 5, Anlagen, A6). 2.5.5 Rückfälle Für die Entstehung von Rückfällen in die Abhängigkeit gibt es kein eindeutiges Modell. Statistiken und Erfahrungen lassen aber einige allgemeingültige Erkenntnisse zu. „Etwa 50% aller stationär behandelten Alkoholiker werden in einem Zeitraum von 4 Jahren mindestens einmal (für kürzere oder längere Zeit) rückfällig“ (Feuerlein 2008:79). „Sofern nach Abschluss einer Behandlung die Abstinenz beendet wird, liegt der Zeit- punkt dieses Ereignisses mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit (ca 90%) innerhalb des ers- ten verflixten Jahres. Besonders kritisch sind die ersten drei Monate: mehr als die Hälf- te aller ‚Behandlungsmisserfolge‘ ereignet sich bereits in diesem Zeitraum“ (Schneider 2009:407). 33 Siehe auch Klein (2005/2000); Seegel (1996). 45 Einigen ehemaligen Alkoholabhängigen, die durch eine gute Behandlung symptomfrei leben können, fällt es schwer, die Suchtkrankheit als solche zu akzeptieren und die Versu- chung, wieder zu trinken und sich selbst zu betrügen, da man jetzt wieder die Kontrolle habe, ist sehr groß. Röhr (2008) sieht darin einen der Gründe, weshalb die Rückfallquote so hoch ist. „Süchtige brauchen meist mehrere Rückfälle, um endlich zu akzeptieren, dass sie suchtkrank sind“ (:24). Oft reichen auch die seelische Stabilität, die Fähigkeit mit Konflikten umzugehen, Stress und Belastungen zu meistern, nicht aus, um eine ausreichende Abstinenzmotivation und Abstinenzfähigkeit aufzubauen oder durchzuhalten (Feuerlein 2008:79). „Ist es einmal zu einem Rückfall gekommen, so kann dies als Abstinenzverletzungsef- fekt erlebt werden. Es führt meist zu Depressivität und zu vermehrten Schuldgefühlen, was zu einer völligen Entgleisung des Alkoholkonsums beitragen kann“ (:79). Wie Rückfälle zu vermeiden sind bzw. auch der Umgang mit Abstinenzabbrüchen wird deshalb heute in gezielten Trainingsprogrammen während der Behandlungsphase geschult. Hilfen für eine konstruktive Bewältigung von Rückfällen sind u. a. auch in dem von Joachim Körkel (2010) herausgegebenen Buch: „Rückfall muss keine Katastrophe sein“ zu finden. 2.6 Zusammenfassung Die Definitionen nach ICD-10 oder DSM-IV34 in Bezug auf Alkohol: „Schädlicher Ge- brauch“ und „Abhängigkeitssyndrom“ zeigen, dass die Grenzen fließend sein können. Für Laien kann die Alkoholabhängigkeit des nächsten Angehörigen lange Zeit nicht klar er- kennbar sein. Das Krankheitskonzept der Alkoholabhängigkeit entbindet den Betroffenen nicht, Verantwortung zu übernehmen, sondern bietet die Chance, eine Behandlung bean- spruchen zu dürfen. Durch langfristigen Alkoholmissbrauch wird der gesamte Organismus direkt oder indirekt geschädigt. Neben den körperlichen sind auch die sozialen und psychi- schen Folgeschäden zu beachten. Ein multikonditionales Bedingungsgefüge geht bei der Entstehung der Alkoholabhängigkeit von den Faktorengruppen: Individuum, Sozialfeld und Droge aus. Der neurobiologischen Forschung sind Erkenntnisse zu verdanken, wie Alkohol im Gehirn wirkt. Das Erklärungsmodell für das lebenslang vorhandene „Suchtge- dächtnis“ begründet Rückfälle auch nach sehr langer Abstinenzzeit und vor allem die le- benslange Abstinenznotwendigkeit. Man spricht vom „Teufelskreis der Alkoholabhängig- keit“, weil in mehrfacher Hinsicht negative Folgeerscheinungen zu neuen Auslösern wer- den können. Die Bemühungen, die vielschichtige Art der Alkoholabhängigkeit näher zu 34 Nach DSM-5 (2013) ist die Unterscheidung von Abhängigkeit und Missbrauch aufgehoben worden. 46 bestimmen, zeigt sich in den beispielhaft angeführten Typologien nach Jellinek und Lesch. So vielfältig die Entstehungsbedingungen sein können, so breit gefächert sind die Behand- lungsangebote und -methoden. Die Dunkelziffer der tatsächlich am Alkohol-Abhängigkeitssyndrom Leidenden ist hoch; nicht selten werden nur Alkoholfolgeschäden behandelt. Beim Umgang mit Alko- holabhängigen ist die „Motivierende Gesprächsführung“ der konfrontativen vorzuziehen. Das Hauptanliegen, den Kranken zu einer Behandlung zu bewegen, beschäftigt auch die co-abhängigen Partnerinnen. Differenzierte Kenntnisse der Alkoholabhängigkeit sind notwendig, um die Probleme co-abhängiger Frauen besser zu verstehen, bevor über Resilienzansätze und seelsorgerliche Hilfen im Sinne der Forschungsfrage35 nachgedacht werden kann, deshalb dient dieses Kapitel als Ausgangsbasis für die weitere Arbeit.36 35 „Welche Resilienzansätze sind aus den narrativen Interviews zu erschließen, um zur persönlichen Förde- rung in der seelsorgerlichen Begleitung beizutragen?“ 36 Siehe auch S. 15 und S. 163. 47 3 Co-Abhängigkeit 3.1 Entstehung und Entwicklung des Begriffs Im Umkreis der Selbsthilfebewegung der Anonymen Alkoholiker (AA), die 1933 von Bob Holbrook Smith und Bill Wilson in Amerika gegründet worden waren (Lindenmeyer 2010:36), gab es bereits Beschreibungen co-abhängigen Verhaltens. 1939 wurden in einer Schrift der AA die Auswirkungen der Alkoholerkrankung eines Familienmitglieds auf die Angehörigen dargestellt. Es entstanden die Al-Anon-Gruppen, in denen vor allem Ehefrau- en von Alkoholikern Rat, Hilfe und Unterstützung finden konnten. In seiner Schrift: „Al- koholismus – Karussell des Leugnens“ zeigte 1968 der amerikanische Pfarrer Joseph Kel- lermann sehr eindrücklich Verhaltensweisen, die möglichen Verstrickungen von Angehö- rigen, Freunden, Kollegen, aber auch von Ärzten und Therapeuten auf, die im Suchtsystem zur Unterstützung der Abhängigkeit beitragen können. Den Begriff „Co-Abhängigkeit“ gebrauchte er nicht. Erst ab Mitte der Siebziger Jahre wird in der amerikanischen Sucht- krankenhilfe der Begriff „co-dependence“ oder „co-dependency“ verwendet (Rennert 2012:119). Die Arbeiten der Familientherapeutin Sharon Wegscheider-Cruse, des Psychologen Robert Subby und vor allem der Psychotherapeutin Anne Wilson Schaef37 trugen dazu bei, dass sich der Begriff eingebürgert hat, auch wenn er umstritten ist. Angehörige sind weder Teilhaber noch Nutznießer des Alkoholismus, wie die Silbe „Co“ (lat.: con = zusammen) vermuten ließe (Schneider 2009:251). In den USA wird Co-Abhängigkeit weitgehend als eigene Krankheit diagnostiziert, in Deutschland überwiegen die differenzierenden Ansätze. 3.2 Ansätze zur Darstellung und Diagnose der Co-Abhängigkeit 3.2.1 Co-Abhängigkeit als Persönlichkeitsstörung nach Timmen Cermak Der amerikanische Psychiater Timmen Cermak schlug 1986 vor, Co-Abhängigkeit als „gemischte Persönlichkeitsstörung“ zu diagnostizieren. „Co-Abhängigkeit ist ein erkennbares Muster von Persönlichkeitsmerkmalen, die in vorhersagbarer Weise bei den meisten Mitgliedern von suchtkranken Familien gefun- den wurden und dazu geeignet sind, eine geeignete Dysfunktion hervorzurufen, um die Diagnose einer gemischten Persönlichkeitsstörung, wie sie im DSM-III skizziert wird“ (zit. in Rennert 2012:270). 37 Ihr Buch: „Co-Dependence, Misunderstood – Mistreadet“ (1986), wurde zum Bestseller und ist in deut- scher Übersetzung: „Co-Abhängigkeit: Die Sucht hinter der Sucht“ ( 2010) in 18. Auflage erschienen. 48 Er führt fünf Kriterien an, die die Co-Abhängigkeit charakterisieren (Anlagen, A7). Sollten drei oder mehrere von den zehn Merkmalen des fünften Kriteriums vorliegen, liegt seiner Meinung nach die Persönlichkeitsstörung „Co-Abhängigkeit“ vor. „Der Autor schätzt einen Zeitraum von zwei Jahren als lange genug ein, um betroffene Familien das Vorliegen einer Suchtkrankheit erkennbar werden zu lassen – sofern die Angehörigen dazu bereit sind, die Wahrheit zur Kenntnis zu nehmen. In dieser Zeit müsste realisiert werden können, dass es unmöglich ist, in der gestörten Umgebung ei- ner süchtigen beziehungsweise co-abhängigen Familie ein normales Leben zu führen“ (Rennert 2012:187). Generell wird das Krankheitsverständnis von Cermak in Bezug auf die Co-Abhängigkeit in Deutschland nicht übernommen. Auf die von ihm aufgestellten Kriterien bzw. Kernsymp- tome wird allerdings häufig Bezug genommen, auch finden sich Hinweise auf Persönlich- keitsstörungen, die aber nicht auf alle Partner von Alkoholabhängigen zutreffen müssen. „Bei Angehörigen von Suchtkranken treten vor allem zwei Persönlichkeitsstörungen häufiger als bei Normal-Probanden auf: 1. Die abhängige (asthenische) Persönlichkeitsstörung (ICD10: F60.7) 2. Die ängstlich (vermeidende) Persönlichkeitsstörung (ICD10: F60.6)“ (Klein 2000:151). Zusätzlich ist anzunehmen, dass Angehörige von Suchtkranken Mischformen der abhängi- gen und ängstlichen Persönlichkeitsstörung in sich vereinigen können. Dennoch sieht Klein Co-Abhängigkeit als eigene klinische Störung nicht ausreichend validiert (:144) und auch der Facharzt Götz Mundle (2011) weist darauf hin, dass co-abhängige Verhaltenswei- sen nicht unbedingt pathologisch sein müssten ( in: Armstrong 2011). Das Krankheitsverständnis nach Cermak hat in den USA zu Einrichtungen und Fachklini- ken geführt, die sich speziell mit den Problemen der Angehörigen von Suchtkranken befas- sen. Zum Beispiel leitet Pia Mellody (2010) eine solche Anstalt. 3.2.2 „Die Sucht hinter der Sucht“ nach Anne Wilson Schaef Für Anne Wilson Schaef, Klinische Psychologin und Psychotherapeutin, ist Co-Abhängig- keit ein Krankheitsbild des Suchtprozesses (1986:32). Den gesellschaftsbedingten „Sucht- prozess“ sieht sie als Primärerkrankung, Alkoholabhängigkeit und Co-Abhängigkeit als Sekundärerkrankungen (:34). Mit dem Suchtprozess „als weitverbreitete, systemische Krankheit“ (:34) verbindet sie Einstellungen, Überzeugungen und Verhaltensweisen in der Gesellschaft, die Rennert (2012) als ‚lebensfeindlich‘ oder ‚entwicklungsfeindlich‘ be- zeichnen würde (:221). Bei den elf ausführlich dargestellten Merkmalen der Co- 49 Abhängigkeit38 (Anlagen, A7) ist die Vorlage Cermaks unschwer zu erkennen. Neu bei Schaef ist die Betonung der Unehrlichkeit (7.), der Leichtgläubigkeit (9.) und des Verlustes der eigenen inneren Moral (10.). Unehrlichkeit, verlogene Strukturen und Selbstbetrug führen zur Selbstzerstörung. Co-Abhängige handeln ständig gegen ihr innerstes Wissen, sind gefangen in einem System, das einem konstruktiven Lebensprozess entgegensteht (Schaef 1986:77). Während Rennert (2012) die Gesellschaftsbedingtheit bei Co-Abhängigkeit in der Dar- stellung von Anne Wilson Schaef für überzogen hält und nicht auf Deutschland übertragen kann, gesteht Flassbeck (2010), dass er je länger er sich mit Co-Abhängigkeit beschäftigt, Anne Wilson Schaef Recht geben muss. Sähe man Co-Abhängigkeit auch als gesellschaft- lich-systemimmanentes Phänomen, hätte man zumindest einen Erklärungsansatz, weshalb Änderungen so schwer herbeizuführen sind. 3.2.3 Suchtförderndes Verhalten nach Carnot E. Nelson Der amerikanische Psychologe C.E. Nelson hat durch eine empirische Studie sechs ver- schiedene Stile suchtfördernden Verhaltens bei Lebenspartnerinnen von Abhängigen fest- gestellt. Es können mehrere oder alle Stile praktiziert werden, oft ist aber ein Stil vorherr- schend (Rennert 2012:83). 1. „Vermeiden und Beschützen“ (:84) Die co-abhängige Frau hilft dem Süchtigen, entschuldigt, verharmlost, verteidigt ihn gegenüber anderen. 2. „Versuche, den Drogenkonsum des Abhängigen zu kontrollieren“ (:85) Mit allen Mitteln versucht die co-abhängige Frau, den Partner vom Konsum der Droge und von Gefährdungssituationen abzuhalten; sie wacht über ihn und kontrolliert alles. 3. „Übernehmen von Verantwortlichkeit“ (:85) Dem abhängigen Partner werden Arbeiten und Pflichten abgenommen; die co-abhän- gige Partnerin fühlt sich für alles verantwortlich. 4. „Rationalisieren und Akzeptieren“ (:85) Die co-abhängige Partnerin findet Gründe, weshalb der Kranke „gelegentlich“ das Suchtmittel braucht, z. B. Alkohol zur Stimmungsaufhellung, zur Entspannung oder als Einschlafhilfe. 5. „Kooperation und Kollaboration“ (:86) Die co-abhängige Partnerin versorgt den Abhängigen mit seinem Stoff und/oder bringt Geld dafür auf. 6. „ Retten und sich nützlich machen“ (:86) Nach einer Konsumepisode beseitigt die Partnerin alle unangenehmen Spuren, steht dem Süchtigen zur Seite und macht sich unentbehrlich. Die Verhaltensweisen, die zunächst als natürliche Hilfeleistungen angeboten werden, ver- hindern, dass dem Abhängigen die negativen Konsequenzen seiner Krankheit klar werden. 38 Pia Mellody fasst diese Merkmale zu fünf Kernsymptomen zusammen (siehe Anlagen, A8). 50 Er braucht sich nicht auseinanderzusetzen. Mit zunehmender Entmündigung wird er dazu immer weniger in der Lage sein. Der co-abhängigen Partnerin ist nicht bewusst, dass sie mit ihrem Verhalten, unabhängig davon, welcher der Stile vorherrscht, den Suchtprozess fördert. Die Stile suchtfördernden Verhaltens sind bekannt und werden oft, vor allem von den Vertretern in der Suchtforschung verwendet, die Co-Abhängigkeit nicht als Abhängig- keitserkrankung definieren. 3.2.4 Phasenmodell nach Helmut Kolitzus Wenn sich Bezugspersonen des Abhängigen als Verstärkungs- und Stabilisierungsfaktoren der Sucht verhalten, sind mehrere Phasen zu beobachten (Therapiekonzept der Fachklinik „Haus Immanuel“ 2006:12). Helmut Kolitzus (2011) gibt drei Phasen an. 1. „Beschützen und Erklären“ (:47) „Der Betroffene wird geschützt und unterstützt, ‚verstanden‘. Sein Suchtmittelkonsum wird als verständliche Reaktion auf widrige Lebensumstände gewertet. Es wird gehol- fen, negative Folgen des Suchtmittels zu kompensieren“ (Therapiekonzept 2006:12). „Die Mechanismen sind genauso vielfältig wie die des Süchtigen, sein eigenes Sucht- verhalten zu verbergen und/oder zu rechtfertigen“ (Kolitzus (2011:47). Der Verstoß gegen die eigene Ethik, gegen innerstes Wissen wird hier von Kolitzus als ein besonderes Merkmal der Co-Abhängigkeit herausgestellt.39 2. „Kontrolle“ (:47) Als ein weiteres entscheidendes Kriterium der Co-Abhängigkeit sieht Kolitzus die Kontrolle. Alle Versuche, den Suchtmittelkonsum einzuschränken, fordern allerdings den Abhängigen heraus, raffinierter zu werden. 3. „Anklage“ (:49) Wenn sich Co-Abhängige eingestehen, dass alle bisherigen Bemühungen nichts ge- bracht haben, ja sogar katastrophale Auswirkungen hatten, wird Kritik geäußert. Wie bei anderen Phasenmodellen ist auch hier davon auszugehen, dass die Abfolge nicht zwangsläufig so verläuft wie angegeben. Es gibt Co-Abhängige, die von Anfang an, wenn sie die Sucht als solche erkannt haben, auf Konfrontationskurs gehen, die Anklage- phase vorherrschend ist. Andere Co-Abhängige verharren in der Beschützerphase, es gibt gar keine Entwicklung. Die Kontrollphase ist die, die in der Praxis am häufigsten genannt wird, aber auch das Kontrollieren findet nicht bei allen statt. Das Phasenmodell nach Ko- litzus ist eine Verstehenshilfe, muss aber differenzierend kritisch gesehen werden. 39 Siehe Anne Wilson Schaef (2010), 7. Merkmal, Anlagen, A7. 51 Co-Abhängigkeit Co-Abhängige Abhängiger Beschützer- phase • verteidigt • schirmt ab • verharmlost • entschuldigt • übersieht • übernimmt Verantwortung • rechtfertigt sich • verheimlicht • streitet ab • überspielt • sieht keinen Grund, sich zu ändern Kontroll- phase • vermeidet Gefährdungssituationen • schränkt ein • kontrolliert • sucht und vernichtet Alkohol • gerät unter Druck • fühlt sich schuldig • zieht sich zurück • versteckt Alkohol raffinierter • konsumiert mehr Anklage- phase • kritisiert  droht • wird aggressiv • lehnt Hilfe ab • fühlt sich angeklagt • verteidigt sich  verspricht Behandlung Grafik 6: Co-Abhängigkeit 40 40 Abbildungen: Lask (2004:58f); Text: Kolitzus (2011:47-49). 52 3.2.5 Spirale der Co-Abhängigkeitsentwicklung nach Monika Rennert 198941 legte die Psychologin Monika Rennert die erste Monografie zum Phänomen „Co- Abhängigkeit“ im deutschsprachigen Raum mit dem Untertitel „Was Sucht für die Familie bedeutet“ vor. Ihr Verdienst ist insbesondere, dass sie umfassend die wichtigen amerikani- schen Forschungsansätze vorstellt, sie würdigend, aber auch kritisch kommentiert und ein eigenes Konzept entwickelt. In Anlehnung an Sharon Wegscheider-Cruse erwähnt sie als eine der wenigen auch po- sitive Aspekte. Co-Abhängige haben Überlebensstrategien entwickelt, oft sind individuelle Stärken besonders ausgeprägt. Die Fähigkeit zum sozialen und loyalen Verhalten ist ohne zwanghaftes System als wertvolles Charaktermerkmal zu sehen (2012:235). Im Umgang mit Co-Abhängigen empfiehlt Monika Rennert von „Mit-Betroffenheit“, von „Kränkung“ oder von „Mit-Erkrankung“ zu sprechen, um Schuldzuschreibungen zu vermeiden und die spezifischen Probleme der Angehörigen wirklich zu beachten. Ihre Kritik an Anne Wilson Schaef ist allerdings nicht nachzuvollziehen (:229). Wenn jemand die komplexe Problema- tik der Angehörigen von Suchtkranken ernsthaft untersucht und im Blick hat, dann war/ist es Anne Wilson Schaef.42 Monika Rennerts Definition (2012): „Co-Abhängigkeit ist ein Problem- und Bewälti- gungsmuster, das in der Interaktion mit einer suchtkranken Person entwickelt oder ver- stärkt wird. Die Entwicklung co-abhängigen Verhaltens ist gekennzeichnet durch zu- nehmende Einschränkungen in der Wahrnehmung von Verhaltensalternativen bis hin zum Gefühl existentieller Bedrohung durch jegliche Veränderung. Sie geht mit den gleichen Begleiterscheinungen einher wie eine Entwicklung zur Drogenabhängigkeit: Verlust von Selbstwert, Unterdrückung von Gefühlen, Verstärkung von Abwehrme- chanismen, Kampf um Kontrolle, Verlust der Realität, Beeinträchtigung aller Potentiale der Persönlichkeit“ (:230-231). Am Merkmal „Möglichkeit zur Entscheidung“ entwickelte sie vier Phasen, die in einer Spirale als „Circulus vitiosus“ dargestellt werden. 1. „ Sporadisch co-abhängiges Verhalten 2. Gewohnheitsmäßig co-abhängiges Verhalten 3. Co-abhängiges Verhalten in der Ausprägung eines Persönlichkeitsmerkmals (zwanghaft) 4. Co-abhängigkeit als Störung der Persönlichkeit (süchtig)“ (:232-234). Eine weitere Differenzierurng, z. B. in Bezug auf andere Merkmale der Co-Abhängigkeit (Anlagen, A8c) erfolgt nicht. 41 Bereits 1990 erschien die zweite, 2012 die dritte, aktualisierte Auflage. 42 Siehe ausführliche Merkmalbeschreibung, Anlagen, A5. 53 Entwicklung von Co-Abhängigkeit Grafik 7: Entwicklung von Co-Abhängigkeit Rennert (2012:232). 54 3.2.6 Hauptfaktoren der Co-Abhängigkeit nach Matthias Hermann Köhler In seiner Dissertation bestimmt der Facharzt Matthias Hermann Köhler (2002) nach einer empirischen Untersuchung mit standardisierten Fragebogenskalen43 sieben Hauptfaktoren, die die Co-Abhängigkeit konstruktvalidierend erfasst (Anlagen, A8). Es fällt auf, dass er mit den Faktoren 2 und 5: „Egozentrik des alkoholkranken Partners“ und „Depressive An- geglichenheit des alkoholkranken Partners“ nicht die co-abhängige Person, sondern den Abhängigen beschreibt. Mit den Faktoren 4, 5 und 7 formuliert er, abweichend von allen anderen, Eigenschaften der co-abhängigen Person in positiver Ausdrucksweise und weist damit auf Ressourcen hin. „Teamfähige Leistungsbereitschaft“, „Dialogbereiter Intellekt“ und „Soziale Orientierung“ können aber nur dann als Resilienzfaktoren für die eigene Per- sönlichkeit betrachtet werden, wenn sie nicht suchtsystemerhaltend eingesetzt werden. Die „Soziale Orientierung“, z. B. kann dazu führen, dass die eigenen Bedürfnisse nicht genü- gend beachtet werden, sogar gesundheitliche Probleme lange Zeit zugunsten der Zuwen- dung zum alkoholkranken Partner verdrängt werden. Auch beim „Helfersyndrom“, Faktor 3, wird versucht, das niedrige Selbstwertgefühl durch Engagement für den anderen auszu- gleichen, für sich selbst wird wenig oder gar nichts getan. Die Leistungsorientierung im Co-Abhängigkeits-System dient der Aufrechterhaltung der Partnerschaft und/oder dem wirtschaftlichen Überleben der Familie (:59). Der „Dialogbereite Intellekt“, Faktor 6, gewährleistet, dass Co-Abhängige die eigene Situation erfassen und beschreiben können, dennoch sind sie nicht in der Lage, ihre Kennt- nisse zur Veränderung der Gesamtsituation zu nutzen (:60). Die Spirale der Co-Abhängig- keitsentwicklung nach Monika Rennert stellt diesen Faktor in den Mittelpunkt.44 „Depressivität und Ängstlichkeit“, Faktor 1, werden von Köhler als ein wesentliches Merkmal der Co-Abhängigkeit genannt. Es beinhaltet auch Entscheidungsunfähigkeit (:59), Zwanghaftigkeit (:56), Schwierigkeiten, sich gegenüber anderen abzugrenzen (:54) und unterdrückte Aggressivität (:54). Körperliche Beschwerden (Kopf- und Kreuzschmer- zen, Kreislaufbeschwerden, nervöse Überlastung) werden in diesem Zusammenhang als Folgebeschwerden gesehen (:54-56). 43 Erhebungsinstrumente: Freiburger Persönlichkeitsinventar (FPI-R), Gießen-Test zur Fremdbeurteilung (FPI-R), Self-Report Symptom Inventory, 90 Interns-Revised (SCL-90-R), Mehrfachwahl-, Wortschatz-, Intelligenztest (MWT-B) und selbsterstellter Co-Abhängigkeits-Fragebogen für soziale und biographische Aspekte (:62). 44 Siehe S. 53 dieser Arbeit. 55 Durch Clusteranalyse ist die Unterscheidung zwischen „High-Co-Abhängigkeit“ – „25 % von einer Gruppe mit erhöhter Auffälligkeit“ – und „Low-Co-Abhängigkeit“ getroffen worden. Genauere Kriterien für diese Einteilung werden nicht angeführt. Köhlers empirische Untersuchung bestätigt bereits bekannte Kernsymptome oder Merkmale der Co-Abhängigkeit; sie bringt keine neuen Erkenntnisse. Die sehr knappe Kommentierung trägt nicht wesentlich zur Differenzierung der gewonnenen Daten bei. Die Unterscheidung zwischen High- und Low-Co-Abhängigkeit kann nur von Fachärzten ge- troffen werden. Anzuerkennen ist der Versuch, mit nachweisbaren Messungen die Fakto- ren der Co-Abhängigkeit zu erfassen und auf potentiell positive Merkmale hinzuweisen. Die Dissertation ist nur hochschulintern veröffentlicht worden und taucht nach dem Kenntnisstand der Verfasserin in der Fachliteratur nicht auf. 3.2.7 Merkmale der Co-Abhängigkeit nach Jens Flassbeck Die aktuellste Monografie zur Thematik legte der Facharzt und Psychotherapeut Jens Flassbeck 2010 vor. Von vornherein beschränkt sich Flassbeck nicht auf die persönliche Ebene, sondern bezieht die therapeutische und die institutionelle Systemebene mit ein.45 Er unterscheidet drei Formen der Co-Abhängigkeit: 1. „Co-abhängige Verstrickung46 2. Co-Abhängigkeitssyndrom 3. Co-Abhängigkeit in Wechselwirkung mit anderen Störungen“ (:31). Bei den Merkmalen der co-abhängigen Verstrickung (Anlagen, A9) fällt auf, dass Flassbeck auch die Reaktion der Umwelt beachtet: „Wegschauen anderer Personen“ und die „Beschuldigung der Angehörigen, die Sucht zu verantworten und zu fördern“, gehören für ihn zur Charakterisierung der co-abhängigen Verstrickung dazu. Die Beschreibung des Co-Abhängigkeitssyndroms wird von Flassbeck in drei Gruppen eingeteilt: 1.“Abhängigkeitsspezifische Symptome 2. Schamkomplex und andere sozioemotionale Störungen 3. Zusätzliche wichtige Auffälligkeiten“ (:52-58 )47 Bei der Gegenüberstellung dieser Merkmale mit den Symptomen der Sucht kommt Flassbeck zu den Schlussfolgerungen, dass einige Symptome identisch sind, z. B. Verleug- nungsstrukturen, Selbstwertproblematik oder depressive Beschwerden (:60), dass einige analog zu sehen sind, z. B. Steigerung der Hilfsangebote des Co-Abhängigen und das im- 45 Im Folgenden wird schwerpunktartig nur auf die persönliche Ebene eingegangen. 46 In Anlehnung an Pia Mellody (Flassbeck 2010:31). 47 Anlagen, A 7. 56 mer größer werdende Verlangen des Abhängigen nach der Droge (:60) und dass es gegen- sätzliche Entsprechungen gibt, z. B. Verstärkung der Verantwortungsübernahme auf der einen Seite und Verantwortungsabgabe auf der anderen Seite. Flassbeck (2010) fasst diese Erkenntnisse zusammen: „Wo jemand an einer Sucht erkrankt ist, findet man stets co-abhängig verstrickte Men- schen, die sich um den Süchtigen bemühen, und umgekehrt ist die Voraussetzung für eine co-abhängige Verstrickung immer der nähere zwischenmenschliche Kontakt zu ei- nem Suchtkranken. […] Die Diagnose einer (Co)Abhängigkeitsstörung ist folglich im- mer auch die Kennzeichnung eines süchtig co-abhängig gestörten sozialen Systems“ (:61). Für die Diagnose eines Abhängigkeitssyndroms stellt er vier Leitlinien auf: „1. Der Betroffenen ist in Erleben und Verhalten übermäßig durch die Sucht eines na- hestehenden Menschen und das zwanghafte Verlangen, ihm zu helfen und ihn kon- trollieren zu wollen, eingenommen […]. 2. Das Verhalten ist durch einen ausgeprägten Scham- und Schuldkomplex geprägt. Weitere sozioemotionale Störungen kommen hinzu […]. 3. Zusätzliche psychische Auffälligkeiten, z. B. depressive Erschöpfung und Freudlo- sigkeit, soziale Ängste/Unsicherheiten, psychosomatische Beschwerden oder trau- matische Gleichgültigkeit und Misstrauen sind typisch. 4. Die Beschwerden sind nicht nur vorübergehend, bessern sich nicht oder verschlim- mern sich und weisen einen Schweregrad auf, der zu starkem Leiden und/oder be- trächtlichen Beeinträchtigungen des gewohnten Lebensvollzugs führt“ (:61 f). Nach Erfahrung von Flassbeck steht ein Co-Abhängigkeitssyndrom oft in Wechselwirkung mit anderen psychischen Erkrankungen: „Depression, Ängste, psychosomatische Syndro- me, akute oder abhängige Persönlichkeitsstörungen. Die Co-Abhängigkeit kann dabei so- wohl Ursache als auch Folge der anderen Störung sein“ (:64). In der Arbeit von Jens Flassbeck wird Timmen Cermak nicht genannt; er bezieht sich auf Anne Wilson Schaef und Pia Mellody (:31). Entsprechungen der zweiten und dritten Form der Co-Abhängigkeit zu Cermaks Kriterien sind aber auffallend gegeben. Die „co- abhängige Verstrickung“ (Pia Mellody) ist bei Cermak in der ersten (zweijährigen) Phase zu vermuten. Erst dann wird von Co-Abhängigkeit eindeutig als Krankheit gesprochen bzw. als „gemischte Persönlichkeitsstörung“. Die Differenzierungen, die Flassbeck erarbeitet hat, sind hilfreich. Die Unterscheidung zwischen co-abhängiger Verstrickung und Abhängigkeitssyndrom, die bei Köhler der Low- und High-Co-Abhängigkeit entsprechen dürfte, helfen, gezielt Hilfe anzubieten. Im ersten Fall könnte eine Selbsthilfegruppe genügen, im zweiten Fall wird eine Therapie an- zuraten sein. Bei der dritten Form ist von einer klinischen Behandlung auszugehen. 57 3.3 Entstehungsbedingungen 3.3.1 Bedeutung der Herkunftsfamilie Das komplexe Phänomen „Co-Abhängigkeit“ ist nicht einschienig zu begründen; die Ursa- chen und Entstehungsbedingungen sind vielfältig, stehen zueinander in Wechselbeziehung und müssen ganz individuell betrachtet werden (Flassbeck 2010:106). Zur Rolle der Fami- lie für die Persönlichkeitsentwicklung, die eine Co-Abhängigkeitsentstehung begünstigt, sind vor allem die Arbeiten von Sharon Wegscheider-Cruse und Robert Subby zu nennen. Wegscheider (1989) sieht besonders Personen gefährdet, die in Familien aufwachsen, die ein Geheimnis bewahren oder aus traumatisierten, rigiden oder dogmatischen Familien stammen. „Alle, die in einer Familie voller Realitätsverleugnung, zwanghaftem Verhalten und Unterdrückung von Gefühlen leben, sind anfällig für Co-Abhängigkeit – selbst, wenn es in der Familie weder Alkohol- noch Co-Abhängigkeit gibt“ (zit. in Rennert 2012:196). Familien, in denen es schwer fällt, Veränderungen zu akzeptieren und zu integrieren, aber starr an Regeln und Traditionen festgehalten wird und in denen zu ‚erlernter Hilflosigkeit‘ (:197) erzogen wird, begünstigen die Entstehung von Co-Abhängigkeit. „Nach Wegscheider-Cruse entwickelt sich in solchen Familien ein übermäßig aus- geprägtes Bedürfnis nach Zustimmung und Anerkennung durch andere: So kann ein Kind von dieser Bestätigung durch andere so abhängig werden, dass es ohne sie das Gefühl völliger Wertlosigkeit hat. Resultat ist das Bedürfnis nach einer Bestätigung der eigenen Daseinsberechtigung“ (:197). Bis zum Helfersyndrom, bis zur „Sucht, gebraucht zu werden“, ist es nur noch ein kleiner Schritt. Robert Subby sieht in einer Reihe von acht dysfunktionalen Regeln, die einen Wachstumsprozess emotional, psychologisch, sozial erschweren oder blockieren, Gründe für die Entstehung co-abhängigen Verhaltens (:198-200). Regel 1: „Man spricht nicht über Probleme“ (:203) Regel 2: „Gefühle werden nicht offen ausgedrückt, oder: Gefühle, die als negativ betrachtet werden, werden nicht offen ausge- drückt“ (:205) Regel 3: „Die Kommunikation geschieht oft indirekt, wobei häufig eine Person als Botschafter zwischen zwei anderen fungiert (Tri- angulation)“ (:206) Regel 4: „Unrealistische Erwartungen: Sei stark, gut, perfekt. Mach immer alles richtig. Mach uns stolz“ (:207) Regel 5: „Sei nicht egoistisch“ (:208) Regel 7: „Mach es so, wie ich es Dir sage, nicht so, wie ich es selber mache“ (:210) Regel 8: „Du darfst nicht spielen“ (:212) Regel 9: „Lass alles am besten so, wie es ist“ (:213) 58 Durch das Befolgen dieser Regeln wird im Familiensystem durch Belastungen aller Betei- ligten eine Balance aufrechterhalten, die Veränderung und damit Entlastung oder Befrei- ung be- oder verhindern (Rennert 2012:213). In den Ansätzen von Wegscheider-Cruse, Anne Wilson Schaef und Robin Norwood werden diese Regeln direkt oder indirekt aufge- nommen (:227). Jens Flassbeck (2010) nennt vier Bedingungskomplexe für die Entstehung der Co- Abhängigkeit: „1. Sozialisation als Prinzessin und Froschwerdung (Selbstwertproblematik und -störung als persönliche Disposition) 2. nicht alltäglicher und komplexer Stress durch die Konfrontation mit Sucht und de- ren negativen Begleiterscheinungen 3. kindliche Traumatisierungen durch eine Suchtfamilie und durch Misshandlungen und Missbrauch 4. menschliche Handlungs- und Entscheidungsfreiheit“ (:106). In diesen Bedingungsmöglichkeiten ist der psychodynamische Ansatz (1.), die soziologi- sche Stresstheorie (2.) und der systemtheoretische Ansatz (3.) enthalten (Aßfalg 2009:13- 15). Traumatisierende Bedingungen, die Flassbeck (2010) ausführlich behandelt (:124- 129), sind nicht nur systemorientiert, sondern auch in ihren psychodynamischen Auswir- kungen zu verstehen und zu beachten (Rennert 2012:201-202). Sowohl Flassbeck (2010:107) und Aßfalg (2009:13-15) als auch Klein (2000:169) und Subby (1987) weisen darauf hin, dass es Ausnahmen gibt. Personen werden co-abhängig, obwohl keine Risikofaktoren vorlagen und im umgekehrten Fall kommt es nicht zur co- abhängigen Verstrickung oder Erkrankung. Klein (2000) betont, dass es „bisher keine em- pirische Bestätigung“ dafür gegeben habe, dass „Kinder aus dysfunktionalen Familien in ihrem späteren Leben ebenfalls dysfunktionale, hilfebezogene Beziehungsmuster entwi- ckeln“ (:169). Subby vermutet, dass diese Personen durch hilfreiche Außenkontakte eine andere Entwicklung nehmen konnten (Rennert 2012:201). Flassbeck (2010) begründet dieses „erstaunliche Phänomen als Folge der individuellen Handlungsfreiheit jedes Men- schen“ (:107). Kreative Ressourcen können als Schutzfaktoren wirken und die Entstehung einer Co-Abhängigkeit verhindern (:131). Die selektive Partnerwahl von Töchtern eines alkoholabhängigen Elternteils wird allerdings durch empirische Studien bestätigt. Sie hei- rateten zweieinhalb Mal so häufig einen suchtkranken Partner als Vergleichsprobandinnen ohne familiäre Suchtbelastung (Klein 2000:150). Schaef (2010) sieht in Familien, in denen „Blockierte Gefühle, Perfektionismus, Unehrlichkeit und zwanghaftes Denken“ vorherr- schen, den Nährboden für Sucht und Co-Abhängigkeit (:81). 59 3.3.2 Gesellschaftliche Einflüsse Anne Wilson Schaef (2010) begründet durch Strukturen auch in Schule und Kirche die Förderung der Entstehung von Abhängigkeits- und Co-Abhängigkeitserkrankungen. Durch die Überbetonung des rationalen Denkens in den Schulen kommt es ihrer Meinung nach dazu, dass Gefühle blockiert, nicht ausgedrückt werden. Auch das Streben nach Perfektio- nismus führe zu angepasstem, schließlich zwanghaften Verhalten und zur Unehrlichkeit (:83f; 87f; 90f). Kritik an der Kirche übt Schaef, indem sie die zu starke Verwissenschaftli- chung der Theologie anprangert und dass in vielen christlichen Gemeinden ein bestimmter Verhaltenscodex bewusst oder unbewusst eingehalten werde, der ebenfalls zu Unehrlich- keit und Zwanghaftigkeit führe, da Authentizität, das Äußern echter Gefühle, nicht er- wünscht sei (:85f; 88f; 94f). Monika Rennert (2012) und Reinhold Aßfalg (2009) lehnen die von Schaef geäußerte Kritik als übertrieben ab, während Kolitzus (2011) und Flassbeck (2010) gesellschaftliche Aspekte und Bedingungen, wenn auch mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen, als sehr wichtig erachten. Kolitzus (2011) zeigt am Suchtdreieck: Person – Droge – Umwelt auf, dass es einen direkten Zusammenhang mit gesellschaftlichen Rahmenbedingungen gibt (:22). Auswirkungen legaler Drogen, z. B. von Nikotin oder Alkohol, auf die Gesund- heit werden in der Öffentlichkeit nicht zur Kenntnis genommen. Es gebe zwar die Kam- pagne „Keine Macht den Drogen“48, die allerdings ablenke von der eigentlichen Problema- tik mit den legalen Drogen. „Der Kampf gegen eine Droge ist in dem Moment verloren, wenn der Staat Steuern dafür einzieht“ (:30). Auch Flassbeck (2010) sieht ökonomische Zwänge, da der Staat über Steuern und Abgaben durch alle Abhängigen hohe Einnahmen erziele (:153). Die Einschätzungen von Kolitzus und Flassbeck kann die Verfasserin bestätigen: Ein Vorstoß der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen, die mit erschreckenden Zahlen über Folgen der Alkoholabhängigkeit Ende März aufwartete und empfahl, die Werbung für al- koholische Getränke einzuschränken, wurde aus wirtschaftlichen Gründen, ohne argumen- tative Auseinandersetzung, sofort abgeblockt. Auf der institutionellen und gesellschaftli- chen Ebene ist nach Flassbeck (2010) co-abhängiges Verstricktsein auch auf der „Grund- lage einer Überbetonung des Sozialen und einer übermäßigen Solidarität“, die den Süchti- gen schont und schützt, gegeben (:133). Da dem Zwiespalt von Konsequenz versus Menschlichkeit nicht nur in den Familien, sondern auch am Arbeitsplatz, in der Gesell- 48 Transparente mit diesem Slogan werden in den Sportarenen gezeigt; offensichtlich stört es niemanden, dass die dort stattfindenden Sportveranstaltungen u.a. von bekannten Bierbrauereien gesponsert werden. 60 schaft überhaupt, ausgewichen werde, könnten keine Problemlösungsstrategien entwickelt werden. Abhängige würden nicht daran gehindert, alle möglichen Institutionen für ihre süchtigen Zwecke zu nutzen (:139). Der „Mangel an öffentlichem kritischen Diskurs“ stellt für Flassbeck „eine Form der Vermeidung von Auseinandersetzung und der gesellschaftli- chen Resignation gegenüber dem Suchtproblem“ dar (:141). „Wenn die Vertreter der Institutionen aus Politik, Medien,Wissenschaft, aber vor allem aus der Suchthilfe den kritischen Dialog nicht mehr miteinander führen und nicht offen und konstruktiv über den Umgang mit Sucht streiten, dann tun sie dasselbe wie die co- abhängige Angehörige, die schamhaft schweigt und auf heile Welt macht“ (:141). In Bezug auf das Problem der Co-Abhängigkeit sieht Flassbeck den „pathologischen As- pekt gesellschaftlich unterbewertet und missachtet“ (156). „Das Leiden und die Problematik von Millionen Angehörigen werden in der Öffent- lichkeit und der eigentlich zuständigen Suchthilfe übersehen, bagatellisiert und ver- leugnet. Weder gibt es einen formulierten, gesundheitspolitischen Auftrag, Angehörige zu beraten und zu behandeln, noch werden finanzielle und personelle Ressourcen hier- für bereitgestellt“ (:156). Die amerikanische Sichtweise von Anne Wilson Schaef in Bezug auf die Schule lässt sich nicht unmittelbar auf deutsche Gegebenheiten übertragen. In unseren Schulen sind inzwi- schen Kreativität, Mitbestimmung der Schüler und offene Diskussionen gefragt und er- wünscht. Schulpsychologen, Vertrauenslehrer und Schulsozialarbeiter stehen als An- sprechpartner bereit und wissen oft mehr über die Gefühlslage und Probleme eines Schü- lers als die Familienangehörigen. In christlichen Gemeinden allerdings scheinen sich Ide- albilder, besonders die Rolle der Frau betreffend, und bestimmte Verhaltensweisen zu ver- erben. Der Umgang mit negativen Gefühlen, da muss die Verfasserin Anne Wilson Schaef Recht geben, wird immer noch kritisch gesehen.49 Eine offene konstruktive Streitkultur muss mühsam erlernt werden, ist wegen eines falsch verstandenen Harmonie- und Fried- fertigkeitsverständnisses nicht selbstverständlich.50 Abhängige und co-abhängige Angehö- rige werden verschwiegen und allein gelassen. Ein alkoholkranker Pfarrer (2009), der of- fen seinen Weg in die Abhängigkeit und wieder heraus schildert, bleibt lieber anonym, weil er nur allzu gut weiß, dass Alkoholabhängige als Menschen zweiter Klasse betrachtet und mit „Pennern“ und „Alkis“ gleichgesetzt werden. „Aber“, so schreibt er, „Alkoholis- mus macht nämlich vor ‚besten Kreisen‘ nicht Halt. Genauso wenig wie vor Kirchentüren“ 49 Zum Beispiel ist der Umgang mit Trauer für einige Christen in unserer Gemeinde problematisch: „Chris- ten trauern nicht!“ Das bedeutet, wer dennoch trauert, glaubt nicht „richtig“. 50 Ulrich Giesekus weist in seinem Buch: “Glaub dich nicht krank“ (2001) auf krankmachende Glaubenssti- le hin und ermutigt, ein befreites Christsein zu leben. Dazu gehört auch, für andere da zu sein, ohne sich selbst zu verlieren (:100f). 61 (:26). Verlogene Strukturen in christlichen Gemeinden werden schweigend geduldet, wenn es um Sucht oder Co-abhängigkeit geht. Es ist das Verdienst der Familientherapeutin Robin Norwood,51 darauf hinzuweisen, dass Co-Abhängigkeit ein frauenspezifisches Problem ist und mit krankmachenden über- holten gesellschaftlichen Normen in Beziehung steht. Auch Anne Wilson Schaef (1986/2010) sieht die Co-Abhängige als „nicht befreite Frau“. „Wenn wir uns den Frauen- typ ansehen, den die Frauenbewegung befreien will, dann sehen wir die Co-Abhängige in Reinkultur“ (:47). „Frauen werden von vornherein als abhängig vom Urteil anderer betrachtet, als passiv, als verantwortlich dafür, dass Gefühle und Befindlichkeit anderer berücksichtigt wer- den und dementsprechend werden sie auch erzogen“ (zit. in Rennert 2012: 218). Schmidbauer (2009) befürwortet diese Aussage auch für Deutschland: „Das Helfersyndrom (HS) fällt […] bei Frauen weniger auf,52 da Rücksicht auf andere, fürsorglich beschützendes Verhalten, Zurückstellung eigener Bedürfnisse, passive nar- zißtische Bedürftigkeit und indirekte Aggressionsäußerung mehr zur weiblichen Rol- lenvorschrift in der bürgerlich und kleinbürgerlich geprägten Gesellschaft gehören“ (:203). Bei Christinnen kann noch ein falsches Verständnis von Nächstenliebe hinzukommen. Die Selbstliebe wird als Egozentrik und abzulegende Eigenschaft betrachtet und führt zur Ver- nachlässigung oder Nichtbeachtung eigener Gefühle und Bedürfnisse. Die Ausgewogen- heit zwischen Nächstenliebe und Selbstliebe wieder herzustellen, wird deshalb von Lask (2004) als ein wichtiger Schritt zur Gesundwerdung co-abhängiger Frauen betrachtet. 3.4 Wege aus der Co-Abhängigkeit heraus 3.4.1 Zwölf-Schritte-Programm der Anonymen Alkoholiker Seit den vierziger Jahren arbeiteten die Angehörigen von Suchtkranken in den USA mit dem Zwölf-Schritte-Programm der Anonymen Alkoholiker (AA).53 Diese Angehörigen- arbeit in den Al-Anon-Gruppen gibt es auch in Deutschland. Da der Wortlaut des Zwölf- Schritte-Programms dem für die Anonymen Alkoholiker entwickelten Selbsthilfe- programm entspricht, ist davon auszugehen, dass Co-Abhängigkeit wie eine Abhängig- keitserkrankung angesehen wird und die Änderung zur Gesundung eines entsprechenden Systemwechsels bedarf. „Die 12 Schritte sind ein spirituelles Programm und weisen auf 51 Ihr Buch: „Wenn Frauen zu sehr lieben: Die heimliche Sucht, gebraucht zu werden“ (1985/1986) wurde auch in Deutschland zum Bestseller (29. Auflage 2012). 52 Seinem Eindruck nach ist „das HS bei beiden Geschlechtern gleich häufig vertreten“(:203). 53 Durch amerikanische Soldaten kam es ab 1956 auch in Deutschland zur Verbreitung der AA (Linden- meyer 2010:38). 62 die Hilfe Gottes als wichtigsten Faktor zur Genesung hin“ (Schmidt 2010:13). Die Aussa- ge: „Ein Schritt braucht ein Jahr“ (Rennert 2012:126), deutet darauf hin, dass die Heilung nicht im Schnelldurchlauf durch das Programm zu haben ist, sondern, dass es eines langen Prozesses bedarf, um eine neue Sinn-, Wert- und Zielorientierung zu finden. 1. Der erste Schritt54: „Wir geben zu, dass wir dem Alkohol gegenüber machtlos sind und unser Leben nicht mehr meistern konnten.“ Das Eingeständnis der Machtlosigkeit gegenüber der Sucht führt zur Aufgabe von Kontrolle und illusionären Hoffnungen und bewirkt Entlastung. 2. Der zweite Schritt: „Wir kommen zu dem Glauben, dass eine Macht größer als wir selbst, uns unsere geistige Gesundheit wiedergeben kann.“ Das Eingeständnis, dass im Umgang mit dem Süchtigen die geistige Gesundheit verlo- ren gegangen ist, fördert die Bereitschaft, Hilfe zu akzeptieren und die Bereitschaft zum Glauben (Schmidt 2010:47). 3. Der dritte Schritt: „Wir fassten den Entschluss, unseren Willen und unser Le- ben der Sorge Gottes – wie wir ihn verstehen – anzuvertrauen.“ Die Angehörige soll motiviert werden, den Süchtigen loszulassen, indem sie sich selbst und ihn ganz Gott anbefiehlt. Dieses Loslassen wird der weiteren Entlastung dienen und auch die Fähigkeit stärken, (wieder) für sich selbst zu sorgen. 4. Der vierte Schritt: „Wir machen eine gründliche und furchtlose Inventur in unserem Inneren.“ Die schriftliche Bestandsaufnahme trägt zur realistischen Selbstwahrnehmung, zur Auseinandersetzung mit den eigenen Stärken und Schwächen, mit Wünschen, Ansprü- chen und Ressourcen bei. Unter Anleitung einer Vertrauensperson und/oder eines Seel- sorgers werden auch die Beziehungen zu den Mitmenschen beleuchtet, Belastendes, wie Groll, Abwehr, Ärger und Ängste angesprochen (Schmidt 2010:96). 5. Der fünfte Schritt: „Wir gaben Gott, uns selbst und einem anderen Menschen gegenüber unverhüllt unsere Fehler zu.“ Das Ausdrücken von lange unterdrückten Gefühlen wie Scham, Ärger oder Wut, das Abgeben von Schuld und Schuldgefühlen in Form einer Beichte ist nach Schmidt die „Voraussetzung zu einem neuen wertvollen Leben“ (:141). Die realistische und ehrli- che Einstellung sich selbst gegenüber bringt eine stärkere Unabhängigkeit vom Urteil anderer mit sich und damit eine Zunahme an Selbstbewusstsein. 54 Wortlaut, zit. in Rennert (2012):162-167. 63 6. Der sechste Schritt: „Wir waren völlig bereit, alle diese Charakterfehler von Gott beseitigen zu lassen.“ Viele Verhaltensweisen und Einstellungen sind schwer abzulegen. Die Bereitschaft, sich zu ändern und mit sich selbst auseinanderzusetzen, ist durch diesen Schritt be- wusst gemacht und gefordert. Es wird auch aufzuarbeiten sein, an welchen Fehlformen man am liebsten festhalten möchte. 7. Der siebte Schritt: „Demütig baten wir ihn, unsere Mängel von uns zu neh- men.“ Nach Thomas von Aquin bewahrt uns Demut vor Selbstüberheblichkeit und Selbst- überschätzung (:169) und deshalb ist dieser Schritt als uneingeschränktes Bekenntnis zur Realität zu verstehen. 8. Der achte Schritt: „Wir machten eine Liste aller Personen, denen wir Schaden zugefügt hatten, und wurden willig, ihn bei allen wieder gut zu machen.“ Mit diesem Schritt wird die Opferhaltung aufgegeben. Vergeben und Sich vergeben lassen ist die Basis zum Aufbau gesunder Beziehungen. „Der 8. Schritt ist der Anfang vom Ende unserer Isolierung von unseren Mitmenschen und von Gott“ (:208). Schmidt weist außerdem darauf hin, dass es dabei auch um das Aufarbeiten erlittener Kränkun- gen und Verletzungen gehen kann. 9. Der neunte Schritt: „Wir machten bei diesen Menschen alles wieder gut – wo immer es möglich war, – es sei denn, wir hätten dadurch sie oder andere ver- letzt.“ „Die Bereitschaft zur Wiedergutmachung mit all ihren Gefahren und Risiken wird zu einer Lebensaufgabe und ist eine hohe Stufe seelischen Wachstums und seelischer Rei- fe“ (:228). 10. Der zehnte Schritt: „Wir setzten die Inventur bei uns fort, und wenn wir Un- recht hatten, gaben wir es sofort zu.“ Die Arbeit an sich selbst ist ein ständiger Prozess. Das sofortige Eingestehen des Fehl- verhaltens verhindert ein Abstürzen in alte Verhaltensmuster. Ängste und Schwierig- keiten, das alte Leben loszulassen, sind zu thematisieren. 11. Der elfte Schritt: „Wir suchten durch Gebet und Besinnung die bewusste Ver- bindung zu Gott – wie wir ihn verstehen – zu vertiefen. Wir baten ihn nur, uns seinen Willen erkennbar werden zu lassen und uns die Kraft zu geben, ihn auszuführen.“ Hinter dieser Aussage steht die Erfahrung, dass sich durch Gebet und Besinnung die Lebensgestaltung ändert. „Es geht nicht mehr, das Leben aus eigener Kraft und nach eigenem Willen bewäl- tigen zu wollen, zu manipulieren, zu kontrollieren und seine eigenen Strategien durchzusetzen, sondern sich für den Einfluss Gottes zu öffnen, nach seinem Willen zu fragen und ihn zu tun“ (:270). 64 12. Der zwölfte Schritt: „Nachdem wir durch diese Schritte ein inneres Erwachen erlebt hatten, versuchten wir, diese Botschaft an andere weiterzugeben – und uns in allen unseren Angelegenheiten nach diesen Grundsätzen zu richten.“ Wenn es gewünscht ist, kann die Ex-Co-Abhängige mit ihren Erfahrungen anderen helfen, mit Respekt ihre Unterstützung anbieten. Vor allem aber geht es darum, mit dem veränder- ten Gesamtverhalten glaubwürdig zu leben. Erfahrungsgemäß wird das die stärkste Aus- strahlungskraft haben. Der geistliche Hintergrund dieses Genesungsprogramms geht zurück auf die christliche Oxford-Gruppe,55 der die Gründer der AA angehörten. Sie hatten sich „mit den Begriffen Sünde, Bekenntnis, Zeugnis, Übergabe, Wiedergutmachung, Gebet und göttliche Führung intensiv auseinandergesetzt.“ (:16). Leider ist diese geistliche Ausrichtung in deutschen AA- und Al-Anon-Gruppen nicht immer gegeben. In der Regel ist, z. B. jedem überlassen, was er unter „Spiritualität“, unter „Besinnung und Gebet“ versteht. Das kann Yoga, eine buddhistische Meditation oder eine esoterische Übung sein. Um auf die ursprüngliche Be- deutung und auf die geistlichen Grundlagen aufmerksam zu machen, verfasste der Berliner Arzt und Dozent für Sucht und Abhängigkeitsfragen Lothar Schmidt (2010) das Buch „Fahrschule des Lebens“, nach dem sich die Verfasserin bei den Kommentaren zu den ein- zelnen Schritten ausgerichtet hat. Den Einstellungswandel gegenüber Alkoholikern und Co-Abhängigen, den die AA – und Al-Anon-Arbeit in den USA bewirkt hat (Lindenmeyer 2010:36), kann man in Deutschland nicht feststellen. Kaum vorstellbar für deutsche Verhältnisse, dass die Gattin eines amtierenden Präsidenten56 sich zur Alkoholabhängigkeit bekennt, sich einer Therapie unterzieht und eine Autobiografie über ihre Erfahrungen schreibt.57 In dem von Betty Ford 1982 gegründeten Center für Alkohol- und Drogenentzug haben schon viele Prominente und andere Menschen Hilfe gefunden. 3.4.2 Angehörigenarbeit durch CRAFT – Community Reinforcement and Family Training CRAFT ist ein in den USA seit den 1970er Jahren entwickeltes und erprobtes lerntheo- retisches Behandlungsprogramm,58 das vor allem darauf abzielt, mit Hilfe der Angehörigen 55 Gründer war 1921 Frank Buchmann, ein lutherischer Pfarrer mit deutsch-schweizerischen Wurzeln. Die Oxford-Gruppe wird oft mit der Oxford-Bewegung (1833-1843) verwechselt (Schmidt 2010:14). 56 Gerald Ford, Amtszeit 1973-1977. 57 1978 58 In Deutschland ist u .a. der Psychologe Gallus Bischof mit einer Studie zur ambulanten Umsetzung be- fasst. Er ist einer der Übersetzer des Buches: „Mit Suchtfamilien arbeiten: CRAFT: Ein neuer Ansatz für die Angehörigenarbeit“ von Robert J. Meyers & Jane Ellen Smith (2009). 65 Suchtkranke zu einer Therapie zu bewegen (Meyers 2009:15). Auch das zweite Ziel kon- zentriert sich auf den Abhängigen, nämlich in der Zwischenzeit, den schädlichen Gebrauch zu reduzieren (:17). „Das dritte Ziel ist schließlich, die Angehörigen dabei zu unterstützen, positive Ände- rungen in ihrem Leben vorzunehmen, damit sich ihr – oder sein eigenes psychisches Wohlbefinden verbessert – und zwar unabhängig davon, ob die abhängige Person in Behandlung geht oder nicht“ (:17-18). Das Lern- oder Behandlungsprogramm umfasst acht Schritte: „1. Motivierende Strategien 2. Funktionale Analyse des substanzkonsumierenden Verhaltens des Abhängigen 3. Vorsichtsmaßnahmen bei häuslicher Gewalt 4. Kommunikationstraining 5. Positives Verstärkungstraining 6. Strategien zur Reduktion des Substanzkonsums 7. Angehörigen-Selbstverstärkungstraining 8. Dem Abhängigen Behandlung vorschlagen“ (:21-22). Weitgehend befassen sich Angehörige mit dem Thema Sucht und sind (zunächst oder überhaupt) verstärkt auf den Abhängigen konzentriert. Nicht selten endet für sie das Pro- gramm, wenn der Abhängige eine Therapieeinrichtung aufsucht. Die eigentlichen Proble- me, Nöte und Schwierigkeiten der Co-Abhängigen werden gar nicht oder erst sehr spät thematisiert. Auch Co-Abhängige, deren Probleme erst deutlich hervortreten, wenn der Partner trocken geworden ist und sie dann Hilfe suchen, sind mit diesem Behandlungspro- gramm nicht angesprochen. Im Diakonischen Werk Kassel wird in der Suchtberatungsstelle mit diesem Programm für Angehörige gearbeitet. Angeboten werden vierzehntägig 12 Einzelgespräche oder die Teil- nahme an der Angehörigengruppe mit einer Teilnahmevereinbarung von sechs Monaten und 12 Sitzungen. Die Suchtberaterin und Leiterin der Angehörigenarbeit wies darauf hin, dass die Ge- wichtung der Inhalte und Ziele individuell angepasst wird. Wenn notwendig, werde das dritte Ziel von CRAFT: „Verbesserung der Lebensqualität der Angehörigen“ in den Mit- telpunkt gestellt. Über eine Zufriedenheitsskala (Meyers 2009:265) werden die Verände- rungswünsche oder Änderungsnotwendigkeiten in zehn verschiedenen Lebensbereichen ermittelt und Ziele mit klar und positiv definierten Verhaltensweisen erarbeitet, deren Um- setzung auch erreichbar ist (:276). Das Erweitern des sozialen Netzes und die Entwicklung eigener sozialer Aktivitäten sind weitere Arbeitsziele, die den Angehörigen beim Verände- rungsprozess helfen sollen (:283-287). 66 Der Vorteil des CRAFT- Angebots liegt im leicht erreichbaren Zugang. Die vierzehntägige kostenlose Teilnahme ist zu schaffen, die Zusammenarbeit mit der Fachklinik Fürsten- wald-Calden und anderen Einrichtungen ist bekannt. M.E. liegt in diesem niederschwelli- gen Angebot eine große Chance für eine Erstbehandlung. Weitere Hilfe- oder Therapiean- gebote werden in den meisten Fällen notwendig sein, vor allem, wenn sich herausstellt, dass ein Abhängigkeitssyndrom (Flassbeck, Anlagen, A7) vorliegt oder psychosomatische Erkrankungen zu diagnostizieren sind. 3.4.3 Leitthemen und Leitlinien der personzentrierten Behandlung der Co-Abhängigkeit nach Jens Flassbeck Der Diplom-Psychologe und Gesprächspsychotherapeut Jens Flassbeck ist Gesamtleiter einer Rehabilitationsklinik für Drogenabhängige und hat durch seine Arbeit erkannt, dass die Angehörigenthematik selbst unter Suchtfachleuten wenig bekannt ist und vernach- lässigt wird. Er stellt seine für die Behandlung von Co-Abhängigen entwickelten Leitlinien sehr ausführlich dar, untermauert mit zahlreichen Gesprächsprotokollen und Beispielen, die auch die Tücken und Schwierigkeiten für den Therapeuten nicht auslassen. Er bezieht sich bei seinem Ansatz auf die Gesprächstherapeuten Biermann-Ratjen, Eckert, Finke und Rogers und auf den jüdischen Philosophen Martin Buber (:2010:170-172). Es geht bei der therapeutischen Arbeit mit Co-Abhängigen nicht um die Entwicklung neuer Kompetenzen, sondern darum, die vorhandenen Fähigkeiten und Ressourcen in eine andere Richtung zu lenken, zu schützen und zu stabilisieren (:171f). In der Ausgangslage heißt die co-abhängige Symptomatik: ER59 statt ICH. Das Denken und Fühlen kreist um den Suchtkranken und die Droge.60 In einem ersten Schritt im therapeutischen Programm lernt die Klientin, sich selbst wieder stärker wahr- zunehmen (ICH statt ER), besser mit sich selbst umzugehen und sich zugleich mit der Umwelt auseinanderzusetzen. Ziel des zweiten Schrittes ist die gesunde, positive Bezie- hungsfähigkeit zu Partner und Dingen (DU statt ER). „Der erste Schritt, die Selbstwerdung in Abgrenzung zu anderen, ist Voraussetzung für den zweiten Schritt des Kontakts zweier unabhängiger Individuen. Doch es muss er- gänzt werden, dass beide sich gegenseitig bedingen. Ohne positiven Selbstkontakt kann man nicht in positiven Kontakt zu anderen Menschen treten, aber ohne positive Bezie- hungserfahrungen kann sich auch keine positive Selbststruktur bilden“ (:173). 59 In diesem Fall kann nach Buber im Suchtsystem ER (ES) nicht nur der Abhängige, sondern auch das Suchtmittel sein. 60 Siehe Grafik 6: „Co-Abhängigkeit“– Kolitzus (2011); Lask (2004), S. 50 dieser Arbeit. 67 Das Anstoßen der Selbstaktualisierung geschieht auf vielfache Weise. Die Klientin wird zum Reden ermutigt. Lange genug hat sie geschwiegen, verschleiert, im Stillen gelitten. Der Therapeut kann nun zum Anwalt der bisher unterdrückten Wünsche und Bedürfnisse werden (:179). Co-Abhängige müssen oft mühsam wieder lernen, die eigene Befindlichkeit wahrzunehmen und auszudrücken, die Unzufriedenheit mit der eigenen Situation zuzuge- ben und Möglichkeiten entdecken, wieder konkret für sich selbst tätig zu werden. Dabei spielt das Abschiednehmen von falschen Hoffnungen keine geringe Rolle (:186). Der Therapeut wird Widersprüche zwischen Inhalt und nicht entsprechendem Ausdruck, z. B. Lächeln, obwohl gerade eine miese oder traurige Szene geschildert wird, und andere In- kongruenzen nutzen, um die Co-Abhängige immer wieder zu ermutigen, sich selbst wieder als Person ernst zu nehmen, auch Ärger und Wut auszudrücken, um evtl. notwendige klare Forderungen stellen zu können. Wenn die Klientin Ehrgeiz entwickelt und sich sozial oder beruflich verwirklicht, sieht Flassbeck die Überwindung der Co-Abhängigkeit und das erfolgreiche Ende der Therapie erreicht. Beim Anstoßen der Beziehungsfähigkeit (DU statt ER) geht es gleich zu Beginn der Therapie um das Nein-Sagen-Lernen. Die co-abhängige Frau „muss sich Freiräume und Atempausen in ihrem Alltag schaffen, sonst kann die Therapie nicht greifen“ (:204). Der Therapeut wird den Wunsch nach Entlastung unterstützen und gemeinsam mit der Klientin Möglichkeiten des dazu notwendigen Nein-Sagens suchen und einüben. Durch ausdruck- starkes Reden über Sucht und co-abhängige Verstrickung, zunächst in der Therapiestunde, ist die Schamgrenze zu überwinden. Als nächsten Schritt sollen diese Themen gegenüber Familienangehörigen und Fremden angesprochen werden. In Rollenspielen erproben die Klientinnen, wie das Thema, bei welchen Gelegenheiten anzusprechen ist. Indem die Co- Abhängige lernt, Hilfebedürftigkeit zuzugeben und Hilfsangebote anzunehmen, gibt sie Kontrolle ab (:209). Sie muss dabei ihr Selbstbild ändern, überwindet aber damit ihre Ab- hängigkeit vom Süchtigen. Alle Anstöße, die Ressourcen der Klientin zu stärken, ihre so- zialen Bezüge zu reaktivieren, dienen diesem Ziel (:211). Es ist Ziel der Interventionen, „dass die Klientin das Auseinandersetzen im doppelten Sinn von Abstandnehmen und Streiten aus der geschützten Therapiesituation mit in ih- ren Alltag nimmt und eine klarere und gleichberechtigtere Form der Kommunikation und Konfliktbewältigung gegenüber und mit dem Süchtigen lernt“ (:219). Dazu gehört auch die Entwicklung einer gesunden Aggressivität. Wenn es gelingt, dass die Klientin wieder für sich aktiv wird, Ehrgeiz entwickelt und sich auseinandersetzen kann, wird sie mit wachsendem Selbstvertrauen belohnt und ist durch neue Kontakte zwar auf andere angewiesen, aber nicht mehr abhängig von einem einzigen Menschen (:225). Die 68 Stärkung der Kompetenzen der co-abhängigen Frau stellt Flassbeck (2010) durch drei Themen dar: 1. Hintergrundwissen über die Sucht verhilft ihr zur Erkenntnis, dass Kontrolle durch co-abhängiges Verhalten sinn- und nutzlose Zeitverschwendung ist. Der süchtigen Egozentrik ist so nicht beizukommen (:229). 2. Sie muss wissen, wie sie sich und andere schützen kann (Abstand, ruhige Überle- gungen, konkrete Maßnahmen). „Der Schritt in die Therapie ist daher immer auch als eine Schutzmaßnahme zu verstehen und der Klientin wertschätzend zu spie- geln“ (:231). 3. Die Ex-Co-Abhängige wird durch ihre Erfahrungen zur Expertin für diese Proble- matik, erkennt die Schwierigkeiten in ihrem Umfeld und wird nicht selten zum Multiplikator. „Die Klientin wird zur Botschafterin in eigener Sache“ (:235).61 Beispiele, dass Ex-Abhängige und Ex-Co-Abhängige später als Therapeuten arbeiten, er- härten diese Aussage.62 Die Psychotherapeutin Ingrid Trabe hat durch ihre Forschungsarbeit63 am Anton-Proksch- Institut in Österreich den „Nutzen psychotherapeutischer Gruppen für Angehörige von Suchtkranken“ (2011) nachgewiesen. Da sie wie Jens Flassbeck nach den Handlungskon- zepten der personzentrierten Psychotherapie arbeitet, können ihre Forschungsergebnisse direkt in Bezug zu den Leitlinien Flassbecks gesehen werden. Als besondere Wirkfaktoren ermittelte Trabe Entlastung (:57), Erfahrungsaustausch und Lernen (:58). Ängste und nega- tive Gefühle aussprechen zu können und von den anderen Gruppenmitgliedern unmittelbar verstanden zu werden, wird als große Entlastung empfunden. Der Zugewinn an Wissen über Suchterkrankungen wird als hilfreich geschildert (:59). Verhaltensweisen, die sich seit der Gruppentherapie im Umgang mit dem Süchtigen geändert haben, sind als Bewälti- gungsstrategien (59-61) erfasst (Konsequent sein, Grenzen setzen, eigene Grenzen wahren, Begleitung, aber Abgabe an Verantwortung an den Abhängigen). Bei den Veränderungs- prozessen nannten die Klienten vorrangig die Änderung der Gefühle (Zunahme an Selbst- bewusstsein, Abnahme von Schuldgefühlen, Wut und Trauer, Gelassenheit) und bei Ände- rung in der Beziehung zur Umwelt werden das Aufhören des Versteckspielens, das Zuge- ben der Suchtproblematik und die Überwindung der Scham als entscheidende Änderungen betont (61-63). Auf verschiedene Weise, aber von allen Klienten, wird die Verbesserung 61 Siehe auch den zwölften Schritt des Al-Anon-Programms, S. 64. 62 Timmen Cermak, Anne Wilson Schaef, Pia Mellody. 63 Leitfadengestützte standardisierte Interviews. 69 der Lebensqualität bestätigt. „Lebensqualität schließt auch die Selbstfürsorge als Fähigkeit zur Abgrenzung und Behauptung mit ein“ (:63). Trabe definiert Co-Abhängigkeit nur als „Suchtförderndes Verhalten“, dennoch rät sie zur Therapie, die von Flassbeck beim „Abhängigkeitssyndrom“ empfohlen wird und die seiner Einschätzung nach zwei bis drei Jahre umfasst. 3.5 Zusammenfassung „Co-Abhängigkeit“ ist eines der Hauptthemen der Arbeit. Die Forschungsfrage64 bezieht sich direkt auf Frauen, die in der einen oder anderen Weise co-abhängig sind oder waren. Es war deshalb unerlässlich, verschiedene Ansätze vorzustellen, um die Problematik so gut wie möglich zu erfassen. Die amerikanischen Forschungsansätze spiegeln sich bei Be- schreibung und Definition in der deutschen Kriterien- und Merkmalerfassung der Co- Abhängigkeit wider (Köhler, Rennert, Flassbeck). Zunehmend wird das Problem erkannt, dass die pathologische Seite dieses Phänomens bei uns noch unterbewertet ist. Die Diffe- renzierung, die vor allem Flassbeck vornimmt, ist richtungsweisend für entsprechende Be- handlungsvorhaben. Da die Aktivitäten des suchtfördernden Verhaltens (Nelson) und die der drei Phasen (Kolitzus) bekannter sind als andere Faktoren, die mit dem Problem Co- Abhängigkeit in Verbindung gebracht werden, sind sie veranschaulichend dargestellt.65 Im Vergleich der Merkmale66 von sechs Autoren, von denen drei selbst co-abhängig waren (Cermak, Schaef, Mellody), fällt auf, dass drei Merkmale mehrmals genannt werden und damit besonders zu beachten sein werden: 1. Die Selbstwertproblematik der Co-Abhängigen wird herausgestellt; bei Köh- ler wird sie im Kontext erwähnt. 2. Das Unvermögen, Gefühle, eigene Bedürfnisse und Wünsche wahrzuneh- men, wird ebenfalls von allen Autoren genannt (bei Köhler im Zusammenhang mit der „Sozialen Orientierung“). 3. Das Helfersyndrom, ein übermäßiges Verlangen zu helfen, sich für die Be- dürfnisse anderer verantwortlich zu fühlen, wird nur von Mellody und Rennert nicht angeführt. Darüber hinaus findet sich die „Übernahme von Verantwortlichkeit“ in der Beschreibung suchtfördernden Verhaltens nach Carnot. E. Nelson und beim Phasenmodell von Helmut Kolitzus in der Beschützerphase. 64 „Welche Resilienzansätze sind aus den narrativen Interviews zu erschließen, um zur persönlichen Förde- rung in der seelsorgerlichen Begleitung beizutragen?“ 65 Siehe S. 51. 66 Siehe Anlagen, A7-A9. 70 Eine Differenzierung in Bezug auf Stärke und Entwicklung von Co-Abhängigkeit liefern Rennert, Köhler und Flassbeck. Flassbecks Studie sieht die Verfasserin als besonders hilf- reich an, da er andere Ansätze integriert und auch zur Entstehung und Behandlung sehr ausführlich, praxisnah und verständlich neue Erkenntnisse beiträgt. Die von Rennert67, Köhler68 und Flassbeck69 positiv ausgedrückten Aspekte Co-Abhängiger führen direkt zur Beachtung von Resilienzansätzen und können zur Beantwortung der Forschungsfrage die- nen. Die Behandlungsangebote zeigen, dass vor allem bei CRAFT die Gefahr besteht, dass es doch weitgehend um den Suchtkranken geht – wie auch bei der Angehörigenarbeit in den Fachkliniken – und nicht eigentlich um die Belange der Co-Abhängigen. Wichtig ist allerdings, dass Angehörige überhaupt erfahren, dass sie Hilfe in Anspruch nehmen kön- nen, ermutigt werden, gewohnte Bahnen zu verlassen, das Schweigen zu brechen und an- fangen, etwas für sich selbst zu tun. Die Entstehungsbedingungen sind vielfältig und kom- plex. Prägende Familienstrukturen, individuelle Lebensverhältnisse sind genauso zu beach- ten wie Einflüsse durch Gesellschaft, Gemeindezugehörigkeit, persönliche Charaktereigen- schaften und Glaubensstile. Ein Seelsorgeangebot ist nur bei der Arbeit der Al-Anon- Gruppe zu finden – zumindest im theoretischen Ansatz – bei allen anderen hier dargestell- ten Behandlungsangeboten fehlt jeglicher Hinweis auf den christlichen Glauben als Res- source. 67 Rennert: Entwicklung von Überlebensstrategien, Fähigkeit zum sozialen und loyalen Verhalten, S.52. 68 Köhler: Teamfähige Leistungsbereitschaft, Dilogbereiter Dialekt, Soziale Orientierung, Anlagen, A8a. 69 Flassbeck: Ausgeprägte prosoziale Einstellungen und liebenswerte Persönlichkeitsmekmale, wie z.B. Idealismus, Freundlichkeit, Gutmütigkeit, Nachgiebigkeit, Rücksichtnahme oder Langmut, Anlagen A9. 71 4 Resilienz 4.1 Bedeutung von Resilienz und verwandter Begriffe 4.1.1 Resilienz und Vulnerabilität Der Begriff „Resilienz“ ist zurückzuführen auf die lateinische Vokabel: „res-silio, silire, silui-…(1. zurückspringen.., 2. zurück-, abprallen;… haftet nicht an jmdm., trifft jmd. nicht;…).“70 Leitet man den Begriff aus dem Englischen „resilience“ ab, bedeutet er: „Spannkraft, Widerstandsfähigkeit und Elastizität“ (Fröhlich-Gildhoff 2011:9). Bevor der Begriff auf die menschliche Fähigkeit bezogen wurde, auch angesichts von Belastungen, Verletzungen oder Stress-Situationen gesund zu bleiben bzw. die Krisen nicht nur zu be- wältigen, sondern daran zu wachsen, kannte man ihn in der Werkstoffkunde. Resilienz bezeichnet die Fähigkeit, sich verformen zu lassen, z. B. Kunststoffe, ohne die ursprüngli- che Qualität zu verlieren, zur alten Form zurückzufinden, biegsam zu sein, ohne zu bre- chen. Im deutschsprachigen Raum ist die Begriffsbestimmung von Corina Wustmann Sei- ler (2012) allgemein anerkannt. „Resilienz meint eine psychische Widerstandsfähigkeit von Kindern gegenüber biolo- gischen, psychologischen und psychosozialen Entwicklungsrisiken. An die Bedeutung von Resilienz sind damit zwei wesentliche Bedingungen geknüpft: (1) eine signifikante Bedrohung für die kindliche Entwicklung und (2) eine erfolgreiche Bewältigung dieser belastenden Lebensumstände“ (:18). Die Definition, auf die sich Paar- und Familientherapeuten bei einem Kongress in Zürich 2005 geeinigt haben, lautet: „Unter Resilienz wird die Fähigkeit verstanden, Krisen im Lebenszyklus unter Rück- griff auf persönliche und sozial vermittelte Ressourcen zu meistern und als Anlass für Entwicklung zu nutzen.“ (Welter-Enderlin 2012:13). Bengel & Lyssenko (2012) unter- scheiden: „Resilienz im Erwachsenenalter: Psychische Widerstandskraft angesichts be- lastender Lebensereignisse“ und „Resilienz bei Kindern und Jugendlichen: Günsti- ge/normale Entwicklung trotz ernsthafter Gefährdungen und Probleme“ (:6). „Das Gegenstück dazu [zu Resilienz] ist Vulnerabilität: Vulnerabilität bezieht sich auf die Prädisposition eines Kindes, unter Einfluss von Risikobelastungen verschiedene Formen von Erlebnis- und Verhaltensstörungen zu entwickeln. Resilienz zielt insofern auf psychische Gesundheit trotz erhöhter Entwicklungsrisiken ab, d. h. auf Bewälti- gungskompetenz“ (Wustmann Seiler 2012:22). 70 Pons Wörterbuch Latein-Deutsch 2003. 72 4.1.2 Salutogenese und Kohärenz Nach einer Studie mit ehemaligen KZ-Häftlingen entwickelte der Medizinsoziologe Anto- novsky den Ansatz der Salutogenese, ein Modell der Gesundheitswissenschaft, das nach den Entstehungs- und Erhaltungsbedingungen von Gesundheit fragt – gegen die einseitige Sichtweise der Pathogenese. Das Salutogenesekonzept ist wie das Resilienzkonzept res- sourcenorientiert und nicht defizitorientiert; der Schwerpunkt liegt aber auf den Schutzfak- toren zur Erhaltung von Gesundheit. „Als wichtigstes Ergebnis dieses gesundheitsorientierten Ansatzes und einer Vielzahl entsprechender Studien identifizierte Aaron Antonovsky (1997) – als Korrelat zum Immunsystem auf physiologischer Ebene – ein ‚psychisches Immunsystem‘. Er be- schreibt dieses System als Bereitschaft, sich auf die Umwelt mit einem ‚grundsätzli- chen und generellen Vertrauen in das Leben‘ einzulassen“ (Bamberger 2001:27). „Das von Antonovsky (1997) benannte Gefühl der Kohärenz wird in der Resilienzfor- schung als personale Ressource gesehen“ (Fröhlich-Gildhoff 2011:14). Drei wesentliche Komponente bestimmen das Kohärenzgefühl:  „dass die Ereignisse des Lebens in ihrem Sinn größtenteils erklärlich und damit verstehbar sind (‚Verstehbarkeit‘);  dass man über alle notwendigen Fähigkeiten verfügt, um den vielfältigen Le- bensanforderungen gerecht zu werden und um dem eigenen Leben individuelle Gestalt zu geben (‚Handhabbarkeit‘):  und dass es das Leben wert ist, sich zu engagieren (‚Bedeutsamkeit“)“ (Bamberger 2001:27). 4.1.3 Coping Bei Stress- oder Krankheitsbewältigungskonzepten taucht der Begriff „Coping“ auf. „Coping, das sich am besten als Krankheitsbewältigung ins Deutsche übersetzen lässt, beschreibt ein Forschungsgebiet der Psychosomatischen Medizin, welches seine Wur- zeln vor allem in der Stressforschung, in der Bewältigung von Lebensereignissen und in der psychoanalytischen Abwehrlehre […] hat“ (Hoffmann & Hochapfel 2009:389). „Unter Coping verstehen Lazarus und Launier (1981)‚ (…) jene verhaltensorientierten und intrapsychische Anstrengungen, mit umweltbedingten und internen Anforderungen fertig zu werden, d. h., sie zu meistern, zu tolerieren, zu reduzieren oder zu minimieren‘ (S.244). Das Bewältigungsverhalten hat dabei folgende Hauptaufgaben:  den schädigenden Einfluss von Umweltbedingungen zu verringern,  Gegebenheiten für Erholung zu verbessern,  ein positives Selbstbild zu sichern“ (Wustmann Seiler 2012:76). Um erfolgreich risiko- oder stressreiche Phasen bewältigen zu können, bedarf es mehrerer und verschiedener Coping-Strategien, auf deren Klassifizierung hier nicht eingegangen werden soll, die bei der Resilienzfähigkeit im Leben einer Person aber eine wichtige Rolle 73 spielen können. Festzuhalten ist, wie die Definitionen der Begriffe: Resilienz, Salutogene- se, Kohärenz und Coping zeigen, dass die ressourcenorientierten Ansätze gegenüber den defizitorientierten überwiegen. Diese Tendenz zeichnet sich auch beim Umgang mit Alko- holabhängigen bei der Bevorzugung der „Motivierenden Gesprächsführung“ gegenüber den konfrontativen Techniken ab und ist auch im neuen Forschungsschwerpunkt „Positive Psychologie“ zu bemerken. „Die Positive Psychologie interessiert sich nicht in erster Linie für psychische Störun- gen und belastende Umweltfaktoren, sie konzentriert sich vielmehr auf die Stärken und Talente jedes Einzelnen. [ …] Die Erforschung positiver Gefühle als Ressourcen (Be- wältigungshilfe) und zur Stärkung der Resilienz (Widerstandskraft) konnte zeigen, welche bedeutende Rolle Glücksgefühle, Optimismus oder Dankbarkeit für unsere see- lische Gesundheit spielen“ (Utsch 2013:11). Die Resilienzforschung wiederum ist nicht bei der Frage stehen geblieben: „Was Kinder stark macht“, sondern bezieht inzwischen Erwachsene in vielen Lebensbereichen ein, wo- bei auffällt, dass das Thema „Co-Abhängigkeit“ explizit ausgespart ist. 4.2 Forschungsstand zum Themenkreis Resilienz 4.2.1 „Wellen“ der Resilienzforschungsgeschichte Eine der weltweit führenden Expertinnen der Resilienzforschung, die amerikanische Ent- wicklungspsychologin Ann S. Masten, führt vier Wellen in der Geschichte der Resilienz- forschung an. „Die systematische Forschung, um Resilienz zu dokumentieren und zu verstehen, be- gann um 1970. In der ersten Welle dokumentierten Wissenschaftler das Phänomen der Resilienz und machten ‚Schutzfaktoren‘ ausfindig, die jungen Leuten helfen, sich posi- tiv zu entwickeln, auch wenn sie in schwierigen Verhältnissen heranwachsen. Diese Welle brachte Methoden für das Studium der Resilienz und die sogenannte ‚short list‘ von Faktoren, die mit diesem Phänomen im Zusammenhang stehen. Die zweite Welle der Forschung begann mit der anspruchsvollen Aufgabe herauszufin- den, wie Resilienz funktioniert. Die Wissenschaftler wollten die Gründe und Vorgänge verstehen, die zu Resilienz führen. Die ‚short list‘ lässt vermuten, dass es einige sehr grundlegende Schutzvorgänge gibt, die jungen Leuten in Not und Gefahr helfen, weil dieselben Faktoren in diversen Populationen und Studien aus der ganzen Welt immer wieder erscheinen. Als potentielle Schutzprozesse identifiziert waren, startete die dritte Welle der Forschung. Die Psychologen untersuchen nun, ob es möglich ist, Personen gezielt in ihrer Resilienz zu stärken. Mit Hilfe gezielt entworfener Interventionen sollen dazu Schutzvorgänge gefördert werden. Diese Experimente dauern bis heute an, aber die ersten Resultate sind vielversprechend“ (Masten 2007:1-4). Durch die Fortschritte in der Hirnforschung ergeben sich ganz neue Möglichkeiten. 74 „Irgendwann wird es vielleicht möglich sein, Lern- oder Verhaltensdefizite durch Hirn- training zu korrigieren. Die vierte Welle der Resilienzforschung arbeitet daran diese neuen Erkenntnisse über alle Ebenen der Forschung hinweg zu integrieren“ (Masten 2007:4). 4.2.2 Studien der Resilienzforschung Als Pionierin der Resilienzforschung gilt Emmy E. Werner, die darauf hinweist, „dass alle Studien gezeigt haben, dass die Resilienz eines Menschen an wechselseitig sich bedin- gende Effekte gebunden ist, d. h. dass sie von der Wechselwirkung zwischen Schutzfakto- ren abhängt, die beim Individuum, in seiner Familie und in seinem Umfeld vorhanden sind.“ (Werner 2012:30). Seit Beginn der Resilienzforschung wurden in den USA, Europa, Australien und Neuseeland 19 Längsschnittstudien durchgeführt (Fröhlich-Gildhoff 2011:14). Internationale Studien Als älteste und bekannteste Studie wird die Kauai Längsschnittstudie von Emmy E. Wer- ner und Ruth Smith angesehen. Die Forscherinnen untersuchten 698 Kinder, die alle 1955 auf der Hawai-Insel Kauai geboren worden waren, „wie sich unterschiedliche biologische und psychosoziale Risikofaktoren, belastende Lebensereignisse und Schutzfaktoren auf die Probanden auswirkten“ (Werner 2012:30). Knapp 30% der von Werner und Smith über 40 Jahre lang untersuchten Personen entwickelten sich, trotz kumulierter Risikofaktoren, „zu kompetenten, selbstbewussten und fürsorglichen Erwachsenen“(:30). In Jerusalem betreute man palästinensische Kinder von Ex-Häftlingen (YMCA-Ost-Sozial- arbeit 2009). „Nach den Interventionen waren diese Kinder weniger traumatisiert, ihre Resilienz hatte sich verstärkt“ (Roth 2012:Skript I,4). Nationale Studien Bei der Mannheimer-Risikokinder-Studie (2000) wurden 362 Kinder, die zwischen 1986 und 1988 geboren wurden, jeweils im Alter von drei Monaten, 2, 4, 5, 8 und 11 Jahren untersucht. Der Schwerpunkt dieser Studie lag auf der Erforschung von Prozessen, die bei der gesunden Entwicklung von Kindern eine Rolle spielen (Fröhlich-Gildhoff 2011:16). Die Bielefelder Invulnerabilitätsstudie befasste sich mit einer Hochrisikogruppe, mit 146 Jugendlichen zwischen 14-17 Jahren, die alle in Heimen aufwuchsen. Die Forscher kamen zu ähnlichen Ergebnissen wie Emmy E. Werner, wobei allerdings hinzukam, dass das Heim-Erziehungsklima entweder als protektiver oder als Risiko-Faktor angesehen werden konnte (Wustmann Seiler 2012:92-94). Die neueste Längsschnittstudie in Deutschland ist die Bella-Studie des Robert-Koch- Instituts in Berlin. Der Hintergrund ist die „neue Morbidität“ von Kindern und Jugendli- 75 chen, bei der eine Verschiebung von den akuten zu den chronischen Erkrankungen und eine Verschiebung von den somatischen zu den psychischen Störungen festgestellt wurde (Ravens-Sieberer 2006:1-8). Nach einer Befragung von 2863 Familien über Risiko- und Schutzfaktoren (u. a.) werden frühzeitige Präventionsmaßnahmen gefordert, „da bereits bei den jüngeren Kindern Beeinträchtigungen der psychischen Gesundheit festgestellt werden können“ (:8). Auch in der Unicef-Studie „Glaub an dich!“ vom 20. Januar 2010 geht es darum. Kinder und Jugendliche für eine ungewisse Zukunft zu stärken, die personalen, familialen und sozialen Ressourcen zu verbessern, damit sie, die im internationalen Vergleich – trotz ob- jektiv guter Bedingungen – ihre Zukunftsaussichten düsterer sehen als in allen anderen Industrienationen, mit besserer Selbsteinschätzung ihr Leben gestalten wollen (2010:1-3). Die Studien befassen sich mit Kindern und Jugendlichen. Da die entscheidenden Wei- chen für die Resilienzfähigkeit sehr früh gestellt werden, sind diese Studien aber auch für Biografieanalysen interessant, auch unter dem Blickwinkel, welche protektiven Faktoren im Laufe des Lebens hinzukommen oder – besonders im Alter – noch zu entwickeln sind. 4.2.3 Risiko- und Schutzfaktoren-Konzepte 4.2.3.1 Risikofaktoren Gegenstand der aktuellen Forschung sind die Wechselwirkungsmechanismen zwischen Risiko- und Schutzfaktoren. „Risikofaktoren werden als krankheitsbegünstigende, risikoerhöhende und entwick- lungshemmende Merkmale definiert, von denen potentiell eine Gefährdung der gesun- den Entwicklung des Kindes ausgeht (Holtmann/Schmidt, 2004)“ (zit. in Fröhlich- Gildhoff 2011:20). Allgemein anerkannt ist die Zusammenstellung von Stressoren, Vulnerabilitäts- und Risi- kofaktoren von Corina Wustmann Seiler (Anlagen, A10 und A11). Traumatische Erlebnisse werden gesondert aufgeführt, da sie als eine „besonders extreme Form schwerwiegender Risikoeinflüsse“ angesehen werden (Wustmann Seiler 2012:39). 4.2.3.2 Schutzfaktoren „Unter risikomildernden bzw. schützenden/protektiven Bedingungen werden nach Rut- ter (1990) psychologische Merkmale oder Eigenschaften der sozialen Umwelt verstan- den, welche die Auftretenswahrscheinlichkeit psychischer Störungen senken bzw. die Auftretenswahrscheinlichkeit eines positiven bzw. gesunden Ergebnisses (z. B. soziale Kompetenz) erhöhen“(:44). 76 Unterschieden wird zwischen personalen und sozialen Ressourcen (Familie, Bildungsinsti- tutionen, weiteres soziales Umfeld). – (Siehe Anlagen, A12-A15). Masten (2001) bündelt die Faktoren und stellt „protektive Systeme“ vor, die in verschiede- nen Resilienz-Studien deutlich geworden sind:  „Bindungssysteme  Menschliche Informationsverarbeitungssysteme  Selbstregulationssysteme für Aufmerksamkeit, Emotion, Erregung und Verhal- ten  Bewältigungsmotivationssysteme  Familiensysteme  Kommunale Organisationssysteme  Spiritualität und religiöse Systeme“ (zit. in Wustmann Seiler 2012:117). 4.2.3.3 Resilienzmodelle: Zusammenwirken von Risiko- und Schutzbedingungen Beim Zusammenwirken von Risiko- und Schutzbedingungen unterscheidet man nach Wustmann Seiler (2012) vier Modelle (:58-61). 1. Modell der Kompensation, danach differenziert, ob die Faktoren direkt (Hauptef- fektmodell) oder indirekt auf das Kind einwirken (Mediatoren-Modell). Die protek- tiven Bedingungen vermögen einen Ausgleich zu schaffen. Schädigende Einflüsse können kompensiert werden (:57-58). 2. Modell der Herausforderung: Werden Stress- und Risikosituationen als Herausfor- derung gesehen, so führt das zu einem Kompetenzgewinn und zu einer Erweiterung des Repertoires an Coping-Fähigkeiten (:59-60). 3. Modell der Interaktion: Der Schutzfaktor mildert das Ausmaß bzw. die Stärke des Risikofaktors ab, ohne aber direkten Einfluss auf das Entwicklungsergebnis zu ha- ben wie beim Kompensationsmodell (:60, Abbildung). 4. Modell der Kumulation: Die Wirkung mehrerer risikoerhöhender bzw. risikomil- dernder Faktoren addieren sich nach dem Muster des Interaktionsmodells. 77 Direkte Wirkung Moderierende Wirkung Risikoerhöhender Entwicklungsergebnis Faktor Risikomildernder Faktor Werner (2000) weist darauf hin, dass die verschiedenen Wirkzusammenhänge auch gleich- zeitig oder nacheinander vorkommen können (:61).71 4.2.3.4 Schutzfaktoren im Erwachsenenalter Die Psychologen Jürgen Bengel und Lisa Lyssenko erforschen an der Universität Freiburg die Besonderheiten der Resilienzfaktoren im Erwachsenenalter. Neun potentielle Schutz- faktoren stellen sie in ihrer aktuellen Studie (2012) vor: „Kognitive Schutzfaktoren  Optimismus, Hoffnung  Selbstwirksamkeitserwartung  Internale Kontrollüberzeugungen  Kohärenzgefühl, Hardiness  Religiosität Emotionale Schutzfaktoren  Selbstwertgefühl  Positive Emotionen Interaktionale Schutzfaktoren  Aktive Bewältigungsstrategien  Soziale Unterstützung“ (:9). Empirisch am stärksten abgesichert als resilienzfördernd gelten Selbstwirksamkeit(serwar- tung), positive Emotionen und soziale Unterstützung. Inkonsistente Befunde gibt es bei den Faktoren Selbstwertgefühl und Religiosität. Festgehalten darf aber werden, dass ein 71 Siehe auch die Grafiken 9 und 10, Anlagen, A12 und A13. Grafik 8: Modell der Interaktion (Wustmann Seiler 2012:60). 78 niedriges Selbstwertgefühl ein „deutlicher Risikofaktor“ ist (:12). Religiosität kann unter Umständen (nach Pargament & Cummings 2010) zum Risikofaktor, zum Stressverursacher werden (siehe Kapitel 4.3.2). Für die Wirkungsweise der Schutzfaktoren sind sechs Punkte von Bedeutung. „Präventiv  Gesundheitsverhalten  Geringeres Risiko für kritische Ereignisse In kritischen Situationen  Geringere Bedrohungswahrnehmung  Puffern der Belastung Nach kritischen Situationen & bei chronischen Stressoren  Adäquate Copingstrategien  Höheres Durchhaltevermögen“ (:15). Bei den Lebenserzählungen der co-abhängigen Frauen werden sowohl die Schutz- und Risikofaktoren der Kindheit als auch die des Erwachsenenalters eine Rolle spielen sowie die eigene Einschätzung der Wirkungsweisen. 4.3 Praktische Theologie und Resilienz 4.3.1 Theologische Aspekte der Resilienz In Form von Bildern und Umschreibungen finden wir in der Bibel eine Fülle von Erschei- nungen und Beispiele resilienter Persönlichkeiten, von denen nur einige exemplarisch an- geführt werden sollen. Der ehemalige Stuttgarter Stadtdekan Hans-Peter Ehrlich hat in einem Vortrag (2009) auf einige ‚Resilienzgeschichten‘, die für ihn zum „Kernbestand des christlichen Glauben“ gehören, hingewiesen. „In der Gottesbeziehung finde ich ein Bildungselement (vor), das sich auch in Kri- sensituationen bewähren kann. Hierfür bietet die Bibel reichhaltig Erfahrungsberichte und Geschichten an, die die Ausbildung von Resilienz zum Inhalt haben und in dem Vertrauen auf die Begleitung Gottes wurzeln:  die Flutgeschichte von der Arche  die Erzvätergeschichte über Abraham  die komplexe Beziehungsgeschichte zwischen Jakob und Esau  die Geschichte vom tiefen Fall und der Rettung und Beförderung Josefs  die Gleichnisse vom verlorenen Schaf oder vom verlorenen Sohn  die Osterentdeckung“ (: 2 ). Auch die Hiobsgeschichte kann als Beispiel für einen Menschen gesehen werden, der selbst in tiefster Krise und trotz mannigfacher Verlusterfahrung an der Gottesbeziehung festhält und die Hoffnung nicht aufgibt, aus dieser Lage wieder herauszukommen. Im Le- ben des Apostels Paulus gehören Schwierigkeiten, Anfechtungen und Verfolgungen zum Alltag, ein nicht bekanntes chronisches Leiden als Dauerstressor kommt hinzu und den- 79 noch kann er, aus dem Gefängnis an die Gemeinde in Philippi schreiben: „Freuet euch in dem Herrn allewege, und abermals sage ich: Freuet euch! (Phil 4,4). Viele andere Bibel- worte und Psalmworte wären zu nennen, die Menschen Trost und Zuversicht, Mut und Kraft geben können, z. B. lassen sich Worte aus Psalm 27 wie ein persönliches Resilienz- förderungsprogramm lesen: „Der Herr ist mein Licht und mein Heil; vor wem sollte ich mich fürchten? Der Herr ist meines Lebens Kraft; vor wem sollte mir grauen? – Denn mein Vater und meine Mutter verlassen mich, aber der Herr nimmt mich auf“ (Ps 27,1.10). August Hermann Franckes Wahlspruch zeigt die Richtung zur Resilienzgewinnung an: „Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.“ (Jes 40,31). Das Bild des Baumes, gepflanzt an den Wasserbächen, ist Symbol für eine ganz- heitliche, organische Verbindung zu Gott (Ps 1; Jer 17,8; Ps 92,13-1672), das zum Resi- lienzgleichnis wird. Das Bild vom Weinstock und den Reben (Joh 15,5)73 verdeutlicht in einzigartiger Weise, worauf es ankommt, um täglich neue Kraft zu bekommen, auf die lebendige Verbindung zum Herrn. Der Brief an die Hebräer, der als „Mahn-und Erbau- ungsrede“ charakterisiert wird (Stuhlmacher 2012:86) gilt als Empfehlung für Christen, resilient zu werden. Zum Festhalten am Bekenntnis der Hoffnung (10,23) und im Bild des Wettkampfs (12,1) wird zu Geduld und Ausdauer aufgerufen. Indem wir aufsehen auf Je- sus, den Hohenpriester, der alle Schwächen und Schmerzen kennt, den Anfänger und Voll- ender des Glaubens, ist neue Kraft und neuer Mut zu gewinnen (Hebr 12,1-3). Das Lebens- und Hoffnungsziel ist die bleibende Wohnstatt im Himmel74 (Stuhlmacher 2012:104). 4.3.2 Christlicher Glaube als Resilienzfaktor Bei den Schutzfaktoren führen sowohl Bengel & Lyssenko (2012) als auch Masten (2001) Religiöse Systeme bzw. Religiosität75 an. Eine Beziehung zwischen Religiosität und Ge- sundheit belegen zahlreiche Studien und Arbeiten. In ihrer Dissertation „Glaube und Ge- sundheit“ (1997) verweist Eva Maria Jäger auf die Untersuchungen von Gartner/Larsen & 72 „Und wenn sie auch alt werden, werden sie dennoch blühen, fruchtbar und frisch sein“ (Ps 92,15). 73 Jesus Christus spricht: „ Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun“ (Joh 15,5). 74 „Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir“ (Hebr 13,14-vgl. auch 11,16; 12,22). 75 Religiosität, Spiritualität sind mehrdeutbare, komplexe Begriffe. Allgemein wird darunter „ein individu- eller Bezug zu einer höheren Wirklichkeit“ verstanden (Jäger 1997:24). In dieser Arbeit sollen die Begrif- fe in Beziehung auf das biblisch-holistische Menschenbild und Glaubensverständnis gesehen werden (siehe Kapitel 1.3.3). 80 Allen (1991), die durch über zweihundert Studien zum Zusammenhang zwischen Religio- sität und seelischer Gesundheit folgende Trends beobachteten: „Signifikante positive Zusammenhänge ergaben sich in den Untersuchungen zum Verhältnis zwischen Religiosität und  geringerem Drogen- und Alkoholkonsum (hier sind die Ergebnisse besonders einheitlich),  geringerer Suizidrate,  geringerem delinquenten Verhalten,  allgemeinem, subjektiven Wohlergehen,  geringerer Depression  erhöhter Ehezufriedenheit (sowie geringere Ehescheidungsquoten) und  erhöhter körperlicher Gesundheit“ (zit. in Jäger 1997:83). Die Unterscheidung zwischen extrinsischer und intrinsischer Religiosität ist insofern von Bedeutung, weil bei der instrumentellen, oberflächlichen Gläubigkeit negative Auswirkun- gen auf die seelische Gesundheit festgestellt werden, da in Krisenzeiten kein Halt vorhan- den ist, „während das Gegenteil bei einer intrinsischen Religiosität der Fall ist, die als eine ganzheitliche Überzeugung (intellektueller und motivationaler Art) eine ideale Integration aller Lebensbereiche darstellt“ (:90). Auch beim Bezug zu Depressionen unterschieden sich intrinsisch Religiöse von allen anderen Probanden, sie wiesen signifikant niedrigere Werte auf (:91). Einzuschränken sind die positiven Ergebnisse bei Personen mit niedriger Selbstkontrollüberzeugung, bei denen trotz intrinsischer Religiosität negative Effekte auf psychosoziale Kompetenz festzustellen waren (:92). Ob sich Religiosität oder Glaube posi- tiv in Bezug auf die Psychohygiene auswirkt und damit eindeutig als Resilienzfaktor be- trachtet werden kann, hängt demnach nicht allein vom Glaubensstil, sondern auch von der Persönlichkeitsstruktur, von der Erziehung und der individuellen Entwicklung ab (:93). Pargament & Cummings (2010) unterscheiden in ihrer Studie “Anchored by Faith – Religion as a Resilience Factor“ zwischen einem positiven (:199) und einem negativen religiösen Copingstil (:204). Geistig-geistliche Anstrengungen oder Kämpfe mit schädli- chem, drohenden Charakter wirken sich negativ aus, können Ängste auslösen oder die Er- holung von stressigen Ereignissen verhindern (:205). Diese “spiritual struggles” können zwischenmenschliche Ursachen haben,76 z. B. Streit über Lehrmeinungen, können intra- psychisch77 bedingt sein, z. B. durch Zweifel und persönlich ungelöste Glaubensfragen 76 “Interpersonal spiritual struggles” (Pargament & Cummings 2010:204). 77 “Intrapsychic struggle” (:204). 81 oder aber auf einer belasteten Gottesbeziehung78 beruhen, z. B. wenn sich Menschen be- nachteiligt, ungerecht behandelt oder durch einen Verlust oder eine Krankheit von Gott bestraft fühlen (:204). Durch diese Erkenntnisse betonen die Forscher, dass Glauben nicht einfach und nicht immer als Resilienzfaktor anzusehen ist. Demgegenüber stellen sie die resilienzbietenden Aspekte des positiven religiösen Copingstils heraus: Selbstwirksamkeit, Aktivität gegenüber Problemen, Sinnhaftigkeit des Lebens, einschließlich der Schwierig- keiten und soziale Unterstützung (:207).79 Mit krankmachenden Faktoren des Glaubens beschäftigen sich in Deutschland Utsch (2011), Pfeifer (2009) und Giesekus (2001). Zwingmann (2004) weist auf Studien hin, die belegen, „dass spirituelles/religiöses Engagement und spiritual well beiing mit zusammen- fassenden Indices der gesundheitsbezogenen Lebensqualität hoch korrelieren“ (:220). Spi- rituelle/religiöse Praktiken zeigen günstige Auswirkungen. Den Patienten steht ein kogniti- ver Bedeutungsrahmen zur Verfügung und die, „die in eine religiöse Gemeinschaft einge- bunden sind, können von vielfältigen Formen sozialer, emotionaler und spiritueller Unter- stützung profitieren“ (:221). In den Untersuchungen von Susanne Katja Zink (2011) zur Rolle von Religiosität, Bin- dung und Hoffnung für das menschliche Wohlbefinden wurde ein positiver Zusammen- hang zwischen Bindung, Hoffnung und Wohlbefinden sowohl bei Erwachsenen als auch bei Jugendlichen unterschiedlichen Milieus auch über Persönlichkeitsvariablen hinaus sichtbar (:116). „Religiosität zeigte diesen positiven Zusammenhang nur stichprobenspezi- fisch.“ (:116). Zink erklärt diese Einschränkung mit der fehlenden religiösen Sozialisierung in einer der Probandengruppen (Ostberlin). „Bindung zu Gott“ und „Gemeinschaft in der Gemeinde“ stellt sie als bedeutungsvolle Ressourcen heraus. „Das Eingebundensein in eine religiöse Gemeinschaft und der Glaube an einen guten Gott könnte helfen, das Wohlbefin- den zu fördern.“ (:116). Sie sieht darin Möglichkeiten der sozialen Unterstützung und der Überwindung von Isolation und Einsamkeit, die es stärker in der therapeutischen Arbeit mit Jugendlichen und Erwachsenen zu nutzen gilt (:116). Sebastian Murken (2002) betont bei seinen „Argumenten für einen positiven Zusam- menhang zwischen Religiosität und psychischer Gesundheit“ (siehe Anlagen, A16) eben- 78 “Divine struggle” (:204). 79 “However, religion is not simply a typical resilience factor. Whereas resilience is often conceived of as the maintenance of or return to normal functioning following a trauma, religiousness can be a catalyst for positive life changes and stress-related growth. Many religious individuals feel that their faith helps them use crisis as an opportunity to achieve highly valued outcomes, both secular and spiritual. However, reli- gions’s power for positive transformation is balanced by its potential for serious harm. Spiritual struggle can worsen the negative effects of stressful life events, decreasing quality of life and increasing negative affect” (:207). 82 falls den sozialen Bindungsaspekt (8. und 9.). Hervorzuheben ist bei seiner Auflistung auch das „Gefühl von Hoffnung, Sinn und Zweck“ (2.) und das „Vertrauen in die Sinnhaf- tigkeit“ (3.), die beide mit dem Kohärenzgefühl in Verbindung zu bringen sind (siehe Seite 70 dieser Arbeit). Der Schweizer Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie Samuel Pfeifer (2007) sieht „Glauben als Kraftquelle der Resilienz“80 „Die psychotherapeutische Erfahrung zeigt, dass Menschen mit einer tiefen Glaubens- beziehung zusätzliche Kräfte entwickeln. Für gläubige Menschen sind Optimismus, Hoffnung und Perspektive eingebettet in den Glauben. Ihr Selbstvertrauen wächst durch Gottvertrauen und Gebet. Das bewahrt sie nicht vor Zweifeln und Konflikten – aber gerade im Ringen mit Gott kann eine Resilienz erwachsen, die tiefer greift als jede oberflächliche psychologische Selbstsuggestion“ (:5). Den verschiedenen Beiträgen ist zu entnehmen, dass die positiven Aspekte in Bezug auf Glauben als Resilienzfaktor überwiegen, dennoch sind die Differenzierungen und Ein- schränkungen zu beachten. Negative, krankmachende Faktoren im persönlichen Glaubens- stil und/oder im Führungsstil einer Gemeinde sind besondere Herausforderungen für jeden Seelsorger und Therapeuten und nicht immer zu beheben. Hinzu kommt, dass eine religiö- se bzw. kirchliche Bindung nicht (mehr) selbstverständlich ist – auch bei der Generation „60 plus“ nicht (Frölich & Hedtmann 2013:9). 4.4 Resilienz in Entwicklungs- und Persönlichkeits- psychologie Untersuchte man früher in der entwicklungspsychologischen Forschung Risiken, entwick- lungsschädliche Einflüsse und Belastungen, so führte die Resilienzforschung zum Para- digmenwechsel. Faktoren für gelingende Entwicklung, für Erfüllung von Aufgaben, auch und trotz schwieriger Umstände, stehen jetzt im Mittelpunkt der Entwicklungspsychologie (Zink 2011:19). Die erfolgreiche Bewältigung altersspezifischer Entwicklungsaufgaben legt die Grundlagen für ein stabiles Kompetenzniveau. Wustmann Seiler (2012) stellt Bei- spiele für die wichtigsten Entwicklungsaufgaben vor. Altersstufe Entwicklungsaufgaben Frühe Kindheit Bindung an Bezugsperson(en) Sprachentwicklung Selbstkontrolle/Selbststeuerung (vor allem mo- torisch) Entwicklung von Autonomie 80 In einem Interview am 26.06.2013 sprach Pfeifer von seiner Krebserkrankung und dass er gelernt habe, dass sich auch in dieser Krise sein christlicher Glaube als tragfähig erwiesen habe. 83 Mittlere Kindheit Geschlechtsrollenidentifikatiion Entwicklung von Impulskontrolle Beziehung zu Gleichaltrigen (soziale Kompetenz) Anpassung an schulische Anforderungen (Lesen, Schreiben etc.) Jugendalter Identitätsentwicklung Gemeinschaft mit Gleichaltrigen/ Aufbau enger Freundschaften Internalisiertes moralisches Bewusstsein Schulische Leistungsfähigkeit Tabelle 3: Beispiele von Entwicklungsaufgaben im Kindes- und Jugendalter (Wustmann Seiler 2012:21) Bei der Erfüllung der Entwicklungsaufgaben sind Familienmitglieder und Gleichaltrige im positiven Fall entscheidende kontextuale Schutzfaktoren. Bei allen Resilienzprozessen ist zu beachten, dass es im kindlichen Entwicklungsverlauf Phasen erhöhter Vulnerabilität gibt, „z. B. zu Zeiten sozialer Entwicklungsübergänge (Transitionen), in denen Kinder besonders anfällig sind. […] Denn Transitionen sind mit zahlreichen neuen Entwicklungsaufgaben verbunden und stellen somit erhöhte Anforderungen an die Anpassungsfähigkeit von Kindern, beispielsweise beim Übergang vom Kindergar- ten in die Schule. [ …] Während dieser Phasen können Risikobedingungen eine stärke- re Wirkung auf das psychosoziale Funktionsniveau des Kindes ausüben“ (Wustmann Seiler 2012:30-31). Entwicklungsaufgaben beziehen sich nicht nur auf das Kindes- und Jugendalter. Erik Erikson stellt acht Stufen vor, die epigenetisch zu verstehen sind, d. h. ältere Stufen werden von den nachfolgenden nicht abgelöst, sondern ergänzt (Kuhl 2012:380). „Übersicht: Eriksons acht Stufen der Entwicklung des Selbst  Vertrauen vs. Misstrauen: (Säuglingsalter (erstes Lebensjahr)  Autonomie vs. Scham und Zweifel: Frühe Kindheit (2-3)  Initiative vs. Schuld: Vorschulalter (3-5)  Fleiß vs. Minderwertigkeit: Grundschulalter (6-11)  Identität vs. Rollenkonfusion: Jugendalter (12-20)  Persönliche Nähe vs. Isolation: Frühes Erwachsenenalter (ab 20)  Generativität vs. Stagnation: Erwachsenenalter (bis 60)  Ich-Integrität vs. Verzweiflung: Alter (ab 60)“ (zit. in Kuhl 2012:380). „Auf jeder Entwicklungsstufe ist eine psychische Basisfunktion zu lernen, deren Be- wältigung bzw. Beeinträchtigung durch charakteristische Emotionen angezeigt wird [siehe Übersicht]. Die Abhängigkeit späterer von der Bewältigung früherer Entwick- lungsaufgaben (d. h. ihr epigenetisches Verhältnis) ist empirisch gut bestätigt“ (:383). Die gute Botschaft, die von der Resilienzforschung aufgegriffen und betont wird, lautet, dass lebenslang Fähigkeiten zur Lebensbewältigung aktiviert oder erlernt werden können. 84 Lebenseinschnitte und Übergänge erfordern gleich den Transitionen im Kindes- und Ju- gendalter auch im Erwachsenenalter ein besonderes Bewältigungskonzept. Außer den normativen Übergangsperioden, z. B. Kinder verlassen das Elternhaus, Eintritt in den Ru- hestand, können „kritische Ereignisse“ auftreten, wobei nicht nur von negativen Wider- fahrnissen auszugehen ist, sondern alle Ereignisse gemeint sind, „die eine größere Lebens- veränderung nach sich ziehen“ (Horlacher 2000:456). Das kann beispielsweise der Umzug aus einer ländlichen Gegend in die Stadt oder umgekehrt und/oder ein Berufswechsel sein. Um im Alter ein „normales“ Leben aufrecht zu erhalten, bedarf es einer erhöhten Resilienz oder Widerstandsfähigkeit, besonders, wenn sich Belastungssituationen durch Verluster- fahrungen, Einschränkungen des Kräftehaushaltes und der Mobilität häufen. Nach Greve (2000) wird Resilienz im Alter „auch darin sichtbar, dass Menschen die Fähigkeit eines Verlustmanagements entwickeln“ (zit. in Wadenpohl 2008:83). Zufriedenheit und Wohlbefinden werden zum Indikator für die gelungene Bewältigung der zunehmenden Herausforderungen des Alterns. Mit einem reduzierten persönlichen Wohl- befinden müssen die Menschen rechnen, die nach den Stufen von Erikson die „Generativi- tät“81 (Stufe sieben) nicht entwickelt, sondern sich bis ins hohe Alter nur um die Befriedi- gung eigener Bedürfnisse („Stagnation“) gekümmert haben (Kuhl 2012:383). In der Berli- ner Altersstudie (Mayer & Baltes 1996) wurde die Bedeutung von “Traits” für die Bewäl- tigung von Belastungen und für die Lebenszufriedenheit und das Wohlbefinden im Alter untersucht (Kruse & Schmitt 2004:539). „Die Stabilität von Persönlichkeitsmerkmalen kann als eine Voraussetzung für die Ana- lyse der Bedeutung von Persönlichkeitsmerkmalen im Kontext von Modellen psycho- logischer Widerstandskraft oder Resilienz (Grazemy, 1991; Kruse & Schmitt, 2002a; Rutter, 1990; Staudinger et al., 1995) gelten, einem gerontologischen Forschungsge- biet, dem in den letzten Jahren besondere Aufmerksamkeit zuteil geworden ist“ (:539). Nach dem „Fünf-Faktoren-Modell der Persönlichkeit“82 nach Robert R. McCrae und Oli- ver P. John (1992) sind für die Resilienzfähigkeit einer Person die Grunddimensionen Ex- travertiertheit, Offenheit und Neurotizismus besonders interessant. Menschen mit hohen Neurotizismus-Werten neigen bei Stress- und Krisensituationen eher zur Ängstlichkeit und Depressivität, während extravertierte Menschen mit zahlreichen sozialen Kontakten, offen für neue Erfahrungen und risikobereit, einen stärkeren Zusammenhang zum Coping- 81 Generativität bedeutet, „die Zukunft der jüngeren Generation positiv zu beeinflussen (z. B. Wissen weiter zu geben, jungen Leuten bei der Etablierung einer wirtschaftlichen Existenz zu helfen etc.)“ – (Kuhl 2012:383). 82 “Five-Factor Model: Extraversion (E), Agreeableness (A), Conscientiousness (C), Neuroticism (N), Openness (O)” (McCrae & John 1992:178-179). 85 Verhalten und zu psychischer Gesundheit aufweisen und damit ein höheres Wohlbefinden festzustellen ist (Zink 2011:40). Diskutiert wird die Bedeutung des Selbstwertgefühls für die Resilienzentwicklung, das im „Fünf-Faktoren-Modell der Persönlichkeit“ im weitesten Sinne zu den Facetten der Extra- vertiertheit (activity, positive Emotions) und der Offenheit (actions, ideas) gehört (McCrae & John 1992:178-179). „Personen mit einem hohen Selbstwertempfinden können im Allgemeinen besser Prob- leme als Herausforderungen ansehen und erfolgreich in Angriff nehmen. Zugleich dürf- te ein hohes Selbstwertempfinden auch eine günstige Voraussetzung für die Mobilisie- rung oder auch nur die Akzeptanz von sozialer Unterstützung sein […]“ (Oerter & Montada 2008:924). Wie Lebensereignisse bewertet werden, ob sie zur aktiven Bewältigung herausfordern oder eher zu passivem Verhalten verleiten, hängt u. a. auch von „kognitiven Persönlichkeitsva- riablen“, von den „Kontroll-Überzeugungen“ ab, die vor allem aus der Forschung der Krankheitsbewältigung bekannt sind. „Dabei geht es um zwei polare Verhaltensweisen: Bei der internalen Kontrollüber- zeugung hat der Mensch das Gefühl, für sich und sein Geschick in Krankheit und Ge- sundheit zuständig und verantwortlich zu sein. Er erlebt sich als sein Schicksal beein- flussend. Bei der externalen Kontrollüberzeugung fühlt sich der Mensch passiv einem äußeren Schicksal ausgeliefert“ (Hoffmann & Hochapfel 2009:390). Die Art der Kontrollüberzeugung beeinflusst die Selbstwirksamkeit(serwartung), einen der wichtigen Schutzfaktoren der Resilienz im Erwachsenenalter. Bei der Untersuchung ist also darauf besonders zu achten. Es sind keine Persönlichkeitstests bei den Biografinnen vorgesehen, dennoch werden Persönlichkeitsmerkmale, Einstellungen, Bewältigungsme- thoden bei den Entwicklungen und Übergängen im Lebenslauf direkt oder indirekt bekannt und damit das persönliche Resilienzprofil sichtbar werden. 4.5 Co-Abhängigkeit als Thema der Resilienzforschung Bei der Erfassung der Merkmale von „Co-Abhängigkeit“ stellen besonders Köhler und Flassbeck auch positive Aspekte dar: „Teamfähige Leistungsbereitschaft“, „Soziale Orien- tierung“. „Dialogbereiter Intellekt“ (Köhler, Anlagen, A8), „ausgeprägte prosoziale Ein- stellungen und „liebenswürdige Persönlichkeitsmerkmale“ (Flassbeck 2012, Anlagen, A9). Bestätigt und differenziert werden diese Angaben durch Erfahrungsberichte Betroffener (Hinz 2012; Lambrou 2010). Besonders in dem „Genesungsbericht“ von Tamara Hinz sind die Kompetenzen und Stärken, die durch das Erleben im Umfeld der Alkoholabhängigkeit entwickelt wurden, verdeutlicht. 86 „Bewahren will ich mir das hohe Maß an Empathie, das ich in einer suchtkranken Fa- milie erworben habe. Durch Empathie schaffe ich Beziehung und Nähe zum anderen, bin sensibel für das, was der andere braucht und was ihm gut tut, und es fällt mir leich- ter als manch anderem, mich selbst und meine Bedürfnisse, da wo es angebracht ist, zu- rückzustecken“ (:37). „Bewahren will ich mir die echte Stärke, die durch das Erleben und Überwinden von tausenderlei Krisen gewachsen ist. In meinem Lebenskoffer trage ich neben allem Nichtbrauchbaren, das ich aussortieren musste, auch eine riesige Auswahl an guten und bewährten Bewältigungsstrategien für schwere Zeiten“(:38). „Bewahren will ich mir Reife und Verantwortungsbewusstsein, die verhindern, dass ich mich in brenzligen Situationen einfach verdrücke oder den Kopf in den Sand stecke. Bewahren will ich mir auch meine hohe Empfindsamkeit für Versagen und echte Schuld. Ich betrachte diese geistliche Sensibilität heute als ein besonderes Geschenk“ (:39). Sie verschweigt nicht, dass sie bis heute – nach einer Therapie – darauf achten muss, ein „Zuviel an Wahrnehmung des anderen und ein Zuwenig an Wahrnehmung ihrer selbst und ihrer Bedürfnisse“ zu vermeiden (:37). Auch „Kontrolle loszulassen“ (:38), „Verantwor- tung dort zu lassen, wo sie hingehört“, „zwischen echter Schuld und Schuldgefühlen zu unterscheiden“, gehören für sie immer noch zum Lernprozess dazu (:39). Der Blick auf die erworbenen Ressourcen und die Arbeit an den Defiziten tragen zur Resilienz bei. In der Resilienzforschung direkt ist das Thema „Co-Abhängigkeit“ nicht zu finden; ein empirischer Ansatz mit statistisch erfassbaren Daten und Kriterien liegt nach dem Kennt- nisstand der Verfasserin nicht vor. Indirekt werden aber bei der „Stress- und Krisenbewäl- tigung“ Problembereiche der Co-Abhängigkeit erfasst; in einigen Fällen ist die „Trauma- bewältigung“ einzubeziehen. Hildenbrand (2012) sieht in der Resilienzforschung die Ver- längerung der Stress-Coping-Forschung(:209). „Während sich die klassische Stressforschung auf kritische Lebensereignisse und Wir- kung von Stressoren, den ‚Daily Hassles‘, konzentriert und sich vornehmlich mit den Anpassungsprozessen und dem Wohlbefinden Erwachsener auseinander setzt, fokus- siert die Resilienzforschung auf längerfristige Risiken und beeinträchtigende Lebens- umstände[…]“ (Zink 2011:18). Für Bengel & Lyssenko (2012) gehören Stressoren zu den psychologischen Risikofaktoren der Resilienz („Kritische Lebensereignisse“, „Traumatische Ereignisse“, „Andauernde Stressoren“). - (:3). Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, dass das Zusammenleben mit einem alkoholabhängigen Partner einer kaum vergleichbaren, besonderen Art von Dauerstress gleichkommt, da die Wirkung der Droge Alkohol eine eigene Dynamik und Dramatik entwickeln kann. Zum Thema Krisenbewältigung liegen eine Reihe aktueller Monografien vor, deren Ti- tel bereits die Nähe zur Resilienzforschung aufzeigen, z. B. „Aus Krisen gestärkt hervor- gehen“ (Lukas 2013) oder „Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen“ (Pie- 87 per 2012).83 Die Frage, inwieweit diese Arbeiten zur Resilienzförderung co-abhängiger Frauen anwendbar sind, wird an den konkreten Beispielen zu prüfen sein. Mit traumati- schen Verletzungen während der Lebensläufe co-abhängiger Frauen ist in einigen Fällen zu rechnen (siehe Flassbeck 2010, Anlagen, A9). Hier sollte auf jeden Fall professionelle Therapie einbezogen werden (Hepp 2012; Roth 2012; Reddeman 2011). Seelsorge kann auch darin bestehen, zu einer solchen Therapie zu ermutigen und diese – wenn das ge- wünscht wird – zu begleiten. 4.6 Wege zur Resilienzförderung im Erwachsenenalter 4.6.1 Zehn-Schritte-Konzept von Samuel Pfeifer84 Samuel Pfeifer, inspiriert von der Lebensgeschichte von Natascha Kampusch, hat sehr früh die Bedeutung der Resilienzförderung in Therapie, Seelsorge und Beratung für Erwachse- ne erkannt. Seinem Konzept stellt er ein Motto aus dem Brief an die Hebräer voran: „Lau- fen mit Ausdauer“ (:1).85 1. „Pflegen Sie Beziehungen86 2. Krisen sind nicht unüberwindbar 3. Veränderung gehört zum Leben 4. Setzen Sie sich Ziele 5. Mutig handeln 6. Was kann ich aus der Situation lernen? 7. Trauen Sie sich etwas zu! 8. Bewahren Sie die richtige Perspektive! 9. Geben Sie die Hoffnung nicht auf! 10. Achten Sie auf sich selbst“ (Pfeifer 2007:2-5)! Für die co-abhängige Frau wird sehr wahrscheinlich der letzte Schritt der wichtigste sein. Wenn sie beschließt, etwas für sich selbst zu tun, kann der Mut wachsen, das Schweigen zu brechen, Hilfe zu suchen, Beziehungen zu pflegen (1.) und ein positives Selbstwertgefühl zu entwickeln (7.). Indem sie über die Gegenwart hinauszuschauen lernt (2.), wird sie im besten Fall auch Hoffnung auf bessere Zeiten zulassen (9.). 4.6.2 “The Road to Resilience” nach Bengel & Lyssenko Die zehn Punkte, die die Psychologen der Universität Freiburg nach der American Psycho- logical Association auflisten (2012:20, siehe Anlage, A17)), sind mit Ausnahme der sechs- 83 Siehe auch: „Von psychischen Krisen und Krankheiten, Resilienz und ‚Sollbruchstellen‘ “ (Borst 2012); „Resilienz, Krise und Krisenbewältigung“ (Hildenbrand 2012); Resilienz und Krisenkompetenz“ (Welter- Enderlin 2010). 84 Pfeifer (2007) weist darauf hin, dass die Schritte verschiedenen Quellen entspringen (:1). 85 Hebr 12, 1-3. Siehe auch „Hebräerbrief“, S. 79. 86 Hier betont Pfeifer, dass es Personen im Umfeld geben sollte, die einem Mut und Hoffnung zusprechen. 88 ten Empfehlung, inhaltlich identisch – wenn auch anders formuliert - mit den „Zehn Schrit- ten zu Resilienz“ nach Samuel Pfeifer (2007). „Suchen Sie nach Möglichkeiten, um ‚sich selbst zu finden‘ “ (6.)87 kann den Entschluss zum Handeln (5.). fördern und für die co- abhängige Frau den entscheidenden Richtungswechsel begründen. 4.6.3 Acht Schritte und acht Lehren nach Georg Pieper Der Psychologe und international anerkannte und bekannte Spezialist für Kriseninterven- tion und Traumatherapie88, Georg Pieper, (2012) stellt seine Erkenntnisse zur Resilienzför- derung in acht Schritten und acht Lehren zusammen. „1. Reden (:246). Lehre 1: Wir müssen über unsere Belastungen sprechen. Der An- spruch, alleine mit Erlebnissen zurechtzukommen, die uns erschüttert haben, überfor- dert uns und schadet uns psychisch. Wir brauchen den Austausch mit vertrauten Men- schen, um wichtige Entwicklungen im Leben zu besprechen, die uns stark beschäftigen, weil sie Korrekturen in unserer Orientierung erfordern (:248). 2. Keiner ist allein (:248). Lehre 2: Wenn wir es schaffen, soziale Kontakte aufzubau- en und zu pflegen, in denen es möglich und wünschenswert ist, über bedeutsame Din- ge, seelische Nöte und Probleme zu sprechen, verfügen wir über einen wirkungsvollen Schutzschild gegen die Gefahr, durch eine Krise überfordert und aus der Bahn gewor- fen zu werden (:250). 3. An die eigene Stärke glauben (:250). Lehre 3: Die in jedem von uns liegenden ver- borgenen Stärken können wir nur dann aktivieren, wenn wir an deren Existenz glauben, auch wenn wir momentan keinen Zugang dazu haben (:252). 4. Leben im Hier und Jetzt (:252). Lehre 4: Wer sich darin übt, achtsam im Hier und Jetzt zu leben, entdeckt den Wert der kleinen Dinge und die Kostbarkeit der Normalität. Bei plötzlicher Belastung kann diese Haltung zu einem Schutzschild werden (:256). 5. Alles hat ein Ende, auch die Krise (:258). Lehre 5: Bessere Chancen, eine Krise zu überwinden, haben wir dann, wenn wir uns von der Hoffnung leiten lassen, dass es ei- nen positiven Ausgang gibt.[ …] Auch wenn wir im Moment kein Licht am Ende des Tunnels sehen und nur mit Niederlagen, Ärgernissen und Verlusten konfrontiert sind, hilft der Gedanke an ein letztlich gutes Ende dabei, interne positive Kräfte zu mobili- sieren. Diese können dazu beitragen, dass wir auch alles für einen positiven Ausgang tun. Den Prozess können wir weiter optimieren, wenn wir uns vorstellen, dass wir aus Niederlagen und Fehlern lernen werden – und so nicht nur die aktuelle, sondern auch nachfolgende Krisen erfolgreich hinter uns bringen werden (:258). 6. Realistische Ziele entwickeln (:258). Lehre 6: Wer es schafft, kleine Ziele nachei- nander anzugehen, sieht seine Erfolge und kann sich daran aufrichten. So wird Kraft frei, sich auch an höhere Hürden heranzuwagen, die eben noch unüberwindbar schienen (:260). 7. Neue Prioritäten setzen (:260). Lehre 7: Wenn wir unsere Prioritäten auf die Ge- genwart und die kleinen Dinge ausrichten, leben wir intensiver und reicher. Ärgernisse und Krisen kann man so gelassener sehen, weil sie weniger bedeutungsvoll sind (:262). 8. Der erste Schritt (:263). Lehre 8: Viele Menschen neigen in Krisensituationen eher dazu, zu klagen als zu handeln. […] Wir können uns darin üben, die Initiative zu er- 87 Bei Pfeifer (2007) heißt dieser Schritt: „Mutig Handeln“ (siehe Kap. 4.7.1). 88 Er betreute (u.a.) Opfer, Angehörige und Einsatzkräfte nach dem Grubenunglück in Borken, dem ICE- Unglück von Eschede oder den Amokläufen in Meißen und Erfurt. 89 greifen und planvoll vorzugehen. Der erste Schritt besteht darin, aus Stimmungen wie planloser Hektik oder depressiver Passivität herauszukommen und sich anderen Men- schen zu öffnen“ (:264). In diesen Lehren sind die Empfehlungen von Pfeifer, Bengel und Lyssenko enthalten. Wieder anders formuliert, sind aber besonders die motivierenden Kommentare hilfreich. 4.6.4 Sieben Schlüssel für mehr innere Stärke nach Jutta Heller Mit Hilfe von sieben Resilienzfaktoren sollen Orientierungs- und Handlungsmuster entwi- ckelt werden, die das psychische Immunsystem, auch Resilienz genannt, stärken.  „Akzeptanz: Nehmen sie an, was geschieht. Es ist, wie es ist.  Optimismus: Vertrauen Sie darauf, dass es besser wird.  Selbstwirksamkeit: Achten Sie auf Ihre eigenen Bedürfnisse. Entscheiden Sie sich und gehen Sie Ihren Weg.  Verantwortung: Verlassen Sie die Opferrolle. Übernehmen Sie Verantwortung und respektieren Sie Ihre (Leistungs-)Grenzen.  Netzwerkorientierung: Trauen Sie sich, andere um Hilfe zu bitten und Hilfe anzunehmen.  Lösungsorientierung: Gehen Sie die Dinge an, werden Sie aktiv. Entdecken Sie die Wünsche für Ihr Le- ben.  Zukunftsorientierung: Planen Sie Ihr Leben, sorgen Sie für die Realisierung Ihrer Pläne“ (2013:3). Die inhaltlichen Entsprechungen mit den bereits vorgestellten Resilienzförderungsempfeh- lungen sind augenfällig. Jutta Heller stellt unter diesen sieben Leitthemen zahlreiche Selbst-Check-Analysebögen und Übungen zur aktiven Gestaltung und Stärkung vor. Die Untergliederungen veranschaulichen, konkretisieren und differenzieren und sind für die Praktizierung sehr wichtig. Anzunehmen ist aber, dass dieses anspruchsvolle Selbsthilfe- programm mit Trainingselementen aus dem Repertoire der Neurolinguistischen Psycholo- gie (NLP) die meisten der co-abhängigen Frauen überfordern würde, so dass es eher als Hilfe und Anregung für Therapeuten, Suchtberater und Seelsorger verstanden werden kann. 4.6.5 „Wie Phönix aus der Asche – aus Krisen gestärkt hervorge- hen“ – 10 Empfehlungen von Elisabeth Lukas Die bekannte Schülerin von Viktor E. Frankl, dem Begründer der Logotherapie und Exis- tenzanalyse, leitet nach Auszügen aus Frankls Autobiografie zehn Empfehlungen für die Resilienzförderung (2013) ab. 90  Verbünden Sie sich mit denen, denen es so geht wie Ihnen. Sie wissen, wie es um Sie steht, und das tut Ihnen gut (:141-142).  Nicht vorzeitig aufgeben (:142.143).  Kleine Lichtblicke schaffen! (:143-144).  Lenken sie Ihre Konzentration, wohin Sie sie haben wollen! (:145-146).  Es gibt Erlösung durch die Liebe und in der Liebe! (146-147).  Lassen Sie sich nicht durch Reaktionen anderer zu negativen Gedanken provo- zieren. Sie bestimmen, was Sie tun. Lassen Sie sich nicht fremd-bestimmen (:147-148).  „Skizzieren Sie Ihre Krise aus einer höheren Warte, und es werden sich alle Ob- sessionen verlieren“ (:149).  „Wenn Sie .. Zuspruch und Ermutigung vermissen, dann mausern Sie sich vom wartenden Empfänger zum aktiven Spender. Sie werden um eine angenehme Erfahrung reicher werden“ (:150).  Dankbarkeit hat Heilkraft (150-152). „Ein kleines Dankgebet an jedem Abend und eine kurze Verneigung beim mor- gendlichen Aufstehen – und schon ist Resilienz gesät, um sie im Notfall ernten zu können“(:111).  „Gekrönt wird aber all dieses Erleben des heimfindenden Menschen von dem köstlichen Gefühl, nach all dem Erlittenen nichts mehr auf der Welt fürchten müssen – außer seinen Gott“ ( Schlusswort von Frankl:152).  „Sollten Sie selbst eines Tages aus schweren Lebenskrisen gestärkt hervorge- hen, werden vielleicht auch Sie feststellen, dass Ihre Ängste vor irdischen Wid- rigkeiten einer grenzenlosen Ehrfurcht vor dem Herrn gewichen sind. Wer sich aus der Asche erhebt, fliegt himmelwärts“ (:152). Elisabeth Lukas bezieht in ihre Empfehlungen direkt geistliche Aspekte mit ein. Neben bekannten Hinweisen, z. B. auf das soziale Netz und das gute Sorgen für sich selbst, ver- weist sie beim Beziehungsaspekt nicht nur auf die mitmenschliche Ebene, sondern auch auf die Beziehung zwischen Mensch und Gott ( Herbst 2012; Seitz 2011; Eschmann 2009). Heilendes durch Dankbarkeit oder durch Vergebungsbereitschaft zu erfahren, sind bereits seelsorgerliche Anliegen. 4.7 Schlussfolgerungen für die Untersuchung und Zusammenfassung Der Paradigmenwechsel von der Pathogenese zur Salutogenese zieht sich wie ein roter Faden durch alle Bereiche der Medizin, der Entwicklungs- und Persönlichkeitspsy- chologie, der Pädagogik, der Seelsorge und Beratung. Festzuhalten ist, dass der Patho- genese hohe Verdienste zukommen, denn ohne die wertvollen Erkenntnisse über Krank- heits- und Stressursachen, über schädliche Einflüsse auf Entwicklung und Persönlichkeit wäre die neue Forschungsrichtung nicht möglich gewesen. War Resilienzforschung zunächst schwerpunktartig auf das Kindes- und Jugendalter beschränkt, so zeigen nicht zuletzt die vielen aktuellen Beiträge ( Lukas 2013; Bengel & 91 Lyssenko 2012; Pieper 2012), dass Resilienz und deren Förderung für Erwachsene ent- deckt wurde, auch und besonders als Anliegen der Gerontologieforschung. Im Zusammen- hang damit wuchs seit den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts das Interesse an Biogra- fiearbeit und an Lebensrückblicksverfahren (Kast 2010:152). Die mutmachende Entde- ckung, dass Resilienz zeitlebens erlernbar ist bzw. aktiviert und gefördert werden kann, hat verschiedene Programme hervorgebracht. Christlicher Glaube spielt eine wichtige Rolle, ist aber differenziert zu betrachten. Inwieweit die empirisch gesicherten Risiko- und Schutzfaktoren (Wustmann Seiler 2012; Bengel & Lyssenko 2012) in den Lebenserzäh- lungen der co-abhängigen Frauen zu entdecken oder andere zu beobachten sein werden, bleibt abzuwarten. Bei den Wegen zur Resilienzförderung sind die Ansätze von Pfeifer und Lukas Resilienz hervorzuheben, da sie auch geistliche Impulse beinhalten. Lyssenko & Bengel erwähnen „Religiosität“ bei den kognitiven Schutzfaktoren für Erwachsene. Gutes Sorgen für sich selbst – in unterschiedlichen Formulierungen – ist bei den fünf vorgestell- ten Beiträgen zu finden. Soziale Kontakte, Beziehungspflege oder Netzwerkorientierung werden auch von allen Autoren als resilienzfördernd herausgestellt. Die Aufforderung von Georg Pieper: „Reden“, ist für co-abhängige Frauen besonders wichtig, da das Schweigen, Verschleiern und Verstecken zu den eingefahrenen Verhaltensweisen gehören. Der Rat von Elisabeth Lukas“: Verbünden Sie sich mit denen, denen es so geht wie Ihnen. Sie wis- sen, wie es um Sie steht, und das tut Ihnen gut“, liest sich wie eine Empfehlung zur Teil- nahme an einer Selbsthilfegruppe. Diese resilienzfördernden Faktoren können unmittelbar in Zusammenhang mit der Forschungsfrage: „Welche Resilienzansätze sind aus den narra- tiven Interviews zu erschließen, um zur persönlichen Förderung in der seelsorgerlichen Begleitung beizutragen?“ gebracht werden. Auf Einschneidungen und Lebensübergänge ist in den narrativen Interviews besonders zu achten, ebenso auf die Familienatmosphäre der Herkunftsfamilie und der gegenwärtigen Familie. Die Rolle der Eltern ggf. der Geschwister, der Schulkameraden, der Kontakt zu Persönlichkeiten außerhalb der Familie (Jugendleiter, Lehrer, Pfarrer,…) können bedeut- sam sein. In der Regel wird ausführlich über sie berichtet; sie können aber auch in der Nachfragephase erfahren werden. Entscheidend sind die individuellen Lebensumstände der Biografin. Für eine berufstätige, kinderlose Frau, die mit einem alkoholabhängigen Mann oder Partner zusammenlebt, ergibt sich ein anderes Risiko-Schutzfaktoren-Profil als für eine Hausfrau und Mutter mehrerer Kinder. Eine genauere Erfassung von Persönlichkeits- merkmalen erfordert einen Persönlichkeitstest, durch narrative Interviews sind sie nur indi- rekt zu ermitteln. Für die Schlussfolgerungen in Bezug auf seelsorgerliche Möglichkeiten 92 werden die ganz individuellen Aspekte, aber auch die, die sich allgemein aus der Situation der Co-Abhängigkeit ergeben, zu beachten und zu unterscheiden sein. Falls Glaubensstil und Zugehörigkeit zu einer christlichen Gemeinde sich nicht aus den Lebenserzählungen erschließen lassen, empfiehlt Dieterich (2010) dies in einem zusätzlichen Gespräch zu klä- ren und mit einer Einschätzskala zu arbeiten, bei der Nähe oder Distanz zu Gott eingeord- net werden kann.89 Die Bereitschaft, ein narratives Interview zu geben, kann nicht hoch genug wertge- schätzt werden, da die Verabredungen Zeit- und Kraftaufwand und damit zusätzlichen Stress bedeuten. Zu hoffen ist, dass die Motivation, einen Beitrag zu leisten, um ggf. in Zukunft anderen Leidensgenossinnen zu helfen, hoch genug sein wird, um sich dieser Her- ausforderung zu stellen. Zu hoffen ist außerdem, dass den Biografinnen selbst ihr Einsatz zum Gewinn wird. 89 a) Menschen verhalten sich gleichgültig gegenüber Gott. b) Menschen mit diffusen Gottesvorstellungen c) Menschen mit einem traditionell christlichen Glauben d) Menschen, die den christlichen Glauben ganzheitlich leben (Dieterich 2010:44f). 93 5 Empirische Forschung 5.1 Forschungsdesign 5.1.1 Qualitative Sozialforschung Im Hinblick auf die Forschungsfrage: „Welche Resilienzansätze sind aus den narrativen Interviews zu erschließen, um zur persönlichen Förderung in der seelsorgerlichen Beglei- tung beizutragen?“ fiel die Entscheidung für die qualitative Sozialforschung. In der quanti- tativen Sozialforschung würde, z. B. die Datenerhebung anhand standardisierter Befragun- gen notwendig sein, bei der aber der Prozesscharakter einer im Lebenslauf immer wieder notwendigen Auseinandersetzung mit Einschnitten, Übergängen und krisenhaften Ereig- nissen schwerer zu erfassen sein dürfte und die Datenanalyse und –auswertung nur mit Analysegruppen zu bewältigen wäre. Zu den Designs der qualitativen Analyse gehören die Retrospektiven Studien (Flick 2012:172), die für die Biografieforschung relevant sind. „Biographische Forschung ist exemplarisch für ein retrospektives Forschungsdesign, in dem rückblickend vom Zeitpunkt der Forschung bestimmte Ereignisse und Prozesse in seiner Bedeutung für individuelle oder kollektive Lebensläufe analysiert werden“ (:180). 5.1.2 Grundannahmen und Prinzipien der interpretativen Sozialforschung In Abgrenzung zu den Naturwissenschaftlern untersuchen Sozialwissenschaftler nach Alf- red Schütz eine bereits interpretierte Welt mit Sinn-, Bedeutungs- und Relevanzstrukturen. „Es sind vier ‚Strukturverhältnisse‘, die für Schütz den ‚sinnhaften Aufbau der sozialen Welt‘ kennzeichnen: die soziale Strukturierung der Lebenswelt, die zeitlich-räumliche Aufschichtung der Lebenswelt, die Strukturierung des Wissens nach Vertrautheitsgra- den sowie die Strukturierung durch Relevanztypen“ (Endreß 2012:108). Schütz & Luckmann (2003) unterscheiden bei der sozialen Struktur der Lebenswelt des Alltags die soziale Umwelt (Vorhandensein anderer Menschen), die soziale Mitwelt (Be- ziehung zu Mitmenschen), die Vorwelt (Geschichte, Generationen) und die Nachwelt (Welt der Nachkommen) (:98). Herauszustellen für die Biografieforschung ist das „Ele- ment der unabänderlichen Geschichtlichkeit der Situation des Einzeldaseins“ (:142). „Die Geschichtlichkeit der Situation ist dem einzelnen auferlegt; sie ist eine onto- logische Rahmenbedingung des Daseins. Die relativ-natürliche Weltanschauung bzw. die in ihr enthaltenen sozialen Kategorien biographischer Artikulation werden dagegen vom einzelnen als etwas in der Lebenswelt zu Bewältigendes erfahren.“ (:142). Als wichtige Erkenntnis nach der Betrachtung der räumlich-zeitlichen Aufschichtung der Lebenswelt formuliert Schütz für die „biographische Artikulation“: 94 „Der wichtigste und absolut einzigartige autobiographische Aspekt […] ist die Abfolge der Erfahrungen in meiner inneren Dauer. Da jede Situation und jede Erfahrung einen Vergangenheitshorizont hat, ist jede aktuelle Situation und jede Erfahrung von der Ein- zigartigkeit der Erfahrungsabfolge, der Autobiographie, notwendig mitbestimmt. Es ist von größter Bedeutung, in welcher Abfolge sich die Erfahrungen aneinanderreihen, und es ist korrelativ von größter Bedeutung, an welcher ‚Stelle‘ des Lebenslaufs bestimmte Erfahrungen auftreten“ (:97). „Für die Strukturierung des Wissensvorrats eines Handelnden unterscheidet Schütz nach der objektiven Ungleichverteilung des Wissens und ihrer subjektiven Korrelate auch verschiedene ‚Vertrautheitsgrade‘. Für letztere ist die Differenzierung in ‚Be- kanntheitswissen‘ und ‚Vertrautheitswissen‘, ‚Dimensionen bloßen Glaubens‘ und das ‚Unbekannte‘ leitend“ (Enreß 2012:112). Neben der Routine im Wissensvorrat (Fertigkeiten, Gebrauchswissen, Rezeptwissen) spielt für Schütz (2003) die „biographische Prägung des Wissensvorrats“ eine große Rolle: „Nicht nur hat jede individuelle Erfahrung ihre Vorgeschichte; es ist auch jede ge- genwärtige Situation innerhalb ihrer ‚gewußten‘ Begrenztheit, biographisch artikuliert: als Bereich des für mich jetzt Möglichen und zu Bewältigenden. In diesem Sinn bildet die biographische Prägung der gegenwärtigen Situation ein Element meines Wissens- vorrats“ (:163). Bei der Beschreibung des Verhaltens in der Lebenswelt des Alltags stellt Schütz drei Ty- pen von Relevanzen vor: 1. „Thematische Relevanz a) Erzwungene Aufmerksamkeit b) Freiwillige Zuwendung c) Hypothetische Relevanz 2. Interpretationsrelevanz a) Routinemäßige Deckung zwischen Thema und Wissenselementen b) Problemauslegung 3. Motivationsrelevanz a) Der Entwurf des Handelns90 b) Die biographische Bedingtheit der Einstellung.“91 (:258-295) Schütz weist auf die Verflochtenheit der Relevanzstrukturen beim Erfahrungsablauf hin und dass keinem der Relevanztypen eine Priorität zukomme (:305 f). Subjektive Relevanz- systeme sind biografisch ausgeprägt. „Sie sind der ‚einzigartige‘ Besitz des einzelnen, und wenn sich der einzelne seinen eigenen Relevanzen zuwendet, erscheinen sie ihm in dieser ‚Einzigartigkeit‘“ (:354). Für Gabriele Rosenthal (2011) gehören zur methodischen Erfassung der sozialen Wirk- lichkeit „das Prinzip der Offenheit“ und „das Prinzip der Kommunikation“ (:38). Bereits die Erhebungssituation in dieser Arbeit „das narrative Interview“ ist eingebettet in einen 90 „Motivation im Um-zu-Zusammenhang“ (:286). 91 „Motivation im Weil-Zusammenhang“ (:295). 95 Kommunikationsprozess. Eine offene Forschungsfrage mit Möglichkeiten der Modifikati- on, der Verzicht auf hypothesengeleitete Datengewinnung im Vorfeld, d h. es wird nicht von Hypothesen ausgegangen und das Zurückstellen von theoretischen Strukturierungen gehören zum „Prinzip der Offenheit“(:54 f). Diese Prinzipien und auch die Erkenntnisse von Alfred Schütz92, besonders hinsichtlich der unterschiedlichen Wechselwirkungen zwi- schen Individuum und Gesellschaft und in Bezug auf die Geschichtlichkeit biografischer Prozesse werden nach wie vor grundlegend in der interpretativen Sozialforschung berück- sichtigt. 5.1.3 Biografieforschung Ausgehend von Sigmund Freuds Interesse an individuellen Lebensgeschichten und seiner Psychoanalyse rückte das Thema Biografie in den Fokus sozialwissenschaftlicher Studien, zunächst nur in der Psychologie (Kurt Lewin, Hans Thomae), später auch in der Soziolo- gie, in den Erziehungswissenschaften und in der Theologie (Schulze 2010:569). Als eigen- ständige Richtung entstand die Biografieforschung in den Jahren 1918-1920 nach Studien des Polen Florian Zaniecki und des Amerikaners William Thomas an der „Chicago School“ ( Schulze 2010:570; Klein 1994:81). Biografische Dokumente wurden herangezo- gen, um herauszufinden, „wie Menschen aktiv als Subjekte und nicht als Forschungsobjek- te ihre Alltagswelt erleben, deuten und gestalten“ (Schulze 2010:570). Diese Einzelfallstu- dien gerieten durch das Interesse an makrosoziologischen Fragestellungen bis etwa 1970 wieder in den Hintergrund. Die Sichtweise in der Soziologie änderte sich erneut, indem die interpretative Sozialfor- schung „den Zugang Einzelner zur sozialen Wirklichkeit“ betonte (:571). „Die 1970er Jahre brachten in der Soziologie eine Rückbesinnung auf die Forschungs- tradition der Chicago School und legten einen zentralen, aber nicht explizierten Grund- gedanken neu auf: weg von der Vorstellung von einem Individuum, das sich traditio- nellen Vorgaben konform entwickelt und hin zu einem Verständnis moderner Gesell- schaft, die sich sozialgeschichtlich z. B. durch Industrialisierung, Migration, Verstädte- rung und Individualisierung verändert und ohne individuelle Initiative und Entschei- dungsfreudigkeit nicht funktioniert. Die biografische Methode, mit ihrem Kerngedan- ken, man könne über die subjektive Perspektive von Menschen und Gruppen soziale Prozesse klären, und ‚jegliche Sozialforschung, die die Perspektive von Individuen und Teilgruppen berücksichtigt – ist insofern der Grundstruktur der modernen Gesellschaft angemessen‘ [...]“ ( Schulze 2010:572). In den Erziehungswissenschaften wurde die Biografieforschung durch das Erkennen und Initiieren von Lernprozessen bedeutsam (Miethe 2011:76). Als Antwort auf das „Alltags- 92 Alfred Schütz starb 1959. In seiner Tradition arbeitet Thomas Luckmann weiter (Rosenthal 2011:39). 96 defizit“ (Hauschildt 2000:68) wandte man sich auch in der Theologie der Biografiefor- schung zu (Klein 1994:103). Die Verknüpfung zwischen Resilienz und Biografieforschung ist naheliegend, da es sich bei Resilienz um ein „Handlungspotential handelt, das in einen lebensgeschichtlichlichen und familienge- schichtlichen, d. h. in einen interaktiven Prozess alltäglicher und professioneller Be- gegnung eingebettet ist. […] Ziel einer konstruktiven Analyse ist, zu verstehen, welche Bedeutung Krisen und Lebensereignisse in der Vergangenheit hatten und welche Be- deutung ihnen heute zugeschrieben und wie sie im Laufe des Lebens reinterpretiert werden“ (Schulze 2007:218). Gerade die „Perspektive der individuellen Sinn- und Bedeutungserzeugung, die direkt zum Ansatz moderner Biographieforschung führt“, ist es, die für die Resilienzforschung sehr wichtig ist (Marotzki 2012:180). „Die konkrete Erfahrungswelt der Menschen wird als eigenständiger Sinnzusammen- hang für Kreativitäts- und Problemlösungsprozesse systematisch berücksichtigt und aufgenommen“ (:186). Verschiedene Ansätze oder Schwerpunkte in der Biografieforschung ergeben sich durch ihren Einsatz in Psychotherapie, Seelsorge und Beratung, in Soziologie, Ethnologie oder in den Erziehungswissenschaften. Außerdem unterscheiden sie sich durch verschiede- ne Datenerhebungs- und Analyseverfahren. Zu unterscheiden ist auch Biografieforschung von Biografiearbeit, bei der die Menschen selbst, ihre Selbsterkenntnis und Weiterentwick- lung, das biografische Verstehen im Mittelpunk stehen (Miethe 2011:25). Die vorliegende Arbeit ist ein Beitrag zur Biografieforschung, bei der transkribierte Interviews ausgewertet werden, ohne direkten Bezug zu den Biografinnen, die ihre Lebensgeschichte erzählt ha- ben. Die Erkenntnisse sollen für Seelsorge und Beratung genutzt werden, da ist das biogra- fische Arbeiten eingeschlossen. Für die Praktische Theologie sind die Methoden der Biografieforschung zu einem wichtigen Instrumentarium geworden. Zum einen hat jeder Pfarrer, Seelsorger oder Le- bensberater bei Gesprächen mit der Lebensgeschichte des ratsuchenden Gegenübers zu tun bzw. mit einem Teilstück davon. Erkenntnisse und diagnostische Möglichkeiten der Bio- grafieforschung zu kennen und zu nutzen, kann nur von Vorteil sein. Zum anderen werden über Biografien veränderte gesellschaftliche Entwicklungen erkennbar, die zur Verbesse- rung des Wirklichkeitsverständnisses in der Praktischen Theologie beitragen können. 5.1.4 Erleben-Erinnern-Erzählen Bei den Biografieforschern besteht Einigkeit darin, dass die lebensgeschichtliche Erzäh- lung nicht kongruent ist mit dem realen Lebensablauf. Es wird immer eine Differenz geben 97 zwischen dem Leben „an sich“ und dem, was davon in einer bestimmten Situation darge- boten wird. Die Erzählung ist demnach niemals eine direkte Verbalisierung der Erinnerung von Erlebnissen und Erfahrungen. Zurückzuführen sind diese Erkenntnisse auf die Arbei- ten von Alfred Schütz.93 Er unterscheidet zwei Ebenen des Bewusstseins: „Die eine Ebene ist die des einfachen Dahinlebens im Erleben; die zweite ist die der reflexiven Zuwendung zu diesem Leben in der Erinnerung“ (Klein 1994:116). „Erst wenn ich wohlumschriebene Erlebnisse, also Erfahrungen, über ihre Aktualität hinaus reflexiv erfasse, werden sie erinnerungsfähig, auf ihre Konstitution hin befrag- bar, sinnvoll“ (Schütz & Luckmann 2003:449). „Erlebnisse heben sich vom Bewußtseinsstrom ab; Erfahrungen sind durch Aufmerk- samkeit ausgezeichnete Erlebnisse; manche Erfahrungen werden durch reflektierte Be- wußtseinsleistungen, welche die Erfahrung zu etwas anderem in Beziehung setzen, sinnvoll“ (: 450). Von einem wechselseitigen Konstitutionsprozess zwischen Erleben, Erinnern und Erzäh- len, zwischen Erinnern und Deuten ist auszugehen (Rosenthal 1995:87). Die gestalttheore- tische Sichtweise von Gedächtnisprozessen, die für Gabriele Rosenthal maßgeblich ist, richtet sich gegen die Speicherkonzeption und gegen die Netzwerktheorie, die von sum- menhaften Einheiten im Gedächtnis und einem Subjekt ausgeht, das diesem Netzwerk un- terliegt (:74). Nach Aaron Gurwitsch soll vielmehr „die Beziehung zwischen mehr oder weniger gestalteten Erinnerungseinheiten und den Gestaltgebungsprozessen in der Gegen- wart des Erinnerns und – durch Interaktion mit anderen –gestaltbildenden Kommunizierens als dialektisch“ verstanden werden (:74). Die erzählte Geschichte kann sowohl mehr als auch weniger der der Person zur Verfügung stehenden Erinnerungs-Inhalte aufweisen. „1. Es wird nicht alles erzählt, woran sich der Erzähler oder die Erzählerin erinnert. 2. Es werden Bestandteile in die Erzählung miteinbezogen, die nicht zum Erinne- rungsnoema des Erlebnisses gehören. Neben Bestandteilen von anderen Erinnerun- gen oder theoretisch-argumentativen Ausführungen, können auch Fremderzählun- gen in die Geschichte eingeflochten werden, d.h. solche Erzählungen, die nicht auf eigenen Erlebnissen, sondern auf Erzählungen anderer beruhen“ (:90). Zu den Auslassungen können ganz private Erlebnisse gehören, die nicht mitteilbar sind (Schütz & Luckmann 2003:96). Es kann auch sein, dass traumatische Verletzungen erst nach einer Vertrauensvertiefung zwischen Biograf und Interviewer zur Sprache kommen. Nach Gabriele Rosenthal sind besonders „biographische Wendepunkte“ zu beachten, die 93 „Schütz steht in der Tradition philosophischer Überlegungen von Edmund Husserl, Henri Bergson und Alfred North Whitehead, die er für die Sozialwissenschaften fruchtbar macht, sowie des symbolischen In- teraktionismus von George Herbert Mead“ (Klein 1994:116). 98 eine veränderte Re-interpretation der Vergangenheit, der Gegenwart und des Zukunftshori- zontes bewirken. „Drei Typen von Wendepunkten lassen sich unterscheiden:  entwicklungspsychologisch relevante Wendepunkte,  Statusübergänge, d. h. sozial typisierte Wendepunkte,  Interpretationspunkte, d. h. als tiefe Einschnitte erlebte Wendepunkte“ (Rosenthal 1995:134). Die Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe oder eine Therapieerfahrung führen, z. B. bei co- abhängigen Frauen in der Regel zur Veränderung der Sicht auf das vorher Erlebte, zu einer Re-interpretation der Lebensgeschichte oder Teilabschnitten davon. Stephanie Klein (1994) fasst das Verhältnis von Erleben, Erinnern und Erzählen in folgender Erklärung zusammen: „Die Erzählung der Lebensgeschichte ist eine Handlung, mit der eine intentionale Ab- sicht und ein subjektiver Sinn verbunden sind. Sie wird, wie jede Handlung, aus dem Gesamtzusammenhang der Erfahrung heraus im Vorgriff auf die Zukunft konstruiert. Sie bringt deshalb diesen Gesamtzusammenhang zum Ausdruck; aus ihm kann sich das erzählende Ich nicht herauslösen. Sogar das Verschweigen oder bewußte Verfälschun- gen von Erinnerungen gehört selbst noch einmal in diesen Gesamtzusammenhang der Erfahrung. In der lebensgeschichtlichen Erzählung kommen zwar nicht alle, aber die subjektiv bedeutsamen Ereignisse des Lebens in ihrer subjektiven Wahrnehmung und Deutung oder zumindest als Struktur in ihren lebensgeschichtlichen Folgen zum Aus- druck“ (:123). Bei der Analyse werden demnach der „Gestaltungsprozess bei der Präsentation und die Gestaltetheit der temporalen und thematischen Verknüpfungen von Erlebnissen“ zu beach- ten sein (Rosenthal 1995:23). 5.1.5 Narratives Interview Das narrative (erzählende) Interview wurde anknüpfend an Forschungsarbeiten der Chica- go School von Fritz Schütze (1983) entwickelt und ist eine Technik, die in der Biografie- forschung häufig angewandt wird (Bohnsack 2010:91). Es geht bei den narrativen Inter- views weder um die Erforschung von Meinungen und Einstellungen noch um spezifische Reaktionen, sondern um Erlebnisse und Epochen aus der Lebensgeschichte (Bortz & Dö- ring 2006:317). Zu unterscheiden sind die erzähltheoretischen von den biografietheoretischen Grundlagen des narrativen Interviews. Kategorien im Bereich der Erzähltheorie „geben Auskunft über die Struktur, über den formalen Aufbau von Erzählungen, unabhängig von deren empirisch sehr unterschiedlichen Inhalten“ (Bohnsack 2010:92). Kategorien im Bereich der Bio- graphietheorie zeigen Zugänge auf „zum formalen Aufbau biographisch relevanter All- 99 tagserfahrung, zu den ‚Prozeßstrukturen des Lebenslaufs‘ (Schütze 1981) und der daraus resultierenden Identitätsbildung bzw. Habitusinformation des Erzählers“ (:92). Die Pro- zessstrukturen können in Verlaufskurven aufgezeichnet, die ‚autobiographischen Themati- sierungen‘ durch die Wertung der Biografen selbst in einer ‚Wissensanalyse‘ festgehalten werden (:98). In einer Stegreiferzählung, in der die Biografen neben Erlebnissen auch Bewertungen aus gegenwärtiger Sicht mit einbringen, wird unreflektiert mehr, anderes oder an anderer Stelle erzählt als ursprünglich beabsichtigt. „Befragte, die frei erzählen, geben hierbei gegebenenfalls auch Gedanken und Er- innerungen preis, die sie auf direkte Fragen nicht äußern können oder wollen. Erklärt wird dies aus den ‚Zugzwängen‘ des Erzählens“ (Hopf 2012:357). Nach Kallmeyer/Schütze (1976 und 1977) gehören zu den „Zugzwängen des Erzäh- lens“:  Gestaltschließungszwang Intuitives Wissen über den Aufbau einer Erzählung  Relevanzfestlegungs- und Kondensierungszwang Entscheidung, das Wesentliche in den Vordergrund zu stellen  Detaillierungszwang Erzählen von Einzelheiten, um Erlebnisse zu untermauern oder zu erklären (Bohnsack 2010:93). Im Hinblick auf die Analyse ist die Unterscheidung, z. B. von Narrativem und Argumenta- tivem wichtig, aber auch das, was erkennbar unter „Zugzwang“ erzählt wurde. Es bedarf einer besonders sorgfältigen Behandlung (Miethe 2011:86). Nicht selten kommt es vor, dass aus der Situation heraus, lange belastend Verschwiegenes erzählt wird oder sehr aus- führlich über Probleme, die gerade bewältigt werden müssen, gesprochen wird. Es liegt nahe, bei der sensiblen Thematik „Co-Abhängigkeit und Resilienz“ nicht das Leit- frageninterview, sondern das narrative Interview zu wählen – auch aus Gründen der Seel- sorge und Beratung. Im Vergleich zum Leitfrageninterview liegt die Regie beim Erzählen- den und nicht beim Interviewenden. In seiner Alltagssprache kann er frei gestalten und verständlich machen, wie er die Ereignisse seines Lebens sieht. „Lebensgeschichtliches Erzählen ist für die rückblickende Entdeckung von bisher nicht reflektiertem Handeln in Situationen von Bewältigung nützlich, zudem findet bereits während des Erzählens eine ‚narrative‘ Bewältigung statt. Während des Erzählens ent- stehen möglicherweise neue bisher nicht reflexiv zugängliche Bedeutungen lebensge- schichtlicher Erfahrungen aus der neue zukünftige Perspektiven und/oder Handlungen entstehen können“ (Schulze 2007:224). Nach Mayring (2002) „will das narrative Interview durch freies Erzählenlassen von Geschichten zu subjektiven Bedeutungsstrukturen gelangen, die sich einem systemati- schen Abfragen versperren würden. Die Strukturierung des Gesprächs geschieht durch 100 den universellen Ablaufplan von Erzählungen, den der Interviewer unterstützt“ (:73). „Narrative Interviews eignen sich für Thematiken mit starkem Handlungsbezug. Sie sind für mehr explorative Fragestellungen einsetzbar, vor allem, wenn es um schwer abfragbare subjektive Sinnstrukturen geht“ (:74). Ausgehend von einem Erzählanstoß, der eine Stegreiferzählung auslösen soll, erzählt der Biograf in der Haupterzählung seine Geschichte. Diese Phase sollte möglichst vom Inter- viewenden nicht unterbrochen werden oder nur dann, wenn es der Aufrechterhaltung der Erzählstruktur dient. Gerhard Rieman (2011) weist darauf hin, dass es aber ohne Rezepti- onssignale („hm“, „ja“, Lachen usw.) nicht geht. „Wenn solche Rezeptionssignale ausblie- ben, wäre dies für sein Gegenüber – ebenso wie in alltäglichen Situationen des Erzählens – äußerst irritierend. Die Erzählung entfaltet sich bis zur Erzählkoda, die als Abschlussfor- mulierung für den Zuhörer klar erkennbar ist“ (:122). In der Nachfragephase können auf- grund der Notizen, die die Interviewerin angefertigt hat, offengebliebene Sachverhalte ge- klärt werden. Die Fragen sollen erzählgenerierend formuliert sein und zum Beispiel eine Lebensphase ansteuern, die in der Erzählung nicht vorkommt oder es wird um Beispiele gebeten, die einen Sachverhalt, der erwähnt wurde, erlebnishaft untermalen. Fragen nach eigenen Bewertungen und Begründungen der Biografin gehören zur abschließenden Bilan- zierungsphase, die nicht immer aufgezeichnet wird. Auch notwendige Ergänzungen zu den Ereignisdaten der Lebensgeschichte können nach dem Interview erfragt werden (Bortz & Döring 2006:317f). Ablaufmodell des narrativen Interviews nach Mayring (2002:75):  „Definition des Erzählgegenstandes  Stimulierung der Erzählung  Durchführung Aufrechterhalten des roten Fadens, der Erzählstruktur  Nachfragen in Richtung der intendierten Bedeutungsstruktur“. Die Definition des Erzählgegenstandes und die Information über die Motivation, die dem Forschungsvorgaben zugrunde liegt, können auch in der Vorbereitungsphase liegen, so dass gleich mit der „Stimulierung der Erzählung“ oder dem „Erzählanstoß“ begonnen wer- den kann. Es hat sich als sinnvoll erwiesen, mit mindestens zwei Sitzungen zu arbeiten. Der Vorteil liegt auch daran, dass die Biografin eine Rückmeldung zur ersten Sitzung ge- ben kann. 101 5.1.6 Analyseverfahren Um die Bedeutung von Erlebnissen, Krisen oder Wendepunkten in einer lebensgeschicht- lichen Erzählung und ihre Verknüpfungen zu erfassen, ihre Prozess- und Relevanz- strukturen zu erkennen, bedarf es einer sorgfältigen Analyse. Die bekanntesten Datenanalyseverfahren in der deutschen interpretativen Sozialforschung sind die objektive Hermeneutik nach Ulrich Oevermann (1979) und die Erzähl- und Textanalyse nach Fritz Schütze (1983). Außerdem gibt es verschiedene Verbindungen und Modifikationen dieser beiden Verfahren. Gabriel Rosenthal entwickelte ein Analyseverfah- ren, das die beiden Ansätze (Oevermann, Schütze) und die thematische Feldanalyse von Wolfram Fischer, miteinander verknüpft (Rosenthal 2011:186).94 In den sechs, von ihr vorgestellten, Analyseschritten sollen „sowohl die Gegenwartsperspektive als auch die Perspektive des Handeln in der Vergangenheit“ rekonstruiert werden (:186). „Die aufeinander folgenden Auswertungsschritte bei den Fallrekonstruktionen sind: 1. Analyse der biographischen Daten (Ereignisdaten) 2. Text- und thematische Feldanalyse (Analyse der Textsegmente – Selbstpräsen- tation/erzähltes Leben) 3. Rekonstruktion der Fallgeschichte (erlebtes Leben) 4. Feinanalyse einzelner Textstellen (kann jederzeit erfolgen) 5. Kontrastierung der erzählten mit der erlebten Lebensgeschichte 6. Typenbildung“ (:187). Die Sequenzanalyse der biografischen Daten ist von Oevermann übernommen, der durch gedankenexperimentelle Entwürfe von allen möglichen Bedeutungen, auch latente Sinn- strukturen erfassen möchte, die den Befragten oft nicht bewusst sind (Rosenthal 2011:190). Auch bei der Feinanalyse steht dieses Ziel im Vordergrund. Zur Textanalyse und struktu- rellen Beschreibung des narrativen Interviews nach Fritz Schütze gehören die Einteilung in Erzählsegmente und die Bestimmung der Textsorten. Bei der weiteren sequenziellen Ana- lyse nach Oevermann legt Rosenthal stärkeres Gewicht auf die Interpretation der Textsor- ten, während für Schütze die Themenabfolge im Vordergrund stand. Indem Rosenthal auch noch die Bestimmung der thematischen Felder nach Wolfram Fischer einbezieht, handelt es sich beim zweiten Analyseschritt um eine „Komposition“ von drei Ansätzen. Die Ent- wicklung der Analyseschritte 3, 5, und 6 sind – mit Ausnahme des sequenziellen Verfah- rens – Gabriele Rosenthal zuzuschreiben. Während Fritz Schütze von einer Homologie von Erfahrung und Erzählung ausgeht, betont Gabriele Rosenthal die „Differenz von erzählter und erlebter Zeit“ (Kauppert 94 Rosenthal (2011) weist darauf hin, dass auch Hildenbrand und Wohlrab-Sahr mit einer Verbindung von Textanalyse und objektiver Hermeneutik arbeiten (:173). 102 2010:34). Das hat zur Folge, dass sie über die Textanalyse von Schütze hinaus bei der „Analyse des erzählten Lebens“ die Analyseschritte: „Analyse des erlebten Lebens“ und „Kontrastierung der erzählten mit der erlebten Lebensgeschichte“ einführt. „Die gegenwärtige Darstellung vergangener Erlebnisse, so Rosenthals Ausgangsthese, lässt sich von anderen Relevanzen leiten, als jenen, die in der Vergangenheit die Be- deutung von Erlebnissen konstituierten. Gegenwärtige (erzählte) und vergangene (er- lebte) Bedeutung fallen somit auseinander. Das zentrale Anliegen von Rosenthal be- steht daher darin, aus der Differenz von erzählter und erlebter Zeit die spezifische Wei- se der Zuwendung eines autobiographischen Erzählers zur Vergangenheit abzuleiten“ (Kauppert 2010:42). Dem „Prinzip der Offenheit“ folgt methodisch nach Rosenthal ein abduktives und sequen- zielles Vorgehen (:54-57). Abduktive Schlüsse, logische Schlussfolgerungen sollen neue Sichtweisen ermöglichen, die in den Zusammenfassungen zu empirisch begründeten „Strukturhypothesen“ werden (:57-61). Rosenthals Lesart der Abduktion (2011) stützt sich auf Charles Sanders Peirce (1933/1980) und auf die frühe methodologische Arbeit Oever- manns (:58).95 „Während bei der Deduktion von einer Theorie und bei der Induktion von einer Hypo- these ausgegangen wird, beginnt die Abduktion mit der Betrachtung eines empirischen Phänomens“ (:58). „Die Schritte des dreistufigen Verfahrens der Abduktion sind: 1. Vom empirischen Phänomen zu allen zum Zeitpunkt der Interpretation möglichen Hypothesen (:58) 2. Von der Hypothese zur Folgehypothese 3. Der empirische Test am Einzelfall. Hier erfolgt der empirische Test im Sinne des induktiven Schließens“ (:59). Durch die jeweilige Gegenüberstellung der Folgethesen mit der nächsten Textsequenz ge- winnt man Erkenntnisse – durch Verifizierung oder Falsifizierung – über die wahrschein- lichsten Lesarten. „In diesem dritten Schlussfolgerungsschritt liegt bei der Abduktion die Möglichkeit der Entdeckung von Neuem, da im realen Fortgang nicht antizipierte Anschlüsse entdeckt werden können. Auch hier gilt es wieder als entscheidende Haltung der Sozialforsche- rin, dass sie offen für diese Entdeckungen und nicht auf die Prüfung ihrer bisherigen Annahmen fixiert ist“ (:59). Nach Fritz Schütze stellt auch für Gabriele Rosenthal das narrative Interview und die nachfolgende Transkription als „Erhebungsinstrument lebensgeschichtlicher Erfahrung“ die Ausgangsbasis für die Datenanalyse dar (Kauppert 2010:41), da davon ausgegangen wird, „dass der Zusammenhang von Handlungsgeschehen und Geschichtserzählung durch 95 Bohnsack (2010) erklärt, dass in der späten objektiven Hermeneutik Oevermanns vom „Wissen um Regel und Resultat auf den Fall“ geschlossen wird, dass dieses Verfahren der „qualitativen Induktion“ ent- spricht (:197). 103 eine Kopplung zwischen der Zeit der Erzählung und der Zeit der Erfahrung auf Struktur- ebene garantiert wird“ (:32). In der objektiven Hermeneutik nach Ulrich Oevermann ver- zichtet man auf die Transkription; es werden Interaktionsprotokolle bevorzugt, da es hier nicht um Erfahrungsdarstellung, sondern um Prozesse der Erfahrungsbildung geht (:32). Die Arbeit mit „Biographischen Fallrekonstruktionen“, die ein biographisch-narratives Interview und seine Transkription voraussetzt, ist der Verfasserin durch Forschungswerk- stätten mit Miethe, Schulze96, Fischer, Juna Ernst97 und Köttig98 bekannt. Eine vollständige Analyse mit allen sechs Auswertungsschritten kann im Rahmen dieser Arbeit nicht geleis- tet werden. Beim eigenen Vorgehen bezieht sie sich – nach Zusammenstellung und Analy- se der Ereignisdaten – auf die „Text- und thematische Feldanalyse“, die die Sequenzierung des Interviews, nur bezogen auf die Haupterzählung, und die Bestimmung der Textsorten vorsieht. Die Einteilung in Erzählsegmente erfolgt nach Themen-, Sprecher- oder Textsor- tenwechsel. Die Sequenzierung ergibt eine Art Inhaltsverzeichnis, das bereits Auskunft gibt, welche Lebensbereiche und welche Lebensphasen angesprochen werden, welche nicht (:186-187). Bei der Textsortenzuordnung sind Erzählungen von Argumentationen und Beschreibungen zu unterscheiden. „Bei Erzählungen handelt es sich immer um ganz konkrete und einmalige Situationen und diese Situationen werden so erzählt, dass die Abfolge und der Zusammenhang der verschiedenen Ereignisse deutlich wird“ (Miethe 2011:76). Die Erzählungen bleiben ohne Deutung oder Bewertung aus der Sicht von heute. Dies ge- schieht bei den Argumentationen. Aus der Sicht der Heute-Perspektive erfahren wir, wie die Biografen die Vorgänge in ihrer Lebensgeschichte sehen, bewerten oder rechtfertigen. Beim erzählgenerierenden Nachfragen geht es darum, das Argumentationsschema, zumin- dest stellenweise, zu durchbrechen, um zu versuchen, nicht nur die Theorie über das Leben zu hören, sondern auch Erlebnisse, die den Zugang zu den eigenen Gefühlen ermöglichen (:80-82). Die dritte Textsorte, die Beschreibungen, finden wir beim Schildern von Fakten oder Abläufen, aber ohne Erlebnisbezug, sondern eher statisch, z. B.: „Dann machte ich eine Ausbildung zur Fleischereifachverkäuferin.“ Die Funktion der Textsorten bringt uns auf die Spur, wie die Biografinnen sich selbst präsentieren. Dabei haben die Erzählungen den höchsten Grad an Emotionalität, die Argumentationen den höchsten Theorieanteil. Neben der Analyse der biografischen Daten und der Sequenzierung und Textsortenbe- stimmung sollen in dieser Arbeit die Strukturen des Erlebens (3. Analyseschritt: Rekon- 96 Nürnberg (2010). 97 Universität Kassel (2011/2012). 98 Ludwigsburg (2013). 104 struktion der Fallgeschichte/ erlebtes Leben) ausführlich behandelt werden. Für die For- schungsfrage aussagekräftige Textabschnitte des transkribierten Interviews werden zu Themenbereichen zusammengefasst und nach dem abduktiven Verfahren analysiert. Die Erkenntnisse aus der Analyse werden nach den Kriterien der Resilienzforschung überprüft, um Aussagen über Risiko- und Schutzfaktoren im Leben der Biografinnen herauszufiltern und um Resilienzansätze für Seelsorge und Beratung ableiten zu können. 5.1.7 Ethische Überlegungen Die Privatsphäre ist durch das Grundgesetz geschützt. Wenn in der empirischen Forschung humanwissenschaftliche Themen behandelt und Menschen als Versuchspersonen ge- braucht werden, sind ethische Richtlinien zu beachten. “Unisa promotes the following four internationally established and accepted moral principles of ethics as bases for research:  autonomy (research should respect the autonomy, rights and dignity of research participants)  beneficence (research should make a positive contribution towards the welfare of people)  nonmaleficence (research could not cause harm to the research participant(s) in particular or to people in general)  justice (the benefits and risks of research should be fairly distributes among people)” (Unisa 2007, PORE, Part 2:1.1). In Deutschland gelten der Ethik-Codex der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) und des Berufsverbandes Deutscher Soziologen (BDS) sowie die ethischen Richtlinien der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs) und des Berufsverbandes Deutscher Psychologen (BDP). Die Deutsche Gesellschaft für Psychologie hat am 28. September 2004 ihre Richtlinien aktualisiert. Uwe Flick (2012) fordert für die qualitative Forschung Prinzipien, die den Richtlinien von Unisa, von DGS/BDS und DGPs/BDP entsprechen: 1. „Prinzipien der informierten Einwilligung und der Freiwilligkeit der Teilnehmer“ (:59). “The participation of individuals should be based on their freely given, specific and in- formed consent. Researchers should respect their right to refuse to participate in re- search and to change their decision or withdraw their informed concent given earlier, at any stage of the research without given any reason and without any penalty” (Unisa 2007, PORE, Part 2:3.3). „Generell gilt für die Beteiligung an sozialwissenschaftlichen Untersuchungen, daß diese freiwilig ist und auf der Grundlage einer möglichst ausführlichen Information über Ziele und Methoden des entsprechenden Forschungsvorhabens erfolgt” (Ethik- Codex, DGS/BDS, Bd.3). 105 „Voraussetzung dafür, dass Psychologen persönlich, auf elektronischem Weg oder mit Hilfe anderer Kommunikationsformen Forschung durchführen, ist die persönliche Ein- willigung der an der Forschung teilnehmenden Personen. Solche Einwilligungserklä- rungen basieren stets auf einer Aufklärung über das Forschungsvorhaben, die in ver- ständlicher Form angeboten wird“ (Ethische Richtlinien. DGPs/BDP, C.III.3a). Die Biografinnen werden über das Forschungsvorhaben informiert und geben schriftlich ihr Einverständnis für das narrative Interview und die anonymisierte Transkription. Mit dem Schreiben zugleich sind sie auf Ethische Richtlinien, auch auf die Forschungs-Ethik- Richtlinien von Unisa hingewiesen worden. “Participants should be informed of the existence of the Unisa Policy on Research Ethics. The policy should be made available to them if it can help them make an in- formed decision regarding their participation” (Unisa 2007, PORE, Part 2:2.11). 2. „Wohlergehen der Untersuchungsteilnehmer“ (Flick 2012:62) und 3. „Vermeidung von Schädigungen für die Beteiligten in der Datensammlung“ (:65). “Researchers should ensure that the actual benefits to be derived by the participants or society from the research clearly outweigh possible risks, and that participants are sub- jected to only those risks that are clearly necessary for the conduct of the research. Re- searchers should ensure that the risks are assessed and adequate precautions are taken to minimize and mitigate risks” (Unisa 2007, PORE, Part 2:1.2 (IX). „Personen, die in Untersuchungen als Beobachtete oder Befragte oder in anderer Wei- se, z. B. im Zusammenhang mit der Auswertung persönlicher Dokumente einbezogen werden, dürfen durch die Forschung keinen Nachteilen oder Gefahren ausgesetzt wer- den“ (Ethik-Codex, DGS/BDS, B.5). Beim narrativen Interview bestimmen die Biografinnen selbst, wie weit sie sich öffnen, welche Erlebnisse sie berichten, welche nicht. In der Regel haben die lebensgeschichtli- chen Erzählungen befreienden Charakter. In wertschätzender Atmosphäre sich einmal alles von der Seele zu reden, kann therapeutisch heilende Wirkung haben. Nicht auszuschließen ist dennoch, dass Erinnerungen an evtl. traumatische Verletzungen sich negativ auswirken können. Unterbrechungen des Interviews und professionelle Hilfe durch einen Therapeuten sind deshalb einzuplanen. “Researchers should help participant(s) in cases of adverse consequence resulting from their partification in research. These include psychological trauma, distress, and loss of job, social hostility or retaliation against participant(s). When, in the cours of the re- search, researchers come to know of a need of participants that is not connected to the research but which may improve their lives (e.g. medical treatment), they should en- deavor to get the help needed” (Unisa 2007, PORE, Part 2:3.6 “Right to get help”). 4. „Teilnehmern in der Analyse gerecht werden” (Flick 2012:65). Uwe Flick (2012) weist darauf hin, dass es in der Datenanalyse zu Einschätzungen kom- men kann, mit denen die Befragten nicht gerechnet haben und die evtl. für die Versuchs- personen unangenehm sind. Es ist deshalb unbedingt darauf zu achten, dass Interpretatio- 106 nen in den Daten oder Aussagen begründet sind und keine Wertung auf der persönlichen Ebene enthalten (:65). 5. „Vertraulichkeit und Anonymität in der Darstellung der Forschung“ (:65). “All personal information and records provided by participants should remain confi- dential. When conducting interviews it should be made clear that confidentiality and anonymity will be safeguarded. Whenever it is methodologically feasible, participants should be allowed to respond anonymously or under a pseudonym to protect their pri- vacy” (Unisa 2007, PORE, Part 2:4.3). „Die Anonymität der befragten oder untersuchten Person ist zu wahren” (DGS/BDS, B.5). „Von untersuchten Personen erlangte vertrauliche Informationen müssen entspre- chend behandelt werden; diese Verpflichtung gilt für alle Mitglieder der Forschungs- gruppe (auch Interviewer/innen, Codierer/innen, Schreibkräfte etc.), die über einen Da- tenzugriff verfügen“ (DGS/BDS, B.7). „Gewährleistung von Vertraulichkeit und Ano- nymität“ (DGPs/BDP, C.III. 3d. 6). Die Biografinnen wissen, dass ihre Interviews nur anonymisiert verwendet werden und nur wenigen Personen vorliegen. Im Falle einer Veröffentlichung würden weitere Anonymisie- rungen notwendig, d. h. nur Auszüge aus den Transkriptionen, die als Belege dienen, wür- den erscheinen, nicht aber der Wortlaut des Interviews. Die Verfasserin dieser Arbeit, die zugleich die Interviewerin ist, unterliegt als Christliche Lebensberaterin der Schweigepflicht wie Psychologen, Soziologen, Ärzte oder Pfarrer. (DGS/BDS, B.8). 5.1.8 Methodisches Vorgehen 5.1.8.1 Suche nach Interviewpartnerinnen Die Kontakte zu Einrichtungen99 mit Angehörigenarbeit, die seit der Arbeit am Proposal bestehen, wurden durch Anschreiben an die Kontaktpersonen wieder aufgenommen. Dem Schreiben, mit der Bitte um Vermittlung zu Interviewpartnerinnen, waren die Musterfor- mulare der Einverständniserklärungen100 beigefügt, sodass klargestellt war, dass ethische Richtlinien eingehalten werden. Aus der Fachklinik gab es keine Rückmeldung, aus dem Diakonischen Werk teilte mir die Suchtberaterin mit, dass sie zur Zeit vorrangig mit Eltern von drogen-und alkoholabhängigen Jugendlichen arbeite und dass die wenigen Frauen mit alkoholabhängigen Partnern es noch nicht einmal schafften, regelmäßig an den Gruppen- sitzungen teilzunehmen. Weitere Terminvereinbarungen stünden nicht zur Diskussion. Da eine vollständige Anonymität durch die notwendige Unterschrift unter die Einverständnis- 99 Fachklinik Calden-Fürstenwald, Suchtberatungsstelle des Diakonischen Werkes der Kirche von Kurhes- sen-Waldeck, Al-Anon-Gruppe der Anonymen Alkoholiker, Blaues Kreuz, „Frauen helfen Frauen“. 100 Siehe Anlagen, A18 und A19. 107 erklärung nicht gegeben war, lehnten die Frauen aus der Al-Anon-Gruppe weitere Ver- handlungen ab. Die Leiterin einer anderen Angehörigengruppe lud mich zu einer Gruppen- sitzung ein, damit ich mich vorstellen und mein Anliegen den Angehörigen vortragen kön- ne. Nach diesem Treffen meldeten sich zwei Teilnehmerinnen zum Interview. Für sie war wichtig, dass ich eine Seelsorgeausbildung habe, wie sie mir sagten. Durch Vermittlung eines ehemaligen Leiters dieser Einrichtung kam es zu einem weiteren Interview mit einer ehrenamtlichen, früher betroffenen Mitarbeiterin. Mit ihr gab es ein Kennenlerntreffen an ihrem Arbeitsplatz und danach zwei Interviewsitzungen. Der Kontakt zur Leiterin des För- derkreises „Frauen helfen Frauen“ gestaltete sich zunächst schwierig, da keine Antwort kam und auch keine telefonische Verbindung möglich war. Nach ihrem mehrwöchigen Krankenhausaufenthalt hat diese Leiterin dann für zwei Inter- viewpartnerinnen gesorgt, die ohne vorheriges Kennenlernen, nach telefonischer Abspra- che bereit waren, mir ein narratives Interview zu geben. Bei der 20jährigen Jubiläumsfeier des Förderkreises „Frauen helfen Frauen“ lernte ich die sechste Interviewpartnerin aus ei- ner südhessischen Stadt kennen. Sie arbeitet im Vorstand der Selbsthilfegruppe mit und möchte das Forschungsanliegen unterstützen. Es wird ersichtlich, dass die Verfasserin kei- ne Auswahl treffen konnte, sondern nur nach mühevoller Suche mit diesen sechs Biogra- finnen die Interviews durchführen konnte. Auffallend und verständlich ist, dass nur Frauen zum Interview bereit waren, die einen gewissen Abstand gewonnen haben. Besonders inte- ressant sind die Unterschiede, die zwischen den älteren und den jüngeren Biografinnen101 in Bezug auf ihre Einstellung zur Thematik erkennbar sind.  Gerda, 74 Jahre alt, Hausfrau, praktizierende evangelische Christin/Landes- kirche, zwei erwachsene Söhne. Der Mann ist seit 1990 trocken.  Maria, 64 Jahre alt, Verkäuferin, durch die Einrichtung christlich gestützt, eine erwachsene Tochter, einen erwachsenen Sohn, seit 2008 verwitwet. Der Mann war seit 1988 trocken. Sie arbeitet ehrenamtlich in der Einrichtung mit.  Elsa, 62 Jahre alt, Fleischereifachverkäuferin, praktizierende evangelische Christin/Landeskirche, zwei erwachsene Töchter. Der Mann ist seit 1998 tro- cken. Elsa und ihr Mann sind beide ehrenamtlich in der Suchtberatung tätig.  Ilona, 48 Jahre alt, medizinisch-technische Assistentin, praktizierende Katholi- kin, einen erwachsenen Sohn, Student. Ilona lebt seit einem Jahr getrennt in ei- gener Wohnung. Der Mann verweigert jegliche Behandlung oder Therapie, lebt mit dem Sohn weiterhin im gemeinsam erbauten Haus.  Beate, 47 Jahre alt, Arzthelferin, traditionell landeskirchliche Ausrichtung, zwei erwachsene Töchter. Der Mann ist seit 1996/1997 trocken.  Lena, 38 Jahre alt, Bankkauffrau, praktizierende evangelische Christin/Frei- kirche, einen achtjährigen Sohn, lebt seit drei Jahren getrennt von ihrem Mann im Haus ihrer Eltern. Der Mann versucht gerade die dritte Therapie, lebt bei seinen Eltern. Sie arbeitet im Vorstand einer Selbsthilfegruppe mit. 101 Altersangabe zur Zeit des Interviews. 108 5.1.8.2 Profil der Interviewerin „Biografie ist nicht statisch, sondern ‚work in progress‘ schreibt Ingrid Miethe (2011:17f). Nicht nur die gegenwärtige Lebenssituation der Biografinnen, sondern auch das Gegen- über, dem die Lebensgeschichte erzählt wird, bestimmt mit, was erzählt wird und was nicht. Die Interviewerin, die sich in der Angehörigengruppe vorstellte und Interesse an der Lebensgeschichte von Frauen mit alkoholabhängigen Männern signalisierte, ist auch mit der eigenen Biografie Teil des Prozesses. Direkt oder indirekt wird damit Inhalt und Form der Lebenserzählung beeinflusst. Die Frage nach Motivation und Kompetenz ist durch Ausbildung und Praxis der Verfasserin und Interviewerin als Christliche Lebensberaterin beantwortet. Das Entdecken der Thematik im Zusammenhang mit anderen Lebensproble- men, z. B. Depressionen, stieß bei allen Frauen auf großes Verständnis. Auch das Anlie- gen, das sich für die Angehörigen von Suchtkranken etwas ändern sollte, fand einhellig Zustimmung. Die Verortung und aktive Mitarbeit in einer evangelischen Gemeinde der Landeskirche von Kurhessen-Waldeck zeigt den Standort als praktizierende Christin an, hielt aber weder eine Katholikin noch eine Freikirchlerin ab, ein narratives Interview zu geben. Das Alter der Interviewerin war in diesem Fall von Vorteil. „Die hat auch schon Einiges erlebt, die verkraftet meine Lebensgeschichte!“102 Versichert wurde den Inter- viewpartnerinnen, dass es in keiner Phase um eine Bewertung der Lebensgeschichte oder der in ihr enthaltenen Informationen gehe, sondern um einen Verstehensprozess. Zu er- wähnen ist, dass die Kontaktpersonen mit ihren persönlichen Einschätzungen und ihren Vertrauensstellungen dazu beigetragen haben, dass die Interviews zustande kamen. 5.1.8.3 Durchführung der Interviews Nach vorheriger telefonischer Absprache wurden die Interviewsitzungen mit Elsa,103 Ma- ria104 und Ilona105 in den Räumen der Einrichtung durchgeführt. Das hatte den Vorteil, dass die Biografinnen sich auskannten, und wir den einen oder anderen Termin so legen konn- ten, dass keine zusätzliche Anfahrt für sie notwendig war. Die Sitzungen verliefen stö- rungsfrei. Die Treffen mit Gerda106 und Beate107 fanden im Beratungszimmer der Verfasse- rin statt. Das Abholen von der Straßenbahn im Nachbarort gab Gelegenheit, vorab noch Fragen zu klären oder ein belangloses Gespräch zur Lockerung zu führen, da vorab keine 102 Memo Nr.2. 103 Interviewtermine: 17.07. und 20.07.2013. 104 Interviewtermine: 18.07. und 22.07.2013. 105 Interviewtermine: 20.07. und 31.07.2013. 106 Interviewtermine: 05.09. und 10.09.2013. 107 Interviewtermin: 25.09.2013. 109 Kennenlerntreffen möglich waren. Nur Gerda hatte Diskussionen mit ihrem Mann: „Wa- rum willst Du das alles wieder aufrühren?“108 Nachdem sie ihm berichtet hatte, dass ihr das „Gespräch“ gut getan hat, gab es vor der zweiten Sitzung keine Einwände mehr. Beate hatte sich von vornherein nur für eine Sitzung entschieden. Ebenso gab es nur eine Sitzung mit Lena in Südhessen. Dort fand das Interview am 18.09. in der Wohnküche der Biografin statt. Ihr Sohn war zu dem Zeitpunkt in der Schule. Die Interviews begannen mit der Aufforderung: „Bitte erzählen Sie mir Ihre Lebensge- schichte!“ Durch die Auswahl der Biografinnen musste kein Zusammenhang mit dem For- schungsvorhaben thematisiert werden. Nach dem Ablaufmodell des narrativen Interviews nach Mayring (2002:75)109 konnte die „Definition des Erzählgegenstandes“ entfallen und gleich mit dem Erzählanstoß, der „Stimulierung der Erzählung“ begonnen werden. Vorab hatten die Biografinnen bereits die Einverständniserklärung110 unterschrieben. Vor, wäh- rend und auch nach dem Interview wurden Fragen oder Bemerkungen der Biografinnen oder Beobachtungen notiert, die als „Memos“ dienen. Bei Lena und Beate schloss sich die Nachfragephase gleich an, was der Verfasserin aus der Sicht der Interviewerin ungünstig erscheint. Erstens können die Interviewpartnerinnen nicht über mögliche Auswirkungen der ersten Sitzung sprechen oder Nachträge liefern, zweitens konnten Fragen, die erst beim sorgfältigen Anhören des ersten Teils des Interviews auftauchen, nicht gestellt werden. Auf der anderen Seite mag es für die Biografin entlastend sein, keinen weiteren Termin mehr wahrnehmen zu müssen. Keine der Sitzungen musste unterbrochen, und es musste keine professionelle Hilfe in An- spruch genommen werden, obwohl traumatische Erlebnisse angesprochen wurden und emotional berührende und schwierige Situationen gegeben waren. Erklärt werden kann das professionelle Auftreten zum einen durch die Arbeit in den Angehörigengruppen, durch Schulungen und Therapieerfahrungen, zum anderen durch langjähriges, leidvolles Kom- munikations-Training mit einem schwierigen, einem alkoholabhängigen Partner. 5.1.8.4 Begründung der Auswahl zur Transkription Aus der Gruppe der älteren Frauen habe ich das sehr ausführliche Interview mit Elsa ge- wählt. Die Therapie des Mannes liegt noch nicht so lange zurück wie bei den Männern von Gerda und Maria, sie hat sehr lange die Co-Abhängigkeit aufrecht erhalten und ist nicht durch ein christliches Elternhaus geprägt. Als zweites Interview stelle ich das der jüngsten 108 Memo Nr.4. 109 Siehe S. 100. 110 Siehe Anlagen, A18 und Kap. 5.1.7. (Ethische Überlegungen), S. 104 f. 110 Biografin vor. Lena lebt in einer noch nicht geklärten Beziehung, getrennt von ihrem noch- alkoholabhängigen Ehemann, ist berufstätig, hat relativ früh Hilfe gesucht und ist von einer freikirchlichen Gemeinde geprägt. Sie hat – besonders durch die Migration aus Lettland – einen ganz anderen Lebenshintergrund als Elsa. Auf die Erfahrungen der anderen Biogra- finnen wird zurückgegriffen, um Beobachtungen in Korrelation zu Themenschwerpunkten aus den Fachbereichen herauszustellen.111 5.1.8.5 Anonymisierung Durch die Forschungsmethode bedingt, wird im empirischen Teil der Arbeit mit sehr sen- siblen und persönlichen Daten operiert. Zum Schutz der Privatsphäre112 sind die Namen der Biografinnen maskiert und alle anderen Namen von Orten, Personen oder Einrichtun- gen sinnadäquat allgemein gehalten oder durch veränderte Anfangsbuchstaben angegeben, Auch die angeführten Anfangsbuchstaben geben keinen Aufschluss auf die Namen in der Realität. 5.1.8.6 Transkription Die Interviews wurden zur Absicherung zweifach aufgezeichnet, zum einen mit einem Diktiergerät mit eingebautem Mikrofon und Kassette, zum anderen mit einem digitalen Aufnahmegerät. Die digitale Aufnahme hatte den Vorteil, auf den Computer übertragen und gleich zur Transkription weitergeleitet werden zu können. Die Bandaufnahmen wur- den von einer am Forschungsprozess unbeteiligten Person professionell verschriftlicht und bereits weitgehend anonymisiert. Für die Analyse wichtig sind auch die durch die Tran- skription erfassten Aussagen über Pausen, Sprechstil oder Verhaltensmermale.113 Bei der Überarbeitung der Transkripte, bei der auch die Kürzungswünsche der Biografinnen zu beachten waren, erfolgte eine weitere Anonymisierung, z. B. durch Änderung der An- fangsbuchstaben von Namen. 5.2 Datenanalyse Es wird auf die Analyseschritte von Gabriele Rosenthal zurückgegriffen.114 Die Einbettung in die Zeitgeschichte, die Vorwelt, Umwelt und Mitwelt der Biografin sind für das Ver- 111 Es war deshalb notwendig, alle Interviews zu transkribieren. 112 „All personal information and records provided by participants should remain confidential. When con- ducting intervies it should be made clear that confidentiality and anomity will be safeguarded. Whenever it is methodologically feasible, participants should be allowed to respond anonymously or under a peudo- nym to protect their privacy” (Unisa 2007, PORE, Part. 2:4.3). 113 Siehe Legende der Transkriptionszeichen, Anlagen, A 21. 114 Siehe „Auswertungsschritte“, S. 101 dieser Arbeit. 111 ständnis ihres Gewordenseins von elementarer Bedeutung. Zum ersten Schritt115: „Analyse des gelebten Lebens“ gehören deshalb die Familiengeschichte (Vorwelt) und die biografi- schen Daten (Umwelt und Mitwelt). Die leitende Frage lautet: „In welche Situation wurde die Biografin hineingeboren?“ Durch Sequenzierung und Textsortenbestimmung können in einem zweiten Analyseschritt116 Erkenntnisse über die gegenwärtige Art der Selbstpräsen- tation gewonnen werden. In einem dritten Analyseschritt117 werden für die Forschungsfra- ge relevante Textsequenzen thematisch zusammengestellt, um nach der Auswertung in einem vierten Schritt mit Hilfe von Kriterien der Resilienzforschung untersucht zu wer- den.118 5.2.1 Elsa119 5.2.1.1 Analyse des gelebten Lebens 5.2.1.1.1 Familiengeschichte  1898 Geburt des Großvaters (mütterlicherseits), Nordhessen, Bahnbeamter  1900 Geburt der Großmutter (mütterlicherseits), Nordhessen, Hausfrau  1908 Geburt des Großvaters und der Großmutter (väterlicherseits), Schlesien, Handwerker und Hausfrau  1929 Geburt des Vaters, Schlesien (eine Schwester, zwei Brüder)  1929 Geburt der Mutter, Nordhessen (zwei jüngere Brüder)  1945 Flucht der Großeltern aus Schlesien (mit vier Kindern) nach Nord- hessen  1949 Heirat von Elsas Mutter (Sekretärin) mit Vater (Dachdecker), Vater konvertiert vom katholischen zum evangelischen Glauben  1950 Geburt eines Sohnes Großeltern mütterlicherseits Es ist davon auszugehen, dass Elsas Mutter mit ihren zwei jüngeren Brüdern in einem gut bürgerlichen Haus aufwachsen. Der Großvater wird, wenn nicht zum Ende des Ers- ten Weltkriegs im Zweiten Weltkrieg als Soldat gedient haben, was Auswirkungen auf das Rollenverständnis der Frauen nach sich zog. Die Übernahme von Verantwortung für die Familie, bei Elsas Mutter besonders das Kümmern um die jüngeren Brüder, 115 Siehe Kapitel: 5.2.1.1 und 5.2.2.1: „Analyse des gelebten Lebens“ 116 Siehe Kapitel: 5.2.1.2 und 5.2.2.2: „Analyse des erzählten Lebens“ 117 Siehe Kapitel: 5.2.1.3 und 5.2.2.3 „Analyse des erlebten Lebens“. 118 Siehe Kapitel: 5.2.1.4 „Risiko- und Schutzfaktoren: Lebensgeschichte Elsa“. 119 Maskierter Name für die Biografin mit Interviewsitzungen am 17.07. und 20.07. 2013. 112 ergab sich zwangsläufig. Elsas Mutter erlernte den Beruf der Sekretärin, erwähnens- wert, weil die Ausbildungszeit in Kriegszeiten stattfand. Großeltern väterlicherseits Der Großvater aus Schlesien ist zehn Jahre jünger als der nordhessische Großvater, was eine Teilnahme als Soldat im ersten Weltkrieg ausschließt. In der schlesischen Heimat arbeitet er als Handwerker, vermutlich verbunden mit einem kleinen landwirtschaftli- chen Betrieb. Die Großmutter wird auch hier als Hausfrau vorgestellt. Elsas Vater wird 1929 als ältester Sohn von vier Kindern geboren. Im Vergleich zu den Großeltern müt- terlicherseits sind es junge Eltern, beide sind 21 Jahre alt bei der Geburt von Elsas Va- ter. Ob dessen Ausbildung zum Dachdecker noch in Schlesien abgeschlossen wird oder erst nach der Flucht in Nordhessen erfolgte, ist nicht bekannt. Auch über die politische Einstellung der beiden Familien wird nichts berichtet. Die deutschstämmige, katholi- sche Flüchtlingsfamilie, ohne jeglichen Besitz, handwerklich ausgerichtet, trifft in Nordhessen auf gut situierte evangelische Beamtenfamilie. Die Großeltern mütterli- cherseits dürften einer Heirat ihrer Tochter mit einem mittellosen Flüchtling skeptisch gegenüber gestanden haben. Die Konversion von Elsas Vater zur evangelischen Kirche hatte vermutlich besänftigende Wirkung, wenn sie nicht sogar Bedingung war. Auch dass Handwerker im Baugewerbe in der Wiederaufbauzeit sehr gefragt waren, muss dazu beigetragen haben, der Eheschließung zuzustimmen, da beide noch nicht volljäh- rig120 waren und die Erlaubnis der Eltern benötigten. Der Stammhalter wird ein Jahr später geboren. Weibliche Nachkommenschaft wird in diesen Jahren noch stark abwer- tend gesehen, sodass dieses Ereignis auf Eltern und Großeltern stabilisierend gewirkt haben dürfte. 5.2.1.1.2 Biografische Daten 1951 Geburt von Elsa 1953 Geburt des zweiten Bruders 1956 Tod des Vaters (Arbeitsunfall) 1956/57 Großeltern (mütterlicherseits) ziehen mit in die Wohnung ein 1957 Einschulung 1963 Tod des Großvaters 1965 Konfirmation 1965 Hauptschulabschluss 1965 Besuch einer Hauswirtschaftsschule 1967 Unfalltod des älteren Bruders 1967 Abbruch der Hauswirtschaftsschule 120 „Die Volljährigkeit tritt mit der Vollendung des einundzwanzigsten Lebensjahrs ein“ (Palandt, 1970:10, Bürgerliches Gesetzbuch, § 2). – Gesetz zur Neuregelung des Volljährigkeitsalters: „Die Volljährigkeit tritt mit der Vollendung des achtzehnten Lebensjahres ein“ (Bundesgesetzblatt 1974, Artikel 1, § 2). 113 1967 Ausbildung zur Fleischereifachverkäuferin 1970 Abschluss der Ausbildung 1971 Heirat mit einem geschiedenen Mann (Sohn bleibt bei erster Ehefrau) 1972 Geburt einer Tochter 1974/75 Feststellung, dass der Mann alkoholabhängig ist 1975 Geburt der zweiten Tochter (1980) Fehlgeburt (1983) Hysterektomie (Gebärmutterentfernung) 1988 Auszug der älteren Tochter 1994 Berufsausübung (mit Lohnsteuerkarte) 1996 Gehirnoperation, Frühverrentung von Elsa 1998 Entgiftung und stationäre Therapie des Ehemannes Forderung des Arbeitgebers 1998 Auszug der jüngeren Tochter 2009/10 Psychosomatische Kur Elsas 2010/13 Arbeit mit einer Psychologin, Therapie 5.2.1.1.3 Beispiel der Hypothesenbildung, Biografische Daten „Elsa“ 1. Datum: 1951 Geburt von Elsa Hypothesen: H 1.1 Elsa wird in eine traditionelle Familie hineingeboren. H 1.2 Nordhessen befindet sich im Wiederaufbau nach dem 2. Weltkrieg. H 1.3 Der Vater Elsa wird als Dachdecker sehr gebraucht. Folgehypothesen: FH 1.1 Elsa wächst in harmonischen Verhältnissen auf. FH 1.2 Die finanzielle Lage der Familie ist stabil und sicher. 2. Datum: 1953 Geburt des zweiten Bruders Hypothesen: H 2.1 Aufmerksamkeit der jungen Eltern ist auf drei kleine Kinder ge- richtet. H 2.2 Elsa lernt von Anfang an zu teilen. H 2.3 Elsa befindet sich in einer Konkurrenzsituation, Jungen sind will- kommener. H 2.4 Mutter kümmert sich um die Kinder, kann nicht mehr berufstätig sein. Folgehypothesen: FH 2.1 Kinder werden von Großeltern großgezogen. FH 2.2 Großeltern spielen keine Rolle, sind mit ihrem Leben beschäftigt. FH 2.3 Selbstwert wird Thema für Elsa. 3. Datum: 1956 Tod des Vaters Folgethesen 1.1 und 1.2 werden widerlegt. Hypothesen: H 3.1 Elsas Mutter muss berufstätig werden. H 3.2 Kinder werden in Obhut gegeben. H 3.3 Unsicherheit in der Familie, dass den Männern etwas passiert. 114 H 3.4 Frauen sind zum Engagement herausgefordert. H 3.5 Elsa hat unterschiedlichen Kontakt zu den Familien des Vaters und der Mutter. H 3.6 Elsa sucht Außenkontakte zur eigenen Stabilisierung. Folgehypothesen: FH 3.1 Zugehörigkeit wird Thema für Elsa: „Verorte ich mich oder ent- ziehe ich mich und finde einen neuen Weg?“ FH 3.2 Auftrag an Elsa, sich zu kümmern; Mutter ist so aufgewachsen, lebt es vor. FH 3.3 Elsa bleibt nah an der mütterlichen Familie. FH 3.4 Elsa wendet sich mehr der väterlichen Familie zu. FH 3.5 Elsa folgt einem älteren, gut situierten Partner, braucht Vaterersatz. FH 3.6 Elsa wird früh Mutter. 5.2.1.1.4 Lebensgeschichte Elsas Elsa wird als zweites Kind 1951 geboren. Der ein Jahr ältere Bruder befindet sich nun in einer Konkurrenzsituation, hat nicht mehr die ungeteilte Aufmerksamkeit. Mit zwei klei- nen Kindern wird die Mutter nicht mehr berufstätig sein können. Dass aber die junge Fa- milie finanziell zurechtkommt, ist anzunehmen, da von einer guten Auftragslage für Bau- handwerker in dieser Zeit auszugehen ist und der Vater als Dachdecker auch nach Feier- abend und am Wochenende gefragt gewesen sein dürfte. Zwei Jahre später bekommt Elsa noch einen Bruder. Sie ist nun ein „Sandwichkind“. Die Hypothese, dass sie als solches stark zu Außenkontakten neigt, um fehlende Aufmerksamkeit in der Familie auszuglei- chen, findet keine Bestätigung. Die Frage nach dem Selbstwertgefühl wird aber von nun an wichtig für sie sein. Zum einschneidenden Erlebnis für die ganze Familie kommt es durch den frühen Tod des Vaters, der an den Folgen eines Arbeitsunfalls stirbt. Die Mutter ist mit 27 Jahren Witwe, alleinerziehend mit drei kleinen Kindern, zur Berufstätigkeit gezwungen. Einschulung und Schulzeit Elsas müssen im Schatten dieses traumatischen Ereignisses und seiner Folgen gestanden haben. Das Problem des finanziellen Auskommens wird zu einem der Zentralthemen ihres Lebens. Durch den Einzug der Großeltern wird die Mutter entlas- tet; die Kinder haben zusätzliche Ansprechpartner, werden versorgt. Generationsbedingte unterschiedliche Ansichten in Bezug auf Erziehungs- und Lebensstil dürften das Zusam- menleben auf engstem Wohnraum erschwert haben. Der Tod des Großvaters, Elsa befindet sich im Pubertätsalter, muss die Verunsicherung über die Rolle der Männer verstärkt und den inneren Auftrag, Verantwortung zu übernehmen, gefestigt haben. Elsas Konfirmation zeigt, dass sie der Traditionslinie der mütterlichen Familie folgt. Alle Hypothesen, die eine andere religiöse Orientierung für möglich aufzeigten, werden widerlegt. Durch Besuch und Prüfung in der Hauswirtschaftsschule nach dem Hauptschulabschluss, 1965, würde Elsa 115 die mittlere Reife erlangen und hätte dadurch Zugang zu einer größeren Anzahl von Be- rufsausbildungen, wenn sie nicht als Hauswirtschaftsgehilfin arbeiten möchte. Die Ausbil- dung wird aber abgebrochen, da der ältere Bruder bei einem Verkehrsunfall getötet wird und sein Gesellenlohn als Beitrag für den Lebensunterhalt der Familie wegfällt. Von Ver- suchen Elsas, doch den eigenen Weg weiter zu gehen, ihren Berufswunsch durchzusetzen, ist nichts bekannt, eine mögliche Statusanhebung scheitert. Elsa lässt sich zur Fleische- reifachverkäuferin ausbilden, weicht damit von der eher weiblich-traditionellen Linie ab und wendet sich einem Beruf im Umfeld des Handwerklichen zu, folgt damit der väterli- chen Familienlinie. Mit 20 Jahren heiratet Elsa einen geschiedenen Mann, der aus erster Ehe bereits einen Sohn hat, der aber bei seiner Mutter aufwachsen wird. Elsa ist noch nicht volljährig und braucht deshalb das Einverständnis der Mutter. Auch die lebenserfahrene Mutter scheint die Problematik dieser Partnerwahl nicht gesehen zu haben. Elsa lässt nicht erkennen, ob sie oder die Mutter damals kritische Anfragen über die Gründe des Verlas- sens der Erstfamilie hatten. Es ist davon auszugehen, dass das Scheitern der ersten Ehe und die Schuldenanhäufung bereits der Alkohol- und Nikotinsucht des Mannes zuzuschreiben ist. Die zweite Ehe wird mit enormen Belastungen begonnen, aber für Elsa ist es auch die Ablösung von der Mutter. Die Hypothese, dass Elsa nach den Verlusterfahrungen auf der Männerseite einen älteren, gut situierten, verlässlichen Partner wählt, der ihr Geborgenheit vermittelt, ihr Vaterersatz sein könnte121, erfüllt sich nicht. Jung, gesund und bereit zur Übernahme von Verantwortung nimmt sie den Antrag eines Mannes an – bewusst oder unbewusst – bei dem sie das Gefühl der Kontrolle haben, bei dem sie die Gebende sein kann.122 Elsa wird früh Mutter.123 Noch bevor die zweite Tochter geboren wird, erkennt sie, dass der Alkoholkonsum des Mannes krankhaft, eine Sucht ist. 22 Jahre wird die Co- Abhängigkeit dauern. Hypothesen, die auf eine irgendeine Änderung hinweisen, bestätigen sich nicht. Der Mann wird weder krank noch arbeitslos und lässt auch keinen ernsthaften Änderungswillen erkennen; selbst der Auszug der 16jährigen Tochter bewirkt nichts. Elsa übersteht eine Fehlgeburt und die Hysterektomie, hält an der Ehe fest, sucht auch keine professionelle Hilfe, sondern folgt eisern dem inneren Auftrag nach mütterlichem Vorbild, stabilisierend zu wirken, d. h. sie wird immer stärker Verantwortung übernehmen. Zwei Jahre lang arbeitet sie wieder voll in ihrem Beruf, mit Lohnsteuerkarte. Da inzwischen die Unterhaltszahlungen für den Sohn aus erster Ehe wegfallen, dürfte das erheblich zur Ver- 121 Siehe FH 3.5: „Elsa folgt einem älteren, gut situierten Partner, braucht Vaterersatz“. 122 Siehe H 3.4: „Frauen sind zum Engagement herausgefordert.“ – S. 114 und FH 3.2: „Auftrag an Elsa, sich zu kümmern; Mutter ist so aufgewachsen.“ – S. 114. 123 Siehe FH 3.6: „Elsa wird früh Mutter.“ – S. 114. 116 besserung der wirtschaftlichen Lage der Familie beigetragen haben, bis Elsa sich mit 45 Jahren einer schweren Gehirnoperation unterziehen muss, die eine Frühverrentung zur Folge hat. Auch dieser gravierende Einschnitt motiviert den Mann nicht, sich seiner Krankheit zu stellen. Erst nach unmissverständlicher Aufforderung des Arbeitgebers, der eine Weiterbeschäftigung von einer professionellen Behandlung abhängig macht, zwei Jahre später, erfolgen Entgiftung und stationäre Therapie. Für Elsa muss die Abgabe ihres Mannes in fremde Hände wie ein Misserfolg, wie Versagen und Verrat aussehen. Sie hat es nicht geschafft, ihn zu retten, die Familie beieinander zu halten. Auch die zweite Tochter ist ausgezogen. Es kommt in dieser Phase ihres Lebens zu einer ersten Re-interpretation und Veränderung ihres Lebens, die durch eine zweite, tiefergehende – bei der Therapie, zwölf Jahre später – fortgesetzt und ergänzt wird. 5.2.1.1.5 Zusammenfassende Strukturhypothese124 Drei traumatische Ereignisse überschatten Kindheit und Jugend Elsas, so dass ein zu- nächst behütetes Aufwachsen, in einer finanziell abgesicherten Bauhandwerkerfamilie, nicht mehr gegeben ist und zu einer starken Verunsicherung Elsas geführt haben muss. Der Tod des Vaters bedeutet in der Außenwirkung vor allem wirtschaftlichen Abstieg; mit dem Tod des Großvaters verliert Elsa eine weitere männliche Bezugsperson; der Tod des Bru- ders vereitelt ihre eigenen Berufswünsche und mögliche Statusanhebung. Es ist auffallend, dass Elsa sich fügt und keinen eigenen Weg sucht. Mit Ausnahme des tatsächlich erlernten Berufs im handwerklichen Umfeld verortet sie sich auf der mütterlichen Familienseite, auch im Religiösen, indem sie evangelisch bleibt und sich konfirmieren lässt. In der Mut- ter, die als junge Witwe aktiv wird und die Familie durchbringen muss, hat sie eine starke Identifikationsfigur. Auch in ihrer Familie wird Elsa diejenige sein, die Verantwortung übernimmt und für Stabilisierung sorgt. Durch die starke Ausprägung dieser Wesensseite ist einerseits zu erklären, dass Abhängigkeit und Co-Abhängigkeit mehr als 20 Jahre be- stehen bleiben, andererseits war der Mann immer berufstätig, muss also wenigstens pha- senweise seine Sucht unter Kontrolle gehabt haben. Zum Zeitpunkt des Interviews versteht Elsa ihre Lebensgeschichte, besonders die Entstehung des Helfersyndroms durch das Erle- ben in ihrer Kindheit und lässt eine Bewegung zur Neu-Ausrichtung ihrer Beziehungen, besonders die zu ihrer Mutter erkennen. 124 Die Bezeichnung „Hypothese“ zeigt die temporäre, nicht festlegende Bedeutung an. 117 5.2.1.2 Analyse des erzählten Lebens 5.2.1.2.1 Sequenzierung und Textsortenbestimmung des narrativen Interviews von Elsa Nr. Segment Textsorte Thema / Inhalt 1 1/2 – 1/4 Interaktion Erzählaufforderung 2 1/5 – 1/7 Beschreibung Familiensituation, Geschwister 3 1/7 – 1/9 Beschreibung Tod des Vaters, Situation mit alleinerziehender Mutter 4 1/10 – 1/16 Argumentation, Beschreibung Selbstwertgefühl, Beziehung zur Mutter 5 1/16 – 1/26 Beschreibung Berufsausbildung, Tod des älteren Bruders 6 1/26 – 1/29 Beschreibung Beziehung zum Nachbarjungen, „Sandkastenliebe“ 7 1/29 – 1/30 Erzählung Gefühle der Schwärmerei 8 1/30 – 1/41 Beschreibung Ablehnung, Hochzeit des Nachbarn 9 1/41 – 2/4 Beschreibung Besuch der „Sandkastenliebe“, Trennung vom Freund 10 2/4 – 2/13 Beschreibung Schulden, Eheanfang 11 2/13 – 2/18 Argumentation Einschätzung „ Alkoholiker“ 12 2/18 – 2/34 Beschreibung Schwierigkeiten als Folge des Alkoholismus 13 2/34 – 2/43 Beschreibung Co – abhängiges Verhalten 14 2/44 – 3/4 Beschreibung Umzug, Versuch des Mannes trocken zu werden 15 3/4 – 3/12 Beschreibung Enttäuschung, Reaktion der Töchter 16 3/12 – 3/23 Argumentation Begründung für Festhalten an der Ehe 17 3/23 – 3/32 Beschreibung Aktive Rolle, finanzielle Situation 18 3/32 – 3/41 Beschreibung Berufliche Situation von Elsa 19 3/41 – 4/4 Beschreibung Beziehung der Töchter zum Vater 20 4/4 – 4/16 (18-20) Beschreibung Auszug der älteren Tochter, „Missbrauch“ durch Onkel 21 4/22 – 4/34 Beschreibung Reaktion (Vater, Tochter, Biografin) 22 4/34 – 4/37 Beschreibung Verhalten der Tochter ihrem Kind gegenüber 23 4/37 – 4/42 Beschreibung Druck des Arbeitgebers auf Ehemann, „Versagensgefühle“ bei Biografin 24 4/42 – 5/8 Beschreibung Gehirnoperation und Folgen 25 5/8 – 5/12 Beschreibung Berufliche Situation 26 5/12 – 5/13 Argumentation Begründung des Verhaltens durch Parole der Mutter 27 5/13 – 5/35 Beschreibung Alkoholismus des Mannes 28 5/35 – 5/39 Erzählung Intervention zur Therapie 29 5/40 – 6/1 Beschreibung Bedeutung des Alkohols 30 6/1 – 6/6 Erzählung Geldforderung der Schwiegermutter 31 6/7 – 6/13 Erzählung Konfrontation, Drohung 32 6/13 – 6/21 Argumentation, Belegerzählung Eifersucht, verbale Schläge 33 6/21 – 6/23 Argumentation „ Ich bin die Starke!“ 34 6/23 – 6/41 Beschreibung Druck des Arbeitgebers, Entgiftung, Stationäre Therapie 35 6/41 – 6/48 Erzählung Emotionale Erschütterung 36 6/48 – 7/12 Argumentation, Belegerzählung Besuche in der Klinik, Auszug der jüngeren Tochter 37 7/13 – 7/15 Erzählung Allein im leeren Haus 38 7/15 – 7/16 Argumentation Spätere Einschätzung der Situation 39 7/16 – 7/24 Beschreibung Finanzielle Situation 40 7/24 – 7/44 Beschreibung Erfahrungen des Mannes in einer Selbsthilfegrup- pe, Eifersucht auf Gruppenleiterin, Selbstzweifel 118 41 8/1 – 8/22 Beschreibung Eigene Erfahrungen in der Selbsthilfegruppe, Be- sinnung auf sich selbst 42 8/22 – 8/43 Beschreibung Glaubensfragen, Zweifel 43 8/43 – 9/2 Erzählung Begegnung mit einer älteren Christin in der Einrich- tung 44 9/2 – 9/11 Beschreibung Änderung der Glaubenseinstellung 45 9/11 – 9/13 Beschreibung Ehrenamtliche Arbeit in der Einrichtung (Biografin und Mann) 46 9/14 – 9/37 Beschreibung und Argumente Selbsterkenntnis durch dreijährige Therapie, Selbstwertgefühl 47 9/38 – 10/5 Argumentation Eigene Einschätzung des Helfersyndroms 48 10/5 – 10/12 Beschreibung Verhalten als Leiterin der Angehörigengruppe 49 10/12 – 10/30 Beschreibung Beziehung zur Mutter, Selbstwertgefühl 50 10/31 – 10/39 Argumentation Begründung, weshalb Mutter nicht von ihr persön- lich aufgenommen wird 51 10/39 – 10/47 Beschreibung Vergleich mit Verhalten in der Einrichtung 52 10/47 – 11/12 Argumentation Erklärung für Verhalten der Mutter durch Prägung in ihrer Kindheit 53 11/14 – 11/29 Beschreibung Verändertes Verhalten der Mutter gegenüber 54 11/29 – 11/46 Erzählung Erwartungen der Biografin 55 11/46 – 12/15 Beschreibung Dankbarkeitsproblem der Mutter 56 12/15 – 12/21 Erzählung Mutter ändert sich und bedankt sich 57 12/22 – 12/31 Erzählung Mutter umarmt ihre Tochter, Reaktion 58 12/31 – 12/32 Argumentation Einschätzung des Erlebnisses 59 12/32 – 12/40 Beschreibung Gegenwärtige Situation der Mutter 60 12/40 – 12/47 Erzählung Gespräch mit der Mutter, Pflegeheim 61 12/47 – 13/8 Beschreibung Auflösung der Wohnung, Umzug in ein Pflegeheim 62 13/8 – 13/16 Beschreibung Betreuungssituation, Misstrauen 63 13/16 – 13/26 Erzählung Gespräch mit der Tochter 64 13/21 – 13/23 Argumentation Bewertung der mütterlichen Einstellung 65 13/23 – 13/29 Beschreibung Kontakt mit Bruder 66 13/29 – 13/31 Erzählung Gespräch mit Mutter, Abgabe bürokratisch notwendiger Aufgaben 67 13/32 – 14/4 Beschreibung Situation nach Oberschenkelhalsbruch der Mutter 68 14/6 – 14/18 Erzählung Gespräch mit Mutter, Versuch, sie zu mehr Aktivität zu motivieren 69 14/18 – 14/21 Beschreibung Umzug der Mutter in ein Einzelzimmer des Pflegeheims 70 14/24 – 15/19 Erzählung Auseinandersetzung mit der Mutter wegen ihres undankbaren und respektlosen Verhaltens 71 15/28 – 15/31 15/35 – 16/1 Beschreibung Verändertes Verhalten der Mutter, Dankbarkeit der Biografin 72 15/23 – 15/25 Beschreibung Geplante Aktivität, Einstellung des Ehemannes 73 15/26 – 15/27 Interaktion Dank der Interviewerin–Reaktion der Biografin Ende der Haupterzählung Tabelle 4: Sequenzierung und Textsortenbestimmung des narrativen Interviews von Elsa 5.2.1.2.2 Auswertung Durch die Bestimmung der Textsorten, den gewählten Themen und deren Abfolge wird diesem Analyseschritt der Frage nachgegangen, wie sich die Biografin zum Zeitpunkt des Interviews präsentiert, welche Gegenwartsperspektive das narrative Interview bestimmt. Grundlage ist das Transkript der Haupterzählung, ergänzt durch Anmerkungen aus dem Memo. Elsa wählt zum Interview einen Platz im Raum der Einrichtung wie bei der Sitzung 119 der Angehörigengruppe; offensichtlich gibt ihr das Sicherheit. Sie hat keine Notizen mit- gebracht, spricht frei, flüssig und phasenweise sehr schnell. Von vornherein präsentiert sie sich als eine Frau, die über ihr Leben, auch über Schwierigkeiten und ernste Erfahrungen sprechen kann. Ihre Kindheit und Jugend mit traumatischen Erlebnissen werden in weni- gen Sätzen beschreibend dargestellt. Ein argumentativer Einschub, ein „Erden“ in der Ge- genwart, verhindert außerdem ein emotionales Abgleiten in die Vergangenheit,125 dennoch ist ihre Stimme belegt, dem Weinen nahe, als sie über den wenig wertschätzenden Umgang der Mutter mit ihr als Kind spricht. Die erste Erzählung, in der sie ganz kurz ihre Schwär- merei zum Nachbarsjungen schildert,126 ist eine der wenigen, von 16 Erzählungen in der Haupterzählung mit positivem Inhalt. Die Begegnung mit einer älteren Christin127 und die unerwartete Umarmung der Mutter128 sind die beiden anderen. Alle anderen Erzählungen haben Gespräche oder Auseinandersetzungen zum Inhalt und die Schilderung der persönli- chen Tiefpunkte nach Beginn der Therapie des Mannes129 und dem Auszug der jüngeren Tochter.130 Hier kann die Biografin in der Erinnerung an die damaligen Situationen nur weinend, mit fast erstickter Stimme sprechen. Wieder hilft sie sich mit argumentativen Einschüben, späteren Einschätzungen, in die Gegenwart zurückzukehren und den Erzähl- faden mit fester Stimme wieder aufzunehmen. Mit beeindruckender Fähigkeit, trotz emoti- onaler Erschütterungen, sich wieder zu fangen, präsentiert sie sich als starke Frau, die die Kontrolle behält. Routiniert kann sie auch nach längeren thematischen Einschüben, z. B. nach der Lebensgeschichte der älteren Tochter,131 wieder in ihre eigene Lebensgeschichte zurückfinden. In der Gegenwartsperspektive präsentiert sich Elsa als jemand, der auf we- nig Erfreuliches zurückblicken kann, schwere Erlebnisse, Konflikte und Auseinanderset- zungen waren vorherrschend. Zwei Themenkreise bestimmen die Inhalte: Die Beziehung zum Ehemann, einschließlich Alkoholabhängigkeit und Co-Abhängigkeit und die gegen- wärtige Situation der Mutter und Elsas Beziehung zu ihr, die den weitesten Raum ein- nimmt.132 Zum einen ist das Thema „Mutter“ ein Thema, das Elsa immer noch sehr be- schäftigt, zum anderen ist es ein Thema, über das sie gut sprechen kann, da durch die The- rapie ein Prozess des selbstbewussteren Umgangs mit der Mutter eingeleitet ist. Die in die- 125 Segment Nr. 4. 126 Segment Nr. 7. 127 Segment Nr. 43 128 Segment Nr. 57. 129 Segment Nr. 35. 130 Segment Nr. 37. 131 Segmente Nr. 20-22. 132 Mit Einverständnis der Biografin sind in diesem zweiten Teil der Haupterzählung Kürzungen vorgenom- men worden, die keine neuen Erkenntnisse gebracht hätten. Die Auslassungen sind durch gestrichelte Li- nien im Transkript gekennzeichnet. 120 sem Teil des Interviews häufiger auftretenden Erzählungen zeigen, dass sich Elsa auch emotional sicher fühlt. Es ist nicht das Thema, das die Biografin gegenwärtig oder in jüngster Vergangenheit am stärksten beschäftigt und das Auslöser für die Therapie vor drei Jahren war. Hier signalisiert sie, dass sie nicht darüber reden möchte.133 In einem anderen Zusammenhang wird sie in der zweiten Sitzung dennoch ausführlich darüber sprechen. Offensichtlich hat sie wieder genug Sicherheit gewonnen und/oder das Vertrauen zur In- terviewerin hat sich gefestigt, so dass sie die schmerzlichen Erfahrungen thematisieren kann. Da der ganze Problemkreis, der Elsa existentiell berührt, unter „Erzählzwängen“ entstanden ist, wird nicht weiter darauf eingegangen. 5.2.1.2.3 Zusammenfassung Die Ergebnisse der Analyse deuten darauf hin, dass Elsa verletzlicher ist als ihr Auftreten zunächst vermuten lässt. Die hauptsächlich gewählte Textsorte, die der Beschreibung, ver- rät, dass sie Nähe und Distanz in der Waage halten will. Sie präsentiert sich als jemand, der gelernt hat, mit seiner schweren Lebensgeschichte umzugehen. Sie weiß, was sie sich zu- muten, was sie in der jeweiligen Situation emotional verkraften kann. Die eingestreuten kurzen Argumentationseinschübe verhindern, dass sie sich gefühlsmäßig überfordert. Auch die Wahl der Themen zeigt, dass sie differenziert, Zeit und Gelegenheit abwartet, um auf das Problem zu kommen, das ihr heftiger zugesetzt hat als die vielen Jahre des Lebens mit einem alkoholabhängigen Mann.134 Dass sie ihre Verletzlichkeit, ihr Verletztsein zum Ausdruck bringen kann, verweist auf ihre neugewonnene Stärke. 5.2.1.3 Analyse des erlebten Lebens In diesem Analyseschritt geht es darum, sich in das Fühlen und Empfinden der Biografin hineinzuversetzen. Die subjektive mögliche Bedeutung des Erlebens soll verstanden wer- den; dabei helfen folgende Fragen: Wie wurde das Ereignis damals erlebt? Welche Aus- wirkungen hatte das möglicherweise? Gibt es einen Veränderungsprozess? Indem Alterna- tiven gedacht werden, die sich entweder bestätigen oder widerlegen lassen, ist nicht nur Neues zu entdecken, sondern die in der Lebensgeschichte tatsächlich vorkommende Vari- ante erhält eine besondere Gewichtung. 133 „Ich hab die Gelegenheit vor gut drei Jahren, wo auf einmal bei mir was zusammengebrochen ist, wo ich nicht mit fertig werden konnte, möchte ich aber au jetzt net darüber reden“[…] (I/9/14-16). 134 „Und habe richtig gemerkt, dass mir richtig der Boden unter den Füßen weg war. Also so was hab ich in meinem ganzen Leben noch nicht mitgekriegt, au in der Trinkphase von meinem Mann nicht, muss ich schon ((lacht)) sagen. Das waren Peanuts dagegen noch.“ (I/9/30-9/34). 121 5.2.1.3.1 Selbstwert 1. Textstelle135 „Ja, und mein Leben lief so von meinem Gefühl her, was ich aber erst später festgestellt hab, so wie das fünf- te Rad am Wagen in meiner Familie ((schluckt)). Die Jungs waren was wert, ich nicht. Ich habe //ähm)) im- mer gekämpft ((Stimme leicht weinerlich)) um Anerkennung bei meiner Mutter. Aber sie war weit stärker. Alles, was sie machte, war richtig. Was ich machte, war verkehrt. Ich hab es ihr nie recht machen können in der Hinsicht. Ja, und so bin ich in meinem Leben durchgeschlittert.“ Die Biografin erlebt sich in ihrer Kindheit als überflüssig, nebensächlich, als unwichtig. Im Vergleich zu ihren beiden Brüdern empfindet sie sich als weniger wert. Sie geht von einer Rangordnung innerhalb der Familie aus, bei der sie die letzte Stelle einnimmt. Der Mutter gegenüber fühlt sie sich schwach und wenig durchsetzungsfähig, ja als hilflos ausgeliefert. Sie erlebt sich als jemand, auf den niemand Wert legt, den keiner mag, der um die Aner- kennung der Mutter kämpfen muss. Hier werden die Weichen gestellt für ein tief sitzendes Minderwertigkeitsgefühl, das auch zu psychischen und/oder körperlichen Erkrankungen, z.B. zur Depressivität, hätte führen können. Als Kranke hätte Elsa ein Mehr an Zuwendung herausgefordert. Hypothesen in diese Richtung bestätigen sich nicht. Die Auswirkungen dieser Kindheitsprägung haben aber Einfluss auf alle Lebensbereiche. 2. Textstelle136 „Ich war immer ein Mensch in meinem Leben, dem’s nur gut geht, wenn’s den anderen gut ging. Ich hab immer gleich h i e r geschrien, wenn irgendwas war, ohne, dass die Leute mich gefragt haben, sondern ich war immer gleich präsent. Und die haben mir erst mal die Augen geöffnet, warum ich so geworden bin, wa- rum das so bei mir ist, warum melde ich mich erst oder zuerst, bevor mich jemand fragt und warum überlege ich nicht erst, wenn mich jemand fragt, ob ich’s wirklich machen möchte oder so. Für mich war das über- haupt kein ((phu))? Mach ich. Klar. Ne. Ähm, und das kam durch meine Therapeutin heraus, dass es durch die Kindheit gekommen ist. Dass ich immer gekämpft hab um Anerkennung, immer gekämpft habe, mich zu beweisen, dass mich jemand lieb hat, so ungefähr und (3) diese Zeit mit der Therapeutin hat mir dazu den Weg geebnet, dass ich heute sage, okay, ich bin so wie ich bin. Es muss mich nicht jeder lieben. Das ist Fakt. Das, was ich kann, kann ich. Was ich nicht kann, kann ich auch gut abtreten. Es gibt auch andere, die was machen können. Ich muss net immer gleich h i e r schreien. Ja, ich bin viel selbstbewusster dadurch gewor- den. Viel selbstbewusster.“ Die Biografin erlebt sich als jemand, die ihr positives Lebensgefühl von anderen Menschen abhängig macht, die spontan und unüberlegt Aufgaben übernimmt, sich übermäßig enga- giert, ein klassisches Helfersyndrom entwickelt hat. Um die Minderwertigkeitskomplexe zu kompensieren, hat Elsa die aktive Rolle gewählt. Durch Fleiß und Engagement für an- dere hat sie sich ein starkes Außenskelett gebaut. Sie findet mit Hilfe einer Therapeutin Gründe dafür durch die Prägungen in der Kindheit. Durch die Arbeit mit der Psychologin ist ihr bewusst geworden, wie sie die gefühlte Minderwertigkeit versucht hat auszuglei- chen. Sie erlebt sich heute als selbstbewusster, als jemand, die sich zurücknehmen, die 135 Segment Nr. 4, 1/10-1/16. 136 Segment Nr. 47, 9/38-10/5. 122 Aufgaben delegieren , die sich mit ihren Möglichkeiten und Grenzen akzeptieren kann, die nicht mehr durch Leistung und Engagement um Anerkennung kämpfen muss und die ihre Begabungen umsetzen lernt. Auswirkungen wird diese Veränderung besonders auf ihre Beziehungen in Ehe und Familie haben. 3. Textstelle137 „Gerade bei meiner Mutter hab ich ganz oft diese Schiene gehabt ((lacht)). Also meine Mutter war ein großes Problem in dieser Therapie für mich, weil ich in meinem Alter mit 62 Jahren, vor drei Jahren fing das an, als ich mich geändert habe, ähm, war meine Mutter so ne dominante Person, die immer gesagt hat, du machst dies net richtig, du machst jenes nicht richtig und das musste machen und jenes musste machen. Ich fühlte mich immer so als kleines Kind noch. Und meine Therapeutin hat mir nen Satz mit mir zusammen ausgear- beitet: Ich bin nicht mehr das kleine Kind. Ich bin nicht die kleine Tochter von meiner Mutter, sondern ich bin heute eine erwachsene Frau! Und dieser Satz hat mir wahnsinnig geholfen. Den hab ich mir immer wie- der vorgesagt, ich bin nicht mehr dieses kleine Kind. I c h b i n ein erwachsenes Kind heute, eine erwach- sene Tochter! Und das hab ich dann umsetzen können bei meiner Mutter, Grenzen ihr zu setzen, auf liebevol- le Art und Weise. Ich bin net so einer, der so mit der Faust da irgendwo durchs Leben geht. Ich bin eher die- ser ruhigere, der Gefühlsmensch bin ich mehr und, ähm, ja, siehe da, meine Mutter hat sich geändert. Und das war für mich so dieser positive, ähm, ja, diese positive Erfahrung, die ich mit meiner Mutter jetzt noch erleben durfte. Weil so’ne Mutter, wie sie jetzt gerade ist, hätte ich mir mein ganzes Leben gewünscht ((lacht)). Elsa erlebt sich jetzt ihrer Mutter gegenüber nicht mehr als das kleine, hilflose Kind, son- dern kann ihr als erwachsene Tochter gegenübertreten. Sie ist immer noch Tochter, keine distanzierte erwachsene Frau, aber als erwachsenes Kind kann sie ihrer Mutter Grenzen setzen und eigene Bedürfnisse äußern. Die Mutter ist immer noch sehr wichtig, aber dass die Mutter sich geändert hat, gibt ihr Aufschwung, bestätigt sie in ihrem Lernprozess, ein selbstbewussteres Leben zu führen. Die Veränderungen in der emotionalen Beziehung empfindet sie als positive Erfahrung, die sie ermutigt, auch in anderen Bereichen die Er- kenntnisse aus der Therapie umzusetzen. 5.2.1.3.2 Beruf 1. Textstelle138 „Ich hab zwar auch einen Beruf erlernt. Ich wollte eigentlich Kinderkrankenschwester werden damals ((schluckt)), hatte aber keine mittlere Reife und musste dadurch in einem Krankenhaus so ne Hauswirt- schaftsschule absolvieren. War so ein halbes Jahr vor Prüfung. Da ist mein ältester Bruder tödlich verun- glückt, umgebracht worden sozusagen, und dann bin ich dann bei meiner Mutter, weil sie kein Geld hatte, er stand kurz vor der Gesellenprüfung, wo Geld dann ein bisschen ins Haus kam, wo meine Mutter mit gerech- net hatte ((ähm)), ja, da war kein Geld mehr da und da habe ich diese Ausbildung abgebrochen und bin in eine Fleischereiausbildung rein, Fleischereifachverkäuferin. Hab ich nach dreieinhalb Jahren absolviert.“ Elsa erlebt sich als Jugendliche, die einen eigenen, weiblich-mütterlichen Berufswunsch hat, Kinderschwester werden will und dafür bereit ist, den Umweg über die Hauswirt- schaftsschule zu gehen. Diese positiven Anzeichen der Eigenbestimmung finden durch den 137 Segment Nr. 49, 10/12-10/30. 138 Segment Nr. 5, 1/16-1/26. 123 Unfalltod des älteren Bruders ein jähes Ende. Elsas Enttäuschung ist ihr nur vorübergehend in der Sprechweise, ((schluckt)), anzumerken, die Satzkonstruktion durchzuhalten, fällt ihr schwer. Die dominante Mutter und die wirtschaftliche Lage der Familie entscheiden. Elsa fühlt sich verantwortlich für den Ausgleich, wird Fleischereifachverkäuferin. Die Ausbil- dung des Helfersyndroms bekommt hier vermutlich entscheidenden Auftrieb. Elsas Selbstwertgefühl könnte gestützt sein durch Gedanken wie: „Durch den Verzicht auf mei- nen eigenen Weg mache ich es (endlich) der Mutter recht, kann ich der Familie helfen, bin ich wichtig!“ Ob sie der Mutter je verziehen hat, dass sie ihr damals nicht geholfen hat, ihren eigenen Weg gehen zu dürfen, ist nicht bekannt. Die Mutter hätte durchaus Alterna- tiven gehabt, z.B. Hilfe bei der väterlichen Familie anzufordern oder ein Stipendium zu beantragen. 2. Textstelle139 „Ich hab immer mitgearbeitet, aber nie auf Steuerkarte, muss ich dazusagen, weil alles, was ich mitgearbeitet habe, hätte an seiner Unterhaltszahlung von seinem Sohn, wär mit angerechnet worden. Ich hab dadurch wenig Rente jetzt, muss ich dazusagen, sehr wenig Rente, ((holt tief Luft)) ähm, weil ich gedacht habe, naja, wenn die Unterhaltszahlung weg ist, dann kannste nochmal richtig durchstarten mit deinem Beruf, dass du dich anmeldest und so, ja. Zwei Jahre hab ich’s gekonnt. Danach wurde i c h sehr krank und bin seit 16 Jahren in offener U-Rente. Konnte meine Berufswege nicht mehr so durchziehen, wie ich es mir erhofft habe zu dem damaligen Zeitpunkt.“ Elsa erlebt sich auch in ihrer Ehe als diejenige, die sich für die Verbesserung des wirt- schaftlichen Niveaus verantwortlich fühlt. Das Problem der Unterhaltszahlung an die erste Familie des Mannes veranlasst sie, immer wieder einmal ohne Steuerkarte zu arbeiten. Durch die Frühverrentung nach der Gehirnoperation sieht sie sich zutiefst enttäuscht, dass sie ihren Beruf nicht mehr so ausüben kann, wie sie es erhofft hatte und nur eine kleine Rente bekommt. Die Wichtigkeit dieses letzten Tatbestandes wird durch die Wiederholung betont („wenig Rente“.. „sehr wenig Rente“). Elsa wird an einem für sie existentiell wich- tigen Punkt getroffen, sie kann nicht mehr die Aktive, Gebende, Rettende sein. Ihr Selbst- wertgefühl bekommt einen furchtbaren Schlag, dennoch finden Hypothesen, dass sie pas- siv, depressiv, psychisch krank wird, keine Bestätigung. 3. Textstelle140 „Dann musste ich in der Zwischenzeit auch in die Reha und Berufsunfähigkeit und alles das, was da so dran- hängt. Da ist mir bestätigt worden, dass ich nur noch zwei Stunden am Tag belastbar bin zu dem Zeitpunkt und bin dann in die Rente rein und hab dann gedacht, okay, du lebst, das andere wird schon wieder.“ Die Frühverrentung wird noch einmal thematisiert. Hier relativiert Elsa die negative Be- deutung. Sie erlebt sich als jemand, der einen schweren Eingriff überlebt hat, ist dankbar 139 Segment Nr. 18, 3/32-3/41. 140 Segment Nr. 25, 5/8-5/12. 124 dafür und sieht trotz allem hoffnungsvoll in die Zukunft, …“das andere wird schon wie- der.“ 5.2.1.3.3 Christlicher Glaube 1. Textstelle141 „Christlich von der Familie erzogen sind wir nicht, bin ich nicht. Ich wusste, dass es nen lieben Gott gab. (3) in meiner Kindheit kann ich mich an nichts Kirchliches erinnern. Wir hatten zwar in der Verwandtschaft jemand, der sehr christlich war. Da drüber haben wir früher gespottet als Kinder, wie das halt so ist. (3) Dann wie mein Vater gestorben war, so, wie ich das, ähm, und mein Bruder und mein Opa, da kam bei mir immer so der Gedanke, Mensch, warum macht das der liebe Gott und warum lässt er das zu? Ne? Aber auch da hab ich noch net so das, diese, ja, wie soll ich sagen. Ich war immer der Meinung (1) früher, ich glaube nicht an Gott. Ich glaube an das, was ich sehe, und den kann ich ja net sehen. Ne. Sonst würde er ja vieles nicht ma- chen, von kindlicher Seite her gesehen. Dann war bei mir ne Situation, da war ich so 12, 13 Jahre alt, wo ich Panikattacken teilweise hatte, und zwar hab ich mir immer vorgestellt, wenn du jetzt stirbst, du kommst ja nieee wieder auf die Welt auf. Das war für mich ganz, ganz schlimm. Was ist, wenn du stirbst? Da ist ja gar nichts mehr. Da ist ja, ich hab immer gedacht, das ist die Welt und außen rum ist gar nichts sozusagen, wie das Weltall. Ne. Und dann biste irgendwo und du weißt nie, was mit dir wird, das. Unendlich. Und das fand ich immer ganz schlimm damals und (1) wie ich dann zur Konfirmation gegangen bin, da hab ich das mal erzählt, und dann meinte der Pfarrer G. damals zu mir, nee, seine Frau, mit der habe ich darüber gesprochen, die meinte: „Da ist aber Gott !“ Und da hab ich gedacht, was erzählt sie mir, „da ist Gott“. Und dann hat sie versucht, das mir, ähm, ja, schönzureden, dass ich dran glauben tu. Aber es hat sich da au noch nichts getan bei mir. Die Konfirmation hab ich, ja, nur wegen dem Finanziellen durchgezogen, wie man so schön sagt. Ne. Ähm, obwohl da nicht viel rausgekommen ist damals in der Situation, wo wir drin waren. Ähm (3), ich habe angefangen, mehr dran zu glauben, ja, in den Jahren, in den letzten Jahren, wo mein Mann so stark getrunken hat, dann. Da hab ich immer, wenn‘ mir nicht gut ging, muss ich immer sagen, immer, wenn’s mir nicht, wenn ich ganz unten war, dann hab ich gesagt: „Mensch, lieber Gott. Wenn de wirklich da bist, dann hilf uns doch mal.“ Ne. Das ist die eine Schulter gewesen, wo’s Engelchen drauf war. Auf der anderen Schul- ter war das Teufelchen drauf und hat immer wieder zur Antwort gegeben: „Der kann dir net helfen. Den gibt’s net.“ Ne.“ Elsa erlebt sich als Kind nicht im christlichen Glauben beheimatet, eine positive Konditio- nierung hat offensichtlich nicht stattgefunden; sie bezeichnet sich als gottgläubig, ist aber eher in der materiellen Welt verhaftet. Bedingt durch die traumatischen Verlusterfahrungen in ihrer Kindheit hat sie mit Ängsten und Panikattacken zu tun und die Frage nach dem eigenen Tod treibt sie um. Die Antwort der Pfarrfrau erreicht sie nicht; vermutlich fühlt sie sich eher belehrt oder sogar manipuliert. "Und dann hat sie versucht, das mir, ähm, ja schönzureden.“ Als Erwachsene wendet sie sich in Krisenzeiten betend an Gott. Sie ver- steht heute ihr damaliges Verhalten als ambivalent, zwischen Vertrauenwollen und Zwei- feln. Die Hypothesen gehen in zwei Richtungen, die eine, dass der christliche Glaube zur Kraftquelle wird, z. B. indem sie sich jemanden in der Gemeinde anvertraut und mit dieser Person zusammen betet, die andere, dass sie sich angesichts der nicht aufhörenden Schwie- rigkeiten allem Christlichen gegenüber gänzlich verschließt. Beide Hypothesen finden zu- nächst keine Bestätigung. Erst viele Jahre später wird sich die erste Hypothese durch Be- gegnungen mit anderen Christen in der Einrichtung verifizieren. 141 Nachfragephase, A22 II/ 8/-8/41, CD I. 125 2. Textstelle142 „Und, aber irgendwo hat mir dieses Leben hier in der Einrichtung durch viele ältere, ähm, Mitglieder hier, ich war fasziniert von, davon, wie die ihre Schicksale annehmen konnten ((holt tief Luft)), ähm, ohne irgendwo verbittert zu sein oder zu hadern, oder man hat’s jedenfalls nicht so gemerkt. Und dann hab ich mal, wir waren mal weggewesen auf so’ner Freizeit und sie saß bei uns im Auto und da hab ich nur zu ihr gesagt: „L., so wie du möchte ich auch mal Christ sein.“ Die guckt mich ganz abergläu- bisch an. „Hä? Bist du noch normal?“ Sag ich: „So, wie du lebst, so, du hast so ne innere Ruhe, du bist so ausgeglichen. So möchte ich auch mal werden. Das ist doch, so stell ich mir nen Christ vor.“ Da meinte die: „Elsa, du bist schon längst Christ und merkst des gar net.“ Und das hat mir, ja, geholfen, meinen Blick zu ändern. Meinen Blick zu ändern dahin, dass ich in dieser Richtung mein Herz öffnen kann, dass da wieder Platz ist für Gott.“ In der Einrichtung fühlt sich Elsa von einer älteren Christin durch ihre warmherzige Aus- sage angenommen und wertgeschätzt; sie sieht sich auf dem Weg des Christwerdens ge- stärkt und gefördert. 3. Textstelle143 „Und da hatte mr ne Bildmeditation, n Bild, wo Jesus, ähm, auf em Stuhl sitzen tut und n Jünger kniet vor ihm und lauter Schäfchen um ihn herum. Und mir sollten das Bild angucken und uns, und gucken, was kommt einem. Ich hab gedacht, das schaff, brauchste gar nicht, hast noch nie gekonnt. Ne. Ich hab das Bild fünf Minuten angeguckt und auf einmal war mein DIN-A-4-Blatt voll. Wir sollten unsere Eindrücke hinter- lassen, schriftlich. Und zum Schluss hab ich nen Satz genommen: „Ich bin zu Hause angekommen!“ (3) Und das war für mich dieses Aha-Erlebnis, dass ich, ähm, gemerkt hab, dass ich mir selber mit meiner Einstellung im Wege stand zu Gott. Dass er immer an meiner Seite war, das hab ich dann nach und nach herausgefunden für mich, ähm, dass ich, wie soll ich sagen, ich hab mich als Jünger da gesehen. In dem Bild in dem Moment. Ne. Dieses Geborgene, dieses, dieses warme Gefühl kam bei mir an. Ne. Und ich hab so das, ich arbeite gerne immer so mit Bildern und dann kann ich mir das besser vorstellen, und ich seh mich drin in einem Raum. Die eine Tür ist zu und die andere ist n runder Bogen, ne Tür zum nächsten Raum rein. Und in diesem Raum, davor stand ich, davor, und die Tür ging auf. Den Schritt hab ich noch net reingemacht. Aber in dem Moment ging für mich so die Tür auf und da kam Wärme, Sonnenstrahlen kamen mir entgegen. Ne. Und das mache, sehe ich für mich heute so, dass ich das, diese, diese, dieser eine Punkt für mich der Weg war, wo ich mein Herz wieder geöffnet hab für Gott, muss ich ehrlich sagen.“ Nach einem Schlüsselerlebnis definiert sich Elsa als Jüngerin: „Ich bin zu Hause ange- kommen!“ Rückblickend kann sie auch Beistand, Begleitung und Bewahrung Gottes in ihrem Leben erkennen. Ihre veränderte Einstellung hat Auswirkungen auf ihr ganzes Le- ben. Der christliche Glaube ist zur Ressource geworden. 4. Textstelle144 „Es gab Situationen danach, ähm (2), wo ich gehört hab, wenn du irgendwas hast, bete zu Gott. Ne? Er hilft dir dann. Und da hab ich gedacht, okay, das versuchste jetzt. Und dann gab’s ne Situation, wo ich wirklich auch Punkte hatte, wo ich nicht weiterkonnte oder keinen anderen Weg gesehen habe, sag mer mal so. Und dann hab ich abends in meinem stillen Kämmerchen gebetet, ((holt tief Luft)) dass er mir, ähm, richtig Zwie- sprache mit ihm gehalten, dass er mir bitte nen neuen Weg zeigen kann, ob er mir einen neuen Weg zeigen kann. Und ich hab ne Nacht drüber geschlafen und am nächsten Tag war ein anderer Weg da. Und das sind so kleine Highlights, wo ich aufbaue mein Leben wieder.“ 142 Segmente: Nr. 42 (Ausschnitt: 8/39-8/49); Nr. 43 (8/43-8/49); Nr. 44 (Ausschnitt: 8/49-9/2). 143 Nachfragephase, A22 II/ 9/8 – 9/30, CD I. 144 Nachfragephase, A22 II/ 9/42-10/9, CD I. 126 Elsa nimmt Rat aus der christlichen Gemeinschaft der Einrichtung an und entwickelt sich zur treuen Beterin. Gebetserhörungen erlebt sie als aufbauende Höhepunkte, die ihr neues Leben bereichern. 5.2.1.3.4 Ehe/Ehemann 1. Textstelle145 „Ja, zu dem Zeitpunkt kannte ich meinen Mann schon. Wir waren damals Nachbarskinder. Ich war immer schon hinter meinem Mann her. Da war ich fünf, sechs Jahre alt. Das war so eine Art Sandkastenliebe.“ - „Wenn ich ihn gesehen hab, dann fing ich an zu stottern und ja, war hin und weg von ihm gerissen.“ Elsa hat als Kind (und auch noch als Jugendliche) schwärmerische Gefühle für den um einige Jahre älteren Nachbarsjungen. Die Hypothesen, die in Richtung „Überwindung“ dieser Gefühle gehen, erfüllen sich nicht. Zeitweise müssen sie aber auf „Eis“ gelegen ha- ben, denn der Nachbar heiratet eine andere Frau und Elsa hat einen Freund. Der Mann heiratet eine Kusine zweiten Grades. Die Ehe scheitert, er sucht Kontakt zur Mutter der Biografin. Als diese 19 Jahre alt ist, verlässt sie ihren damaligen Freund und wendet sich ihrer „Sandkastenliebe“ zu (Segmente Nr. 8 und 9). Mit 20 Jahren heiratet sie den inzwischen geschiedenen Mann.146 2. Textstelle147 „Ja, er ist geschieden von der Frau, hat ein Kind. Hat ganz unten wieder anfangen müssen, weil das Geld, was er damals bei der Ehe hatte und es ist mit Schulden aufgebaut worden; er hat sehr viel Schulden mit in unsere Ehe mit reingebracht auch. Und am Anfang, ja, unsere Ehe war glücklich, wie man so schön sagt, nä, jetzt endlich, nä. Dass er Bier getrunken hat zu dem damaligen Zeitpunkt hab ich gemerkt. Aber für mich gehörte damals das Biertrinken zur Männlichkeit dazu. Weil ich kenn’s nicht, dieses Alkoholmäßige aus unserer Familie heraus, sondern Biertrinken war so was ganz Nettes, Höfliches, ne? Gehört einfach zur Männlichkeit dazu.“ Elsa ist am Ziel ihrer Träume; der Mann, für den sie schon als Kind schwärmte, hat sich nun doch für sie entschieden. Für ihr Selbstwertgefühl muss das stabilisierend gewesen sein. Dennoch gibt sie zu erkennen, dass sie die Altlasten, die er in ihre Ehe mitbringt, rea- listisch wahrgenommen hat. Vom Glücklichsein spricht sie erst nach dem Thema „Schul- den“ und das mit einer einschränkenden Floskel: ..“wie man so schön sagt, nä, jetzt end- lich, nä.“ Die Rede vom Bierkonsum schließt sich gleich an. Elsa scheint sich zum Glück- lichsein verpflichtet zu fühlen, andererseits sind da von Anfang an Geldsorgen und der Alkoholmissbrauch, den sie zunächst falsch einschätzt und mit ironischem Unterton cha- rakterisiert: „Biertrinken war so was Nettes, Höfliches, ne? Gehört einfach zur Männlich- keit dazu.“ Sie bringt damit auch ihre damalige Ahnungslosigkeit in Bezug auf die Alko- holkrankheit zum Ausdruck. 145 Segmente: Nr. 6 (1/26-1/29), Nr.7 (1/29-1/30). 146 Kursiv gedruckt werden einige zusammenfassende Sätze eingefügt, die das Verständnis der nächsten Textstelle erleichtern sollen. 147 Segment Nr. 10, 2/4-2/13. 127 Nach etwa vier Jahren muss sich Elsa eingestehen, dass ihr Mann alkoholabhängig ist; sie findet weder bei ihrer Mutter noch bei der Schwiegermutter Gehör oder Unterstützung. 3. Textstelle148 „Ich hab am Anfang viel kontrolliert, hab ihm beweisen wollen, dass ich merke, dass er trinkt, dass er mehr trinkt. Ich hab Zeichen gemacht an Bierkisten und an Stöpseln. Also, ich hab mich selber verrückt gemacht. Ich war richtig in dieser Schiene drin, ihm was zu beweisen, dass ich Recht hatte, damit er aufhört. Hat natür- lich nichts genützt in der Hinsicht. Er hat alles rausbekommen, weil ich mich ja verraten hab, auch, dass ich das und das gemacht hätte, und er sollte mich nicht anlügen. Naja, mit der Zeit kriegen die ja auch einen richtigen Dreh raus, wie sie alles verheimlichen können. Hat er sehr gut gekonnt, muss ich dazusagen. Ob- wohl ich andere Merkmale dann mittlerweile hatte. ((holt tief Luft)).“ Elsa schildert sich als typische Co-Abhängige in der Kontrollphase. Je stärker sie interve- niert, desto raffinierter werden die Methoden des alkoholabhängigen Partners. Heute würde sie eine andere Haltung einnehmen: „Es ist deine Sache, nicht meine. Ne. Das hätte ich schon früher haben müssen.“149 Auch würde sie wohl eher eine Trennung erwägen, han- deln und nicht nur drohen. Durch Umzug in ein Haus kommt es vorübergehend zu einer Verbesserung der Lebensumstände. „Wir waren glücklich, bis dann wieder mehr der Alkohol im Spiel war.“ (2/50). Besonders die Töchter sind enttäuscht und raten zur Trennung. 4. Textstelle150 „Aber ich hab festgehalten. Ich hab festgehalten, weil ich gedacht hab, Mensch er ist ja kein schlechter Mensch. Da war zu dem Zeitpunkt immer noch diese, ja, so’n bisschen Liebe da. Die Hoffnung war ganz groß bei mir. Die Hoffnung, dass er’s doch irgendwann packt. Weil, das ist ja nicht schlimm, mit dem Al- kohol aufzuhören. Ne? Ich konnte es ja auch. Warum kann er das net? Net? Das ist so die Sache, ähm, ja, wo ich immer wieder gesagt habe, nee, er schlägt uns nicht, er geht arbeiten. Ich hab immer die positiven Sachen rausgeholt, immer. Das eine Negative, was ich bisher immer nur gesehen hab, war der Alkohol, den er ge- trunken hat, ne. Aber der ganze Rattenschwanz, den ich erst nach Jahren mitbekommen habe, sozusagen, den habe ich zu dem Zeitpunkt gar nicht gesehen, muss ich ehrlich sagen.“ Elsa sieht sich als diejenige, die die Alkoholabhängigkeit unterschätzt, die hofft, dass der Mann einfach aufhört zu trinken, ein Einsehen hat. Sie betont das Positive: keine Gewalt, geht regelmäßig seinem Beruf nach. Es fällt ihr schwer, ihr Bild von ihrem Traumprinzen aufzugeben. Übersehen werden dabei die Auswirkungen auf die Kinder, auf sich selbst, auf das ganze soziale Gefüge: „Wenn die (Töchter) nach Haus gekommen sind, die haben kei- ne Freunde mit nach Hause gebracht. Das ist mir aber auch alles hinterher erst so bewusst geworden. Das ist mir zu dem damaligen Zeitpunkt, hab ich gar net gemerkt.“ (3/43-3/45). Elsa ist so beschäftigt mit der familieninternen Bewältigung der Problematik, dass sie „den ganzen Rattenschwanz“ nicht wahrnehmen will oder kann. 148 Segment Nr. 13, 2/34-2/43. 149 Nachfragephase, A22 II 11/17-11/18, CD I. 150 Segment Nr.16, 3/12-3/23. 128 5. Textstelle151 „Ich hab auch nicht gesehen, dass ich was für mich machen muss, kann, auch net, sondern ich war der Mei- nung, ich bin die Starke, ich schaffe das, ich manage das alles, ich manage die Erziehung der Kinder, ich manage, wenn wir irgendwo in den Urlaub fahren. Ich hab alle Freiheiten mit der Zeit bekommen, weil er nicht in der Lage war, es zu organisieren, ob’s Bankgeschäft ist, ob’s finanzielle Sachen sind. Wir waren sehr stark im Ruin dadurch drinne, durch seine Alkoholsucht. Er hat zweimal Führerschein in der Zeit weggehabt. Er hat mächtig geraucht zu dem Zeitpunkt. Alles, ne. Also, ich sag einmal, 600, 700 Euro waren im Monat nur für meinen Mann von der Trinkerei und von den Zigaretten alles.“ Elsa übernimmt immer mehr Verantwortung, sie sieht sich als alleinerziehende Mutter, sie übernimmt es, alles zu organisieren, Entscheidungen ohne den Partner zu treffen, für den finanziellen Ausgleich zu sorgen und fühlt sich dabei gut. „Ne, und denk auch, du schaffst das schon. Ich hab mich ja innerlich so kraftvoll auch gefühlt.“152 Erst durch ihre schwere Erkrankung 1996 wird ihr die Kraft genommen, diese aktive Rolle aufrecht zu erhalten. Ein Zusammenhang mit dem jahrelangen Missachten eigener Bedürfnisse wird nicht the- matisiert. 6. Textstelle153 „Und da war ne Phase, wo ich gesagt hab, ich kann net mehr. Und das war nach drei Jahren nach meiner Erkrankung, wo ich dann gesagt hab: „Wenn du nicht aufhörst und was machst für dich, und unsere jüngste Tochter auch ausgezogen ist, dann kann es sein, dass ich von heute auf morgen weg bin.“ Sag ich, „ich schaff’s net mehr. Ich muss meine ganze Kraft für mich brauch ich nur noch, um mit mir selber klar zu kommen.“ Und sag ich, „und da ist kein anderer Mann dazwischen.“ Elsa erlebt sich nach dem schweren Eingriff als sehr schwach, die die verbliebene Kraft für sich selbst braucht. Als Co-Abhängige ist sie in der Anklagephase angekommen. Ihren resignierenden Androhungen folgen aber keine konkreten Schritte. Offensichtlich weiß der Mann um diese Schwäche, die innere Bindung und/ oder die finanziellen Gründe, die es verhindern, dass Elsa in die eine oder andere Richtung tatsächlich handelt. Sie hätte auch Hilfe für sich selbst in Anspruch nehmen können. Um ihretwillen ändert sich der Mann jedenfalls nicht. Auf Druck des Arbeitgebers geht der Ehemann in ein Krankenhaus zur Entgiftung, findet daraufhin zu einer Einrichtung, in der eine 13wöchige stationäre Therapie erfolgt. 7. Textstelle154 „Ich habe hinterher Rotz und Wasser geheult, wie ich ihn hier abgeben musste ((Stimme bricht)) (3). Die Verzweiflung, warum hab ich’s net schaffen können ((weint))? Warum ((weint)), warum muss das ein Frem- der machen? Warum schaffe ich als Partner, die er angeblich lieben tut, warum schafft die das nicht? Warum schaffen’s die Kinder net mit ihm? Warum schafft’s die ganze Familie nicht, ihn trocken zu kriegen? ((weint)). Da müssen erst fremde Leute kommen.“ 151 Segment Nr. 17, 3/23-3/32. 152 Nachfragephase, A22 II/ 6/12-13, CD I. 153 Segment Nr. 31, 6/7-6/13. 154 Segment Nr. 35, 6/41- 6/48. 129 Elsa sieht sich als Versagerin, trotz aller Bemühungen hatte sie keinen Einfluss auf die Motivation ihres Mannes, sich endlich in Behandlung zu begeben. Sie hat ihrem Gefühl nach, ihren inneren Auftrag, den Mann zu retten, die Familie zusammenzuhalten, nicht erfüllt. In der Erinnerung daran muss sie auch heute noch bitterlich weinen. Dass hier die Wende zum Guten beginnt, kann sie zunächst aus der emotionalen Betroffenheit heraus - sie hat keine Kontrolle mehr, fühlt sich hilflos und verlassen - nicht erkennen. Hypothesen, dass sie in dieser Haltung verharren, krank oder sich jetzt von ihrem Mann trennen wird, bestätigen sich nicht, wohl aber die Hypothese, dass es eines langen Änderungsprozesses bedarf, weil tief verletzte Persönlichkeitsschichten betroffen sind. 8. Textstelle155 „Und dann irgendwann hat er mich mitgenommen in die Gruppe rein. Und dann haben die Gruppenteilneh- mer bei mir gesagt, ich sollte was für mich tun. Da kam als Angehöriger immer der Aufruf. „Wieso muss ich was für mich tun? Ich bin doch der, der hier die ganze Zeit nur gemacht hat und getan hat und gemanagt hat. Wieso muss ich was für mich tun? Er hat doch das Alkoholproblem. Das, so kam das bei mir an. (2) ((lacht)) – holt tief Luft)) Und ich hab mich da lange, ich habe drei oder vier Mal, also, ich bin dann auch regelmäßig mit rein jede Woche. Da habe ich immer gedacht, was wollen die von mir? Wieso muss ich was für mich tun? Ich, ich, ich funktioniere doch noch! Ich hab doch keene Probleme! Ja, bis ich dann das ge- merkt habe, wo meine Probleme wirklich waren, dass ich gar net die Starke war, dass ich nur die äußere Fassade so gemacht hab. Die innere war ganz anders da: anlehnungsbedürftig, hilfesuchend, fertig mit sich und der Welt ((lacht)). Also, was ich da alles für mich wahrgenommen habe und dieser lange Weg, da raus- zukommen wieder, das war für mich, muss ich dazusagen, die Selbsthilfegruppe ein wunderschöner Start für mich gewesen, muss ich ehrlich sagen, um endlich für mich was zu lernen. Denn sonst funktioniert man ja doch nur weiter. Und wir haben sehr viele Seminare hier besucht, Wochenendseminare, wo ik immer wieder auch in meinem Leben gucken, oder überwiegend nur in meinem Leben, sagen wir mal so, immer geguckt und gemacht habe…“ Elsa fühlt sich in der ersten Zeit in der Selbsthilfegruppe der Einrichtung fehl am Platz und versteht auch die Appelle der anderen nicht, die ja auch Betroffene sind und sich ausken- nen, dass sie etwas für sich selbst tun soll. Die Gruppe muss es geschafft haben, ihr so viel Sicherheit zu geben, dass sie das starke Außenskelett, das sie sich zugelegt hatte, nicht mehr braucht und ihre innere Unsicherheit und Anlehnungsbedürftigkeit zugeben kann; ihre innere Sicherheit beginnt zu wachsen. Dass sie für sich selbst lernen kann, empfindet sie dann als „wunderschön“. Es gelingt ihr, die seit Kindheit an trainierte Anstrengungsbe- reitschaft für sich selbst zu nutzen. 155 Segment Nr. 41, 8/1-8/22. 130 5.2.1.4 Risiko- und Schutzfaktoren: Lebensgeschichte Elsa 5.2.1.4.1 Kindheit – Risikofaktoren In der Kindheit/Jugend gibt es drei traumatische Erlebnisse, die ein extremes Risiko für die psychosoziale Entwicklung Elsas bedeuten, da sie in Phasen erhöhter Vulnerabilität auftre- ten:  Tod des Vaters Elsa ist fünf Jahre alt, in der Entwicklungsphase des Gestaltwandels.  Tod des Großvaters Elsa befindet sich in der Pubertät.  Tod des älteren Bruders Elsa ist 16 Jahre alt und nach den Stufen der „Entwicklung des Selbst“ von Erikson in der Phase, in der Identität entwickelt wird. Der Ausbildungs- bzw. Berufs- wechsel wird ihr aufgezwungen. Hinzu kommt nach dem Tod des Vaters ein niedriger sozioökonomischer Status,156 der für Elsa in Beziehung zu Mobbing157 in der Schule steht. Der wenig wertschätzende Erzie- hungsstil der Mutter mit negativen Reaktionen auf Elsas Anstrengungen158 bewirkt ein niedriges Selbstwertgefühl, ein „deutlicher Risikofaktor“ (Lyssenko & Bengel 2012:12). 5.2.1.4.2 Kindheit – Schutzfaktoren Dass zunächst Mutter und Vater, dann Mutter und Großeltern verlässliche Bezugspersonen für Elsa waren, sollte als risikomildernder, als Schutzfaktor gesehen werden und auch, dass von einem Zusammenhalt in der Familie159 auszugehen ist, da die Großeltern zur Unter- stützung der Mutter nach dem Tod des Vaters mit in die Wohnung ziehen. Altersangemes- sene Verpflichtungen im Haushalt dürften sowohl von der Mutter als auch von der Groß- mutter gefordert und gefördert worden sein. Soziale Ressourcen sind angelegt worden. Da der christliche Glaube in Elsas Kindheit keine positive Rolle spielt, ist als personale Res- source nur die stabile körperliche Gesundheit auszumachen.160 Als Folge der mütterlichen Interventionen muss sich eine gesteigerte Anstrengungs- und Einsatzbereitschaft entwi- ckelt haben. „Wenn ich fleißig bin und mich anstrenge, alles tue, was von mir verlangt wird, dann werde ich gebraucht, dann muss man mich anerkennen, dann bin ich auch exis- tenzberechtigt.“ Großmutter und Mutter sind durch ihre aktiven Lebensbewältigungsstrate- 156 Siehe Wustmann Seiler (2012:38) – Anlagen, A10. 157 Siehe Wustmann Seiler (2012:39) – Anlagen, A11. 158 Siehe Wustmann Seiler (2012:38) – Anlagen, A10. 159 Siehe: Soziale Ressourcen innerhalb der Familie (Wustmann Seiler 2012:116) – Anlagen, A15. 160 Siehe Wustmann Seiler (2012:115) – Anlagen, A14. 131 gien Vorbilder darin, sich nicht unterkriegen zu lassen, eindeutige Verstärker für Elsas aktive Rollenausbildung und die Übernahme von Copingstrategien.161 5.2.1.4.3 Erwachsenenalter – Risikofaktoren Im Leben einer Frau mit einem alkoholabhängigen Partner ist die Stresssituation alltäglich gegeben. Alle sechs Biografinnen sprachen von den zwei Persönlichkeiten des Ehepart- ners, unter Alkoholeinfluss und ohne. Die Unterschiede sind auszuhalten, auch die bangen Fragen: „Mit wem habe ich es heute zu tun, wie wird er sich heute verhalten?“ Auch das Gefühl, alleinerziehend mit einem weiteren Kind, dem alkoholabhängigen Mann, zu sein, wurde von vier Biografinnen geäußert. In Elsas Leben sind folgende Stressoren oder Risi- kofaktoren auszumachen:  Ausgesetztsein von Dauerstress  Anspannung, Ungewissheit  Finanzielle Schwierigkeiten  Beziehungsprobleme, Streit  Fehlen eines sozialen Netzwerks für die Familie  Fähigkeiten von Elsa werden ausgenutzt.  Verantwortung muss allein getragen werden.  Gefahr der Verausgabung 5.2.1.4.4 Erwachsenenalter – Schutzfaktoren162 Einige Schutzfaktoren, stehen den Risiken gegenüber, federn sie ab und ermöglichen so, wie in Elsas Fall, ein jahrelanges Aushalten der Situation.  Selbstwirksamkeitsüberzeugung „Ich bin die Starke!“ „Ich schaffe das!“ „Ich werde gebraucht!“  Positive Emotionen durch die Kinder  Erholungsphasen, z. B. Urlaube (Phasen, in denen der Alkohol eine weniger wich- tige Rolle spielte.)  Finanzielle Unterstützung durch die Schwiegereltern  Soziale Kontakte und Ablenkung durch die Arbeitseinsätze von Elsa in ihrem Be- ruf, Verbesserung der finanziellen Lage  Stabile körperliche Gesundheit  Schnelle Regenerierungsfähigkeit. Elsa selbst sieht die kurzen Erholungsphasen als einen wichtigen Puffer gegen die Belas- tungssituation an und nennt andere entlastende Faktoren, dass die Töchter ohne Probleme groß wurden, dass die Schwiegereltern gelegentlich aushalfen, dass der Mann, auch in sei- 161 Elsa zitiert ihre Mutter, als es darum geht, sich nicht hängen zu lassen: „Das ist so von meiner Mutter: Kopf unter dem Arm und durch.“ (Segment 26, 5/12-5/13). 162 Siehe Lyssenko & Bengel (2012:9). 132 ner schlimmsten Alkoholphase, nicht gewalttätig wurde und durchgängig, nur mit Aus- nahme der Therapiezeit, berufstätig sein konnte.163 In der Einrichtung baut sich ein soziales Netz für Elsa und ihren Mann auf. Der christ- liche Glaube wird für beide zur Ressource.164 Elsa wird bereit und lernt, Rat, Hilfe und Korrektur anzunehmen. Anstrengungsbereitschaft und Einsatzfreude kommen jetzt auch ihr selbst zugute. Die Bereitschaft, an sich selbst zu arbeiten, etwas für sich selbst zu tun, zeigt sich auch darin, dass sie mit 59 Jahren eine Therapie macht, ihre Lebensgeschichte verstehen und die Beziehung zum Ehepartner und zur Mutter neu gestalten will und kann. Der geschilderte Prozess, wie sie lernt und übt, ihrer Mutter selbstbewusster gegenüberzu- treten, Dankbarkeit und Entgegenkommen einzufordern, ist sehr beeindruckend. In der Angehörigengruppe ist sie gerade dadurch authentisch, dass sie auch noch „auf dem Weg“ ist; alle Erfahrungen kann sie einbringen. Durch diese sinngebende Arbeit erfüllt Elsa die Anforderungen der Stufe „Generativität“, in der es darum geht, der nachfolgenden Genera- tion weiterzugeben, was man „erworben“ hat. Die Gefahr, dass sie sich verausgabt und sich doch wieder zu sehr für andere einsetzt, ist latent gegeben. Elsa arbeitet im Vorstand der Einrichtung mit, ist Leiterin einer Angehörigengruppe und betreut Kinder aus Alkoho- likerfamilien. Sie hat einen Ehemann, zwei Töchter, zwei Schwiegersöhne und Enkelkin- der. Für die pflegebedürftige Mutter braucht sie ebenfalls viel Zeit. Es ist ihr zu wünschen, dass sie die richtige Balance beibehalten kann. 5.2.1.5 Zusammenwirken von Risiko- und Schutzfaktoren In der Kindheit überwiegen die Risikofaktoren, die sich im Sinne des Kumulationsmo- dells165 addieren. Einige Schutzfaktoren aus dem Bereich der sozialen Ressourcen wirken mildernd, im Sinne des Interaktionsmodells,166 aber von einem Ausgleich kann nicht die Rede sein, deshalb ist das Kompensationsmodell hier nicht hinzuzuziehen. Es ist erstaun- lich, dass sich Elsa zu einer gesunden Jugendlichen und Erwachsenen entwickelt, deshalb ist auch das Modell der Herausforderung anzunehmen. Irgendwie ist es ihr gelungen, Überlebens- und Bewältigungsstrategien auszubilden, dass sie „durchschlittern“167 konnte. Im Erwachsenenalter stellen die Belastungssituationen für Elsa eindeutig Herausforderun- gen dar, die sie versucht zu meistern. Mit allen Mitteln und Fähigkeiten und großem Ein- 163 Nachfragephase, A22 II/ 4/33 – 5/5. 164 In der Einrichtung wird sehr viel Wert auf christliche Verkündigung und seelsorgerliche Begleitung ge- legt; es werden Gottesdienste, Bibel- und Gebetsstunden angeboten. Für viele der Betroffenen ist es ein Gemeindeersatz. 165 Siehe Wustmann Seiler (2012:61). 166 Siehe Wustmann Seiler (2012:60). 167 „Ja, und so bin ich in meinem Leben durchgeschlittert.“ (I/1/16). 133 satz schafft sie über viele Jahre den Ausgleich. Gesteuert wird sie dabei von ihrem inneren Auftrag: „Ich bin für die Familie verantwortlich!“ Das Modell der Herausforderung und das Modell der Kompensation sind auch im gegenwärtigen Leben der Biografin zu fin- den, auch wenn die Risikofaktoren durch die Alkoholabhängigkeit weggefallen sind. 5.2.1.6 Bezug zur Forschungsfrage Nachdem die individuellen Risiko- und Schutzfaktoren und ihr Zusammenwirken ermittelt und interpretiert wurden, geht es im Folgenden darum, den Bezug zur Forschungsfrage herzustellen und damit das Hauptaugenmerk auf die seelsorgerliche Arbeit zu lenken. „Welche Resilienzansätze sind aus den narrativen Interviews zu erschließen, um zur persönlichen Förderung in der seelsorgerlichen Begleitung beizutragen“? Über den Weg von drei Analyseschritten nach Gabriele Rosenthal wurde ein tieferes Verständnis der Lebensgeschichte von Elsa angestrebt. Besonders die Einbeziehung der Familiengeschichte und die Auswertung der biografischen Daten, ohne den Text des narra- tiven Interviews brachten wichtige Erkenntnisse in Bezug auf die Prägungen Elsas: „Wir Frauen müssen stark sein!“168 Wie Elsa mit ihrer Lebensgeschichte, mit sich selbst zur Zeit des Interviews umgeht, sich in der Gegenwartsperspektive präsentiert, wäre aus dem Tran- skript nicht herauszulesen gewesen,169 gibt aber wichtige Hinweise auf das Resilienzni- veau. Durch das intensive Hineinversetzen in das Empfinden und Fühlen Elsas170 und das Aufzeigen der Änderungsprozesse kristallisieren sich die Resilienzfaktoren klar heraus. Elsa entwickelt trotz traumatischer Verletzungen und ungünstigen Entwicklungsbedin- gungen in Kindheit und Jugend resiliente Wesenszüge, am ehesten nach dem Modell der Herausforderung. In Verbindung mit der Selbstwertproblematik führt das zu einem aus- geprägten Helfersyndrom, zu einer bestimmten Partnerwahl und zur Aufrechterhaltung der Co-Abhängigkeit über mehr als 20 Jahre. Dabei werden viele Fähigkeiten entwickelt, die aber keine Lösung bringen. Nach der Therapie des Mannes, nach dem Wegfallen der wich- tigsten Stressoren, beginnt für Elsa die Arbeit an sich und für sich selbst. Trotz jahrelanger psychologischer und seelsorgerlicher Begleitung in der Einrichtung wird aber erst die ei- gene Therapie die entscheidende Wende, Befreiung und Erleichterung bringen, indem sie 168 Ohne dieses (oder ein ähnliches sinnadäquate) innere Motto wäre der emotionale Zusammenbruch bei Therapiebeginn des Mannes kaum zu verstehen gewesen. Nicht, dass der Mann sich endlich in Behand- lung begibt, steht im Vordergrund, sondern, dass sie es nach ihrem Verständnis nicht geschafft hat, ihn zu retten, ihrem Auftrag gerecht zu werden. 169 Siehe „Analyse des erzählten Lebens“, S. 117f. 170 Siehe „Analyse des erlebten Lebens“, S. 120f. 134 ihr Gewordensein versteht und dadurch neue Kräfte frei werden. Fähigkeiten und Fertig- keiten können nun in einer anderen Zielrichtung eingesetzt werden. Für die seelsorgerliche Begleitung gibt es entlang von Elsas Lebensgeschichte mehrere Krisenpunkte, die zu beachten gewesen wären und die sehr wahrscheinlich Themen- schwerpunkte der Therapie waren:  Die Fünfjährige hätte nach dem Tod des Vaters professionelle Hilfe haben müs- sen. In einer Vertrauensbeziehung zu einer Kinderpsychologin oder einem Kin- derpsychologen wären vermutlich auch die Minderwertigkeitsgefühle Elsas er- kannt und behandelt worden.  Die 12-13jährige Vorkonfirmandin wagt es, ihre Ängste der Pfarrfrau anzuver- trauen. Die seelsorgerliche Aufgabe wäre hier gewesen, eine Vertrauensbezie- hung aufzubauen, die Ängste ernst zu nehmen und zu einer professionellen The- rapie zu ermutigen.  Elsa wird zur Zeit des Unfalltod des älteren Bruders in einem Krankenhaus aus- gebildet, in dem Seelsorge und Beratung als sehr wichtig erachtet wurden und werden. Die Fragen bleiben offen, weshalb Elsa einfach geht, ob sie Hilfsange- bote ausgeschlagen oder ob sie ihr gar nicht gemacht worden waren.  In der Paarberatung hätte der Schlüssel für eine gesunde Weichenstellung für die zweite Ehe gelegen. Einem erfahrenen Seelsorger wäre vermutlich das Al- koholproblem des Mannes nicht entgangen, und der Mann hätte auch die Chan- ce gehabt, das Scheitern der ersten Ehe zu verarbeiten.  Während der Zeit der Co-Abhängigkeit fehlt das soziale Netz. Hier sieht die Verfasserin die christliche Gemeinde in der Pflicht. Gäbe es Ansprechpartner, in ähnlicher Form wie bei der Trauerarbeit oder bei den Gruppen für Alleinerzie- hende, gäbe es zumindest die Chance, die Co-Abhängigkeit früher zu beenden, in der Gemeinschaft Hilfe und Beistand zu finden und die Ressourcen des christlichen Glaubens zu nutzen oder erst zu entdecken. Elsa findet erst sehr spät, über die Therapie des Mannes in einem langen Prozess Hilfe für sich selbst; die Einrichtung ist für sie zum Gemeindeersatz geworden. Die aufgezeigten persönlichen Problembereiche dürften erst in der Therapie behandelt worden sein. Ihre Erfahrungen helfen nun anderen betroffenen Frauen. Sie ist eine resiliente Persönlichkeit geworden, lebt und arbeitet im Sinne der Resilienzförderung für Erwachsene.171 Bezogen auf das „Drei-Welten-Modell“ von Mouton172 bewegen wir uns beim Interview in „Welt Eins“, der Welt des alltäglichen Lebens, bei der Analyse wird die Beziehung zu For- schungsmethoden der interpretativen Sozialforschung, zur „Zweiten Welt“, hergestellt und so auch bei der Untersuchung durch Kriterien der Resilienzforschung. Die Erkenntnisse kommen der alltäglichen Welt, in diesem Fall der seelsorgerlichen Hilfe und Beratung zu- gute. Der Bezug zur Biografieforschung und die Einbettung in die Praktische Theologie werden auf der Meta-Ebene noch zu diskutieren sein. 171 Siehe Kapitel 4.6, S. 85f. 172 Siehe Anm. Nr.1, S. 16. 135 5.2.2 Lena 5.2.2.1 Analyse des gelebten Lebens 5.2.2.1.1 Familiengeschichte  1922 Geburt der Großmutter (mütterlicherseits), Ukraine, Hausfrau  1924 Geburt des Großvaters (mütterlicherseits), Ukraine, Holzfabrikar- beiter  1925 Geburt der Großmutter (väterlicherseits), Ukraine, Hausfrau  1925 Geburt des Großvaters (väterlicherseits), Ukraine, Schmied, Traktorfahrer  1940 Deportation der Großeltern (väterlicherseits) in ein Zwangsarbeits- lager, Sibirien  1941 Deportation der Großeltern (mütterlicherseits) in ein Zwangsarbeits- lager, Uralgebiet  1947 Heirat der Großeltern in Sibirien  1947 Heirat der Großeltern im Uralgebiet  1950 Geburt von Lenas Vater, Sibirien, Handwerker und Landwirt, zweit- ältester Sohn, drei jüngere Brüder, eine Schwester  1951 Geburt von Lenas Mutter, Uralgebiet, ein älterer Bruder, drei jünge- re Brüder, eine jüngere Schwester, sehr musikalisch, Buchhalterin (Ein Studium war wegen der Zugehörigkeit zur christlichen Ge- meinde nicht möglich.)  1953 Umzug der Großeltern väterlicherseits nach Kirgisien  1956 Umzug der Großeltern mütterlicherseits nach Kasachstan  1964 Umzug der Großeltern mütterlicherseits nach Kirgisien  1972 Heirat von Lenas Eltern in Kirgisien  1973 Geburt eines Sohnes in Kirgisien  1973 Eltern von Lena wandern mit Baby nach Lettland aus. Großeltern mütterlicherseits Als die Großeltern Lenas mütterlicherseits in der Ukraine geboren werden, 1922 und 1924, erholte sich das Land gerade von den Folgen des Ersten Weltkrieges; die Zwangsarbeiter aus den östlicheren Gebieten Russlands173 waren zurück in ihre Heimatdörfer gezogen; es kehrte Ruhe ein. In der wunderschönen Landschaft mit der fruchtbaren, schwarzen Erde lebte man wahrscheinlich im ländlichen Raum bescheiden, aber zufrieden mit seinem Aus- kommen. 1941, die Großmutter ist 18 Jahre alt, der Großvater 16 Jahre alt, werden die Deutschen, die als Volksdeutsche 1939, zu Beginn des Zweiten Weltkrieges, nicht „Heim ins Reich“ umgesiedelt worden waren, in Zwangsarbeitslager deportiert. Mit dieser Kollek- tivverurteilung sind extrem-traumatische Erlebnisse, auch durch jahrelange Verfolgungen 173 Zu ihnen gehörten die Eltern der Verfasserin, die als junge Erwachsene aus Wolhynien in die Ukraine evakuiert worden waren und dort im privaten Umfeld Zwangsarbeit leisteten, nicht vergleichbar mit der Deportation in die Zwangsarbeitslager. 136 verbunden. Rosenthal & Stephan (2011) weisen darauf hin, dass Jugendliche und junge Erwachsene wenigstens auf Jahre normalen Lebens zurückblicken konnten. „Es kann angenommen werden, dass ihnen diese Möglichkeit eines positiven Rück- blicks auf die Vergangenheit vor 1941 in den Jahren der Verfolgung Trost spendet und vor allem die Hoffnung ermöglichte, dass sie irgendwann in dieses frühere Leben zu- rückkehren könnten.“ (:53). Aus diesen Jahren ist nur bekannt, dass der Großvater im Uralgebiet als Holzfabrikarbeiter arbeitet und dass die Großeltern 1947 heiraten. Sie sind Christen mit freikirchlicher Prä- gung und Deutsche, im doppelten Sinne Außenseiter, im doppelten Sinne gefährdet. Dass sie sich mit dem gesellschaftlichen und politischen System der Sowjetunion nicht solidari- sierten – auch später nicht – ist von daher stark anzunehmen. Lenas Mutter wird als zweit- ältestes Kind geboren, der ältere Bruder ist drei Jahre alt. 1956 hat sich die Situation für die Deutschen wesentlich verbessert, die Großeltern ziehen nach Kasachstan und acht Jahre später nach Kirgisien um. Dort darf Lenas Mutter wegen der Zugehörigkeit zu einer christ- lichen Gemeinde nicht studieren; sie wird Buchhalterin. Großeltern väterlicherseits Die Eltern des Vaters von Lena müssen 1940 als 15 Jährige nach Sibirien in die Zwangsar- beitslager. Der Großvater wird dort als Schmied und Traktorfahrer arbeiten. Sehr wahr- scheinlich, dass sich die Großeltern bei christlichen Treffen kennenlernen. 1947 heiraten sie. Lenas Vater wird 1950 als zweitältester Sohn geboren. Er wird noch drei jüngere Brü- der und eine Schwester bekommen. 1953 ziehen die Großeltern nach Kirgisien. Hier tref- fen die Großelternfamilien von Lena aufeinander, vermutlich in der deutschen freikirchli- chen Gemeinde. Die rein-ethnischen Deutschen sind in Kirgisien nur eine kleine Minder- heit und werden den Zusammenhalt gesucht und gepflegt haben. Christen sind im atheisti- schen Sowjetrussland, zu dem auch Kirgisien gehört, nicht erwünscht und stehen unter Beobachtung. Es ist herauszustellen, dass offensichtlich auf das Deutschsein und das Christsein wert gelegt und trotz Diskriminierung daran von beiden Großelternfamilien festgehalten wird. Lenas Eltern heiraten 1972, bekommen 1973 einen Sohn und wandern noch in demselben Jahr nach Lettland aus, um eine bessere Chance zu haben, nach Deutschland migrieren zu können. Bevor das gelingt, wandern ein Bruder von Lenas Va- ter, der eine deutsche Frau geheiratet hat und dann der Großvater mit Familie nach Deutschland ein. Der Großvater mütterlicherseits kommt erst nach Lenas Eltern nach Deutschland; die Großmutter stirbt 1983 in Kirgisien, der Großvater väterlicherseits 2001 in Deutschland. 137 5.2.2.1.2 Biografische Daten 5.2.2.1.3 Beispiel der Hypothesenbildung, Biografische Daten „Lena“ 1. Datum: 1974 Geburt von Lena in Lettland, drei jüngere Brüder, zwei jüngere Schwestern Hypothesen: H 1.1 Lettland ist 1974 noch Sowjetrepublik. 1974 Geburt von Lena in Lettland, drei jüngere Brüder und zwei jüngere Schwestern 1981 Einschulung Lenas, russisches Schulsystem 1985 Besuch der Realschule 1987 Umzug nach Süddeutschland 1987 Besuch der deutschen Realschule 1991 mittlere Reife 1991 Glaubenstaufe 1991 Ausbildung zur Bankkauffrau 1994 Abschluss als Bankkauffrau 1994 Mitarbeit in einer freikirchlichen Gemeinde (Kinder-und Jugendarbeit) 1994 Finanzielle Unterstützung der Eltern, Bau eines Hauses 1997 Einzug in das neue Haus 1997 Auslandsreisen Lenas (Türkei, Australien) 2000 Heirat mit W., Sohn des Gemeindeleiters, Theologiestudent 2000 Umzug nach Süddeutschland in die Nähe des Studienorts von W. 2000 Lena ist auch in Süddeutschland berufstätig 2001 W. bricht sein Studium ab, Alkoholprobleme 2002 Rückkehr nach Süddeutschland, Wohnung im Haus von Lenas Eltern 2003 W. wird aus der Gemeinde ausgeschlossen 2004 Lena tritt aus der Gemeinde aus 2004 Geburt des Sohnes 2005 Entscheidung, getrennt zu leben 2010 Versuch, zusammenzuleben (nach Therapie von W.) 2010 Nach zwei Monaten (Rückfall) zieht W. wieder zu seinen Eltern 138 H 1.2 Die deutsche, zu einer christlichen Freikirche gehörende Familie, in die Lena hineingeboren wird, hat Sonderstatus, wird vom Staat beobachtet. H 1.3 Lena ist das älteste Mädchen in einer kinderreichen Familie. Folgehypothesen: FH 1.1 Lena lernt früh, vorsichtig zu sein, mit dem, was sie von den Gottesdiensten und von den christlichen Sitten und Bräuchen zu Hause anderen erzählt. FH 1.2 Es gibt keinen Kindergottesdienst. FH 1.3 Lena übernimmt Verantwortung für die jüngeren Geschwister. FH 1.4 Anstrengungsbereitschaft, Kommunikationsfähigkeit und Organisationstalent werden geschult. FH 1.5 Die Zuwendung der Eltern gilt nicht Lena allein. FH 1.6 Für spielerische Tätigkeiten bleibt Lena keine oder wenig Zeit. 2. Datum: 1981 Einschulung Lenas, russisches Schulsystem Hypothesen: H 2.1 Zucht, Ordnung, Disziplin, Ruhe, Gehorsam sind die obersten Gebote in der russischen Schule. H 2.2 Lena lernt kyrillisch lesen und schreiben; zu Hause wird Deutsch gesprochen. H 2.3 Wegen ihrer ethnischen Herkunft und der Religionszugehörigkeit ist Lena eine Außenseiterin. Folgehypothesen: FH 2.1 Für Lena ist die Schule ein Refugium, in der sie zur Ruhe kommt und nicht überfordert wird. FH 2.2 Diskussions- und Kritikfähigkeit werden in der Schule nicht geübt, sind nicht erwünscht. FH 2.3 Die Zweisprachigkeit fördert Lenas kognitive und kommunikative Fähigkeiten und ihre Flexibilität. FH 2.4 Dem Außenseitertum begegnet Lena, indem sie sehr aufmerksam ist, fleißig lernt und sich friedlich und angepasst verhält. 3. Datum: 1985 Besuch der Realschule Hypothesen: H 3.1 Der Besuch einer weiterführenden Schule ist für Lena eine positive Bestätigung ihres Fleißes, ihres angepassten Verhaltens und bedeutet eine neue Herausforde- rung. H 3.2 Der Abschluss der mittleren Reife wird angestrebt. H 3.3 Lena möchte einmal einen Beruf erlernen. Folgehypothesen: FH 3.1 Mit der mittleren Reife ergeben sich größere Möglichkeiten bei der Berufswahl. FH 3.2 Lena wird Kindergärtnerin, Fürsorgerin, Erzieherin. FH 3.3 Lena wird Fremsprachenkorrespondentin, Dolmetscherin. 5.2.2.1.4 Lebensgeschichte Lenas Die Eltern haben sich in Lettland gerade eingelebt, da wird das zweite Kind, ein Mädchen geboren. Mit Lena, dem etwas über ein Jahr älteren Bruder und dem landwirtschaftlichen Betrieb dürfte vor allem die Mutter voll ausgelastet gewesen sein. Weitere fünf Kinder 139 werden in den nächsten zehn bis zwölf Jahren hinzukommen. Lena wächst in einer bewusst christlichen Familie auf. Zu Hause wird deutsch gesprochen, in Umgebung und Schule russisch. Als ältestes Mädchen wird sie von klein auf an alle möglichen Arbeitsgänge her- angeführt, um die Mutter zu entlasten. Dazu gehören auch das Beaufsichtigen und das Spielen mit den jüngeren Geschwistern. Verantwortungsübernahme, Anstrengungsbereit- schaft, Fürsorge- und Kommunikationskompetenz werden trainiert. Notwendige, oft sai- sonbedingte Arbeiten haben in der Landwirtschaft stets den Vorrang vor persönlichen Be- findlichkeiten und Bedürfnissen. Die Eltern werden Lena darin Vorbild sein. Nach dem Lustprinzip geht gar nichts. In der russischen Grundschule lernt Lena sich unterzuordnen, zu gehorchen, nur zu reden, wenn man dazu aufgefordert wird. Disziplin und Ordnung haben oberste Priorität. Es kann sein, dass die kleine Lena dennoch die Schule als Erho- lungsort betrachtet. Wach, intelligent und fleißig sind für sie die Anforderungen über- schaubar und nachvollziehbar, was auf dem elterlichen Hof nicht immer der Fall gewesen sein dürfte. Dass sie zur Realschule gehen darf, zeigt, dass sie in der Schule Erfolg hat. Zugang zum Gymnasium hat sie als Tochter bekennender Christen nicht. Mit der Mittleren Reife ist die Weiche für viele Berufe gestellt.174 Über eine Berufsausbildung und/oder dem Abitur auf dem zweiten Bildungsweg wäre sogar ein späteres Studium möglich. Dazu kommt es in Lettland aber nicht. Als Lena zwölf Jahre alt ist, gelingt es den Eltern nach Deutschland auszuwandern. Die Familie, die seit Generationen das Deutschtum gepflegt hat, wird erleben müssen, dass sie in Deutschland zunächst nicht als „Deutsche“ anerkannt ist. Der Kulturschock muss groß gewesen sein. Von einem sozialistischen in ein kapitalistisches Land zu kommen, löst vor allem Verunsicherung aus: zu viel Neues, zu viele Wahlmöglichkeiten, vor allem zu viel Bürokratie. Die Zugehörigkeit zur freikirchlich geprägten Gemeinde, in der sich auch an- dere Familien mit Migrationshintergrund einfinden, dürfte ein besonderer Stabilitätsfaktor gewesen sein. Lena muss in der Schule lesen und schreiben lernen wie eine Erstklässlerin. Alle Hypothesen, dass sie mindestens zwei Klassen zurückgestuft und/oder in die Haupt- schule wechseln muss, werden nicht bestätigt. Dass sie es geschafft hat, auf der Realschule zu bleiben und die mittlere Reife abzulegen, muss sie eine übermenschliche Anstrengung, viel Fleiß und Durchhaltevermögen gekostet haben. Zu bedenken ist, dass sie zu Hause nicht nur keine Unterstützung finden kann, denn da sind noch fünf jüngere Geschwister und Lena dürfte bald auch für alle Behördengänge und alles Schriftliche verantwortlich gewesen sein. Die Begründung, weshalb Lena nicht zum Gymnasium wechselt, obwohl ihr 174 Siehe Folgehypothesen FH 3.2 und FH 3.3, S. 138. 140 das hier in Deutschland freisteht, dürfte am ehesten auf die wirtschaftliche Lage zurückzu- führen sein, da die jüngsten Geschwister gerade erst in die Schule kommen.175 Das kann zur Folge haben, dass Lena irgendwann andere Berufswünsche äußern könnte. Mit 16 Jah- ren lässt Lena sich taufen; es ist eine Glaubenstaufe, eine Großtaufe, ein klares Bekenntnis zum Glauben an Jesus Christus, zu christlichen Werten, zur Familientradition. Der Rück- halt in der Gemeinde mit freikirchlicher Prägung wird von Lena hier bewusst gewählt. Drei Jahre lang währt die Ausbildung zur Bankkauffrau, zu einem Beruf, bei dem auch die kommunikativen Fähigkeiten Lenas gebraucht werden, bei dem Organisationstalent, Freu- de an Struktur, Ordnung und logischem Denken gefragt sind. Es fällt auf, dass dieser Beruf dem ihrer Mutter ähnlich ist. Auf längere Sicht dürfte dieser Beruf den kognitiven Fähig- keiten und der vielseitigen Begabung Lenas nicht entsprechen. Einen Ausgleich findet sie offensichtlich in der Mitarbeit in der Gemeinde, in der sie Kinder- und Jugendgruppen lei- tet. In der Zeit entscheiden sich die Eltern, ein Haus zu bauen, ein starker Wille zur In- tegration wird darin sichtbar: „Wir werden sesshaft, wir bleiben hier!“ „Von nun an haben wir einen Ort der Zugehörigkeit!“ Es wird ein Bauplatz in einer guten Wohnlage, am Stadtrand gewählt. Anzunehmen ist, dass viel in Eigenarbeit geleistet wird, mit solider Handwerksarbeit und sorgfältig ausgewählten Materialien. Lena fühlt sich verpflichtet, die Eltern in dieser Phase finanziell zu unterstützen. Für alle bedeutet es, auf Vieles zu ver- zichten, aber dann hat man ein eigenes Zuhause mit einem Garten, mit Blick ins Grüne. Lena kann sich mit 23 Jahren Reisewünsche erfüllen, will etwas von der Welt sehen, reist nach Australien und in die Türkei. Ob sie mit einer Gruppe unterwegs ist, von Freunden oder Geschwistern begleitet wird, ist nicht bekannt. Die Hypothese, dass diesen Zeichen des Aufbruchs und der Wunscherfüllung weitere fol- gen werden, findet keine Bestätigung. Im 26. Lebensjahr heiratet Lena einen Glaubensbruder, auch mit Migrationshintergrund, auch aus einer kinderreichen Familie. Sie haben Verständnis für die Familiengeschichte, sie haben eine gemeinsame ethische Ausrichtung, eine gute Basis für eine Ehe. W. ist The- ologiestudent, und man kann sich Lena mit ihren Fähigkeiten gut als zukünftige Pfarrfrau vorstellen. Da Alkohol nach der Gemeindeverordnung verboten ist, kommt sie vermutlich gar nicht auf den Gedanken, dass ihr Mann trinkt. In dem gemeinsamen Jahr in Süd- deutschland, in der Nähe des Studienorts von W., muss sie sich aber eingestehen, dass er ein Suchtproblem hat, mit seinem Studium nicht zurande kommt, unzuverlässig ist. Sie 175 Andere Hypothesen: -Lena ist schulmüde; vier/fünf Jahre Kampf in einer deutschen Schule genügen. -Lena hat keinen Berufswunsch, zu dem man Abitur braucht. 141 selbst ist auch dort berufstätig, für den Lebensunterhalt verantwortlich. Die Chance, eine eigene Identität als Ehepaar zu finden, ohne die engen Familienkontakte, ohne die Ge- meindeprägung, währt nur eine kurze Zeit, weil Lena erkennt, dass ihre Kräfte nicht lange ausreichen, um mit der Problematik fertig zu werden. W. bricht sein Studium ab; sie keh- ren in die Stadt von Lenas Familie zurück, wo Eltern und Geschwister für sie das Unterge- schoss ausbauen, damit sie dort wohnen können. Alle Versuche von W., trocken zu wer- den, scheitern offensichtlich, denn 2003 wird er aus der Gemeinde ausgeschlossen. Die Gemeindeleitung sieht die Mitgliedschaft eines Süchtigen nicht vor, insofern richten sich die Ältesten konsequent nach ihren Gemeindezuchtregeln. Es führt dazu, dass Lena kurze Zeit später, noch vor der Geburt des ersten Kindes, aus der Gemeinde austritt. Der Sohn ist ein halbes Jahr alt, da kommt es zur Trennung des Ehepaares. Die Hypothese, dass die Verantwortung für ein Kind W. motivieren könnte, trocken zu werden und zu bleiben, wird widerlegt. Fünf Jahre später wird noch einmal versucht, gemeinsam zu leben, aber als W. erneut rückfällig wird, zieht er wieder zu seinen Eltern. Inzwischen hat Lena Kontakt zu einer Selbsthilfegruppe gefunden und bekommt konkrete Hinweise, wie sie mit der Problematik umgehen lernt. Die ganze Situation ist dennoch für Lena und ihren Sohn nicht einfach, weil die Kontakte zu W. und damit Gespräche und Auseinandersetzungen andauern. 5.2.2.1.5 Zusammenfassende Strukturhypothese In der ländlichen Umgebung Lettlands und in der neunköpfigen Familie kann Lena vielfäl- tige Erfahrungen sammeln; die Zweisprachigkeit dürfte die Flexibilität gefördert haben. Von einem Geborgenheit vermittelnden Elternhaus, in der die christliche Sozialisation eine wichtige Rolle spielt, ist auszugehen. Lena erlebt aber auch, dass sie als Christen unter besonderer Beobachtung stehen.176 Der Ansatz, dass ihr Selbstbewusstsein mit Leistungs- orientierung zusammenhängt, wird erkennbar. In der Pubertätszeit, mit 12 Jahren, erlebt Lena den Aufbruch in eine völlig neue Welt.177 In Deutschland schafft sie es, über alle An- passungsanforderungen hinweg, die mittlere Reife abzulegen und die Berufsausbildung zur Bankkauffrau problemlos zu absolvieren. Ihre Zugehörigkeit zur Gemeinde mit freikirchli- cher Prägung bestätigt sie durch die Großtaufe mit 16 Jahren und mit ihrem Engagement in der Kinder- und Jugendarbeit. Die Ehe mit einem Glaubensbruder verläuft wegen seiner Alkoholabhängigkeit enttäuschend. Lena sieht heute die Partnerwahl und einige der Bezie- 176 In einer E-Mail berichtet sie, wie der Weihnachtsgottesdienst in der Familie hinter verschlossenen Türen stattfand, nachdem die Polizisten gegangen waren. 177 Die Erlebnisse der Großelterngeneration spielen sehr wahrscheinlich für die Migration nach Deutschland eine motivierende Rolle. 142 hungsprobleme in ihrer Persönlichkeitsstruktur begründet. Sie wagt den Austritt aus der Gemeinde und versucht seitdem, ihren eigenen Weg zu gehen. Der christliche Glaube ist aber weiterhin für sie eine Ressource und bestimmend für ihr Leben. Durch eine Selbsthil- fegruppe bekommt sie Hilfe, Korrektur und Rückhalt, besonders wichtig, da sie von ihrem Mann getrennt lebt und sich als alleinerziehende Mutter versteht. Zum Zeitpunkt des Inter- views signalisiert sie, dass sie dabei ist, neue Ressourcen für sich zu erschließen, z. B. hat sie erst als Erwachsene ihre Begabung für das Malen entdeckt, ein Hobby, dem sie mit Freude nachgeht. 5.2.2.2 Analyse des erzählten Lebens 5.2.2.2.1 Sequenzierung und Textsortenbestimmung des narrativen Interviews von Lena Nr. Segment Textsorte Thema / Inhalt 1 1/2 Interaktion Erzählaufforderung durch Interviewerin 2 1/3 – 1/13 Beschreibung Kindheit in Lettland ( 1974 – 1987 ) , sechs Geschwis- ter, „Mama“ für jüngstes Geschwisterchen 3 1/13 – 1/22 Beschreibung Umzug nach Deutschland, 6. Klasse Realschule, Kampf mit der deutschen Sprache, Abschluss als beste Schülerin 4 1/22 – 1/23 Argumentation Begründung des Erfolgs 5 1/23 – 1/36 Beschreibung Ausbildung zur Bankkauffrau, finanzielle Unterstützung der Eltern, Zurückstellen eigener Wünsche, z.B. Be- such einer Bibelschule 6 1/36 – 1/43 Beschreibung Prägung durch Zugehörigkeit zu einer Freikirchenge- meinde 7 1/43 – 1/46 Beschreibung Auslandsreisen 8 1/46 – 2/6 Beschreibung Aktive Mitarbeit in der Jugendarbeit der Gemeinde, Organisation von Fahrten und Freizeiten 9 2/6 – 2/10 Beschreibung Kennenlernen von W. , Theologiestudent 10 2/10 – 2/13 Argumentation Begründung der Partnerwahl aus heutiger Sicht 11 2/14 – 2/35 Beschreibung und Argumente Studium von W. in der Schweiz, Wochenendbezie- hung, Schwierigkeiten, Konflikte werden nicht bearbei- tet, Vertuschung der Alkoholproblematik von W. 12 2/35 – 2/41 Beschreibung Hochzeit, Umzug nach G. Lösung von der Gemeinde- prägung, Alkoholprobleme von W. werden Lena be- wusst 13 2/44 – 2/49 Beschreibung, Argumentation Schwierigkeiten von W. als Sohn des Gemeindeleiters, „Alkoholismus“ war Tabu-Thema, Ausschluss 14 2/49 – 3/6 Beschreibung W. bricht das Studium ab, Umzug in die Stadt von Lenas Familie 15 3/6 – 3/10 Beschreibung Anschuldigungen aus der Gemeinde gegenüber Lena 16 3/10 – 3/17 Beschreibung, Argumentation Austritt von Lena aus der Gemeinde 17 3/17 – 3/21 Beschreibung „Auf und Ab“ beim Zusammenleben mit W. 143 18 3/21 – 3/32 Beschreibung W. zieht Diplom – Betriebsstudium durch, schafft aber die Abschlussarbeit nicht 19 3/32 – 3/37 Beschreibung Lena sucht und findet Selbsthilfegruppe 20 3/37 – 4/13 Argumentation Begründung der eigenen Schwierigkeiten 21 4/13 – 4/22 Beschreibung mit argumenta- tiven Ab- schluss Alkoholismus in der Familie der Mutter von Lena, an- dere Arten des Suchtverhaltens, Bedeutung der Hilfe durch eine Gruppe, durch Bücher von K. 22 4/22 – 4/27 Beschreibung W. beginnt dritte Therapie, Erfahrung nach der ersten Therapie 23 4/27 – 5/2 Beschreibung mit argumenta- tiven Einschü- ben Beziehungsprobleme, Notwendigkeit einer Paarbera- tung, selbstkritische Einschätzung des eigenen Verhal- tens 24 5/3 Interaktion Frage der Interviewerin nach Therapie von W. 25 5/4 -5/16 Erzählung Auseinandersetzung mit W. wegen Sinnlosigkeit der Therapien ohne nachfolgende Betreuung 26 5/17 Interaktion Rezeptionssignal der Interviewerin 27 5/18 – 5/35 Erzählung Auseinandersetzung mit W. wegen des betreuten Wohnens, Frage nach Lösung der Beziehung 28 5/35 – 5/42 u. 5/44 – 6/2 Argumentation Gründe für die „komplette Auflösung“ der Beziehung 29 6/4 – 6/13 Beschreibung Gemeinsame Unternehmungen, trotz Trennung, we- gen B., 8 Jahre alt ; B. leidet unter der Unzuverlässig- keit des Vaters 30 6/14 Interaktion Rezeptionssignal der Interviewerin 31 6/15 – 6/32 Erzählung mit argumentativen Einschüben B. vermisst Vater, Vergleich mit anderen Kindern, Le- na begründet Persönlichkeitsveränderung von W. mit Sucht 32 6/33 Interaktion Rezeptionssignal der Interviewerin 33 6/34 – 6/38 Beschreibung Positive Charaktermerkmale der Persönlichkeit von W. (ohne Alkohol) 34 6/39 – 7/4 Erzählung Auseinandersetzung mit W. wegen Spielsucht und Missbrauch anderer Drogen 35 7/4 – 7/5 Argumentation Einschätzung der gegenwärtigen Situation 7/6 Ende der Haupterzählung Tabelle 5: Sequenzierung und Textsortenbestimmung des narrativen Interviews von Lena 5.2.2.2.2 Zusammenfassende Auswertung Das Interview findet am 18.09.2013 in der Wohnküche von Lena statt. Kennengelernt und zu diesem Treffen verabredet haben sich Lena und die Verfasserin auf der Jubiläumsfeier der Selbsthilfegruppe in Südhessen. Lenas Sohn, ein Drittklässler, ist zum Zeitpunkt des Interviews noch in der Schule. Sie hat Daten zur Familiengeschichte178, um die sie gebeten worden war, aufgeschrieben und sich selbst auf das Interview schriftlich vorbereitet. Sie signalisiert damit, dass sie strukturiert vorgehen, nichts dem Zufall überlassen möchte. 178 Diese Daten wurden durch zwei E-Mails ergänzt. 144 Lena spricht Hochdeutsch, ohne jeglichen Akzent, d. h. auch ohne südhessischen. Zwei- drittel der Segmente in der Haupterzählung sind Beschreibungen, fünf davon mit argumen- tativen Einschüben. Zwischen Nähe und Distanz schlägt das Pendel in Richtung distanzier- te Sachlichkeit aus. In den vier Erzählungen, in denen die emotionale Betroffenheit sehr stark zu spüren ist, geht es um Auseinandersetzungen mit ihrem Mann, um ihren Sohn, der besonders durch das Vergleichen mit seinen Alterskameraden leidet. Erst in der Nachfra- gephase wird Lena von fröhlichen Ereignissen erzählen, von Fahrten zu Verwandtenbesu- chen, bei denen es „ganz viel Gaudi“179 gab. Problembewusstsein und Professionalität zei- gen sich nicht nur inhaltlich, z. B. bei Themen wie Suchtverhalten und Paarberatung, son- dern auch in der Verwendung von Fachvokabeln, wenn sie, z. B., von „sozialer Verer- bung“180 spricht. Lena stellt sich selbst sehr selbstkritisch und als beratungsbedürftig, mit stark ausgeprägter internaler Kontrollüberzeugung dar; es ist ihr abzuspüren, dass sie es sich nicht leicht macht und dass sie bereit ist, angesichts der offenen Fragen weiter an sich zu arbeiten. 5.2.2.3 Analyse des erlebten Lebens 5.2.2.3.1 Selbstwert 1. Textstelle181 „Ähm (1), diese zwölf Jahre waren geprägt. Ich hatte ne zweite Rolle zu Hause. Ich war eigentlich die Mama daheim (2). Ähm, genau dadurch, dass die Eltern ganz viel, ähm, Landwirtschaft hatten, Viehwirtschaft und wie man das auch alles bezeichnen sollte, hatte ich die Rolle der Mama zu Hause. Ich hatte eigentlich auch den sechsten (1), mein sechstes Geschwisterchen im Grunde fast erzogen, sozusagen.“ Lena spricht voll Stolz von ihrer „Mama-Rolle“ als Kind. Für den jüngsten Bruder ist sie die Bezugsperson. Man hat ihr diese Rolle anvertraut, und das gibt ihr Selbstbewusstsein. Sie hat diese Rolle offensichtlich gern übernommen und auch bewältigt, obwohl sie ein Kind war. Deutlich wird auch eine gute Mutter-Kind-Beziehung, weil Lena gern ihre Mut- ter nachahmt, sie vermutlich bewundert und ihre Rolle spielt. Andere Mädchen in diesem Alter spielen mit Puppen; sie darf ein lebendiges Baby im Arm halten, es versorgen und großziehen. Sie wurde deswegen viel gelobt.182 Die positiven Verstärker haben vermutlich ihr Engagement noch erhöht. Spielerische eigene Interessen entwickelten sich dabei aber nicht. Für Lenas zukünftiges Leben bedeutet das, dass sie leicht Führungsaufgaben, die Organisationstalent und Kommunikationsfähigkeit erfordern, übernehmen kann, aber auch, 179 Nachfragephase, A23 II/2/6, CD I. 180 A23 I/4/ 5. 181 Segment Nr.2 (Ausschnitt): 1/7 - 1/13. 182 Nachfragephase, A23 II/1/11, CD I. 145 dass sie Schwierigkeiten haben wird, eigene Wünsche und Bedürfnisse zu erkennen bzw. sie sich zu erfüllen. Sie selbst bestätigt diese Hypothese. 2. Textstelle183 „Äh, selber habe ich meine eigenen Wünsche viel zurückgestellt. Ich kannte eigentlich gar nicht eigene Wün- sche, weil ich das sehr gut konnte, für andere sorgen, auch zu sehen, was andere brauchten. Genau. Ähm (1), das war mir damals gar nicht so bewusst.“ Inzwischen weiß sie um die Ambivalenz ihrer Ausprägungen, auch, dass sie das Gefühl des Zukurzkommens nicht oder nicht immer realisiert, dass sich ein Teil ihres Selbstwert- gefühls auf das Gebrauchtwerden stützt und dass sie leicht ein Helfersyndrom entwickeln kann, das andere auch ausnutzen können. 3. Textstelle184 „Ja, dann kamen wir hierher nach Deutschland und das war, das sehr schwer für mich hier, weil wir ja die deutsche Sprache zwar gesprochen haben, aber nicht geschrieben, nicht gelesen. Also, da musste ich kom- plett neu von der 6. Klasse alles komplett aufholen. Das war ein harter Kampf. Ähm, ich wollte aber in der Realschule bleiben. Auf keinen Fall runtergehen, denn ich war immer schon ne sehr gute Schülerin und (1) und das hat wieder mal sehr viel Kampf gekostet deswegen. Aber ich hab’s geschafft. „Ich bin geblieben. Ähm (2), und ich hatte dann irgendwann mal den Abschluss von der Realschule, als beste Schülerin Realschule abgeschlossen von der ganzen Schule.“ Auf das Ergebnis ihres harten Kampfes mit den Anforderungen in der deutschen Schule kann Lena zu Recht sehr stolz sein. Sie schafft die Mittlere Reife nicht eben so, sondern wird als Schülerin mit dem besten Zeugnis ausgezeichnet.185 Dass sie mit Aufgaben, die sie eigentlich überfordern, umgehen kann, hat sie schon als zehnjähriges Kind bewiesen. An- strengungsbereitschaft, Leistungswillen, Ehrgeiz und Durchhaltevermögen werden erneut unter Beweis gestellt. Vorstellbar, dass für Hobbys, Kino-, Discobesuche und andere al- tersgemäße Ablenkungen in dieser Phase keine Zeit blieb. 5.2.2.3.2 Beruf 1. Textstelle186 „Ich habe meine Ausbildung als Bankkauffrau gemacht.“ „Ja. Damals sind wir auch da hingezogen. Ich habe so lange gekämpft, bis ich dort ne Arbeitsstelle hatte.“ „Genau. Ich hatte auch immer ne Arbeitsstelle. Ich war noch nie arbeitslos, weil ich war der Verdiener, der uns dann finanziell durchgetragen hat.“ Lena sieht sich verantwortlich für die wirtschaftliche Lage der jungen Ehe. Der Mann ist Student und zunehmend wird sichtbar, dass er viel Geld für die Finanzierung seiner Sucht 183 Segment Nr.5 (Ausschnitt): I/1/26-1/30. 184 Segment Nr.3, I/1/13-1/22. 185 Wäre Lena Schülerin der Verfasserin gewesen, hätte diese ihr (und den Eltern) sehr zum Abitur geraten. 186 Segment Nr.5 (Ausschnitt): I/1,24 und Nachfragephase: II/2/11-2/12 und 2/14-2/15. 146 benötigt. Arbeit zu haben, ist Lena wichtig, sie betont, dass sie nie arbeitslos war. Berufstä- tig zu sein, bedeutet auch, unabhängig zu sein, bedeutet Sicherheit, Stabilität, dafür ist sie aktiv geworden, dafür hat sie gekämpft. 2. Textstelle187 „Ich war ja immer diejenige, die geschafft hat. Ich hatte dort Druck, ich war in der Beratung tätig gewesen. Ich hatte viel mit Menschen, das macht ja auch einen noch mal fertig, und dann ist er da noch mit seinem Alkoholproblem und hab nicht geschlafen und so, irgendwann habe ich gesagt: „Ich sehe nicht ein, dass ich vor die Hunde gehe.“ Das war dann, wo ich irgendwann mal gesagt hab, ne das nicht.“ Lena sieht sich doppeltem Stress, doppeltem Druck ausgesetzt und reagiert mit Schlafstö- rungen. In der Beratung tätig zu sein, heißt, dass sie ihre kommunikativen Fähigkeiten ein- setzen kann, aber auch viel Verantwortung übertragen bekommen hat. Da sie ihren Beruf ernst nimmt, es als ihre Pflicht betrachtet, alles so gut wie möglich zu machen – davon ist auszugehen – bräuchte sie ein Zuhause, in dem sie Erholung, Unterstützung, Ruhe, einen Ausgleich findet, aber da ist der Mann „mit seinem Alkoholproblem“. Dieser Doppelbelas- tung fühlt sich Lena nicht gewachsen und reagiert realitätsbewusst. < 5.2.2.3.3 Christlicher Glaube – Gemeinde 1. Textstelle188 „Geprägt war das aber auch durch die Gemeindezugehörigkeit. Wir waren in einer Baptistengemeinde in F. Eigene Wünsche (2), wie zu leben, eigene Vorstellungen waren nicht erwünscht. Es gab Vorgaben, nach denen man sich zu richten hatte. Ja, eigenes Denken war (1), ja, was man gedacht hat, war vielleicht, ähm nicht so wichtig ((lacht)). Man musste in den Rahmen passen. Genau. Ich hatte nie in den Rahmen gepasst, gab’s viel Ärger. Aber ich hab, egal, ich geh trotzdem den Weg.“ Lena sieht ihre Schwierigkeiten, eigene Bedürfnisse und Wünsche wahrzunehmen, auch durch die Gemeindeprägung begründet. Es ist von einem autoritären Führungsstil auszuge- hen, bei dem Regeln, Vorschriften und Verbote im Vordergrund stehen. Als junge, moder- ne, berufstätige Frau empfindet sich Lena als nicht „in den Rahmen“ passend. Themati- scher Angelpunkt könnte das Rollenverständnis der Frau früher und heute gewesen sein. Lena deutet an, dass sie ihren eigenen Weg suchen musste und muss. Eine gute Streitkul- tur, Konfliktbewältigungsstrategien werden sich in einer solchen Gemeindeatmosphäre nicht entwickeln können. Die Folgen für Persönlichkeitsentwicklung und Beziehungsge- staltung sind gravierend.189 187 Nachfragephase: II/3/44-4/5, CD I. 188 Segment Nr. 6, 1/36-1/43. 189 Hypothhesen: 1. Authentisches Reden ist erschwert. 2. Es kann sich eine gewisse Doppelbödigkeit bzw. Doppelzüngigkeit entwickeln. 3. Konflikte, die nicht ausgetragen werden, tragen zu psychosomatischen Krankheiten bei. 147 2. Textstelle190 „Ähm, in der Gemeindezugehörigkeit hatten wir ne schöne Zeit, weil wir ne riesige Jugendgruppe hatten und wir waren ungefähr 80 Leute. Wir hatten eine wunderschöne Zeit miteinander gehabt. Aber auch da habe ich wieder übernommen, Reisen zu organisieren für so eine (1) ((lacht)). Das war Wahnsinn. Wenn ich überlege, das waren 80 Leute. Für 80 Leute ein Haus zu finden, finanziell alles zu regeln. Ich hab das mir zugetraut. Ich hab’s auch gemacht.“ Lena blickt mit Stolz auf ihr Engagement bei der Jugendarbeit zurück. Offensichtlich war sie mit ihren Fähigkeiten und Talenten erwünscht. Sie betont selbstbewusst ihre aktive, gebende Rolle, in der sie sich wohlgefühlt haben muss: „Ne schöne Zeit“, „eine wunder- schöne Zeit“. Sie hatte Erfolg mit der gestaltenden Rolle; die Anerkennung war ihr beson- ders wichtig. 3. Textstelle191 „Aber ich hab dann irgendwann nicht nachgegeben. Ich habe viel gesucht. Irgendwann bin ich selber ausge- treten, weil ich gesagt hab, ich halt das nicht mehr aus, was auch gut war. Dadurch war mir so ne Last von den Schultern gefallen und ich konnte einfach meinen Weg gehen, den ich gehen würde und da war auch so, dass mir keiner mehr was zu sagen hatte in der Hinsicht. Und ich war einfach frei in dem Sinne, den Weg zu gehen. Eigentlich den, den ich für richtig gesehen hab. (2) ((holt tief Luft)) Von der Gemeinde gab’s keine große Hilfe. Es gab einfach Ohnmacht. Mehr nicht.“ Nach dem Ausschluss des Mannes aus der Gemeinde wegen seiner Alkoholabhängigkeit und den Anschuldigungen gegen sie, entschließt sich Lena zum Austritt. Dass ihr diese Entscheidung nicht leicht gefallen ist, deutet sie an: „Ich habe viel gesucht.“ Sie empfindet ihren Schritt als befreiend, denn Hilfe gab es von der Gemeinde nicht, im Gegenteil, nur Vorwürfe und Anklagen. Ihr Entschluss ist als sehr mutig hervorzuheben, da Lena mit ei- ner alten Familientradition bricht und einen bisher sicheren Ort der Zugehörigkeit aufgibt. Sie scheint aber so stabil zu sein, dass sie diese Situation aushält und sich bei der Suche nach einer neuen Gemeinde Zeit lässt.192 5.2.2.3.4 Ehe/Ehemann 1. Textstelle193 „In dieser Zeit hatte ich mich dann natürlich auch in meinen Mann verliebt. Er hat damals studiert, Theolo- gie studiert. Ähm (1), ich hätte natürlich auch viele andere, sag ich jetzt mal, ich hatte viele andere Verehrer, wie auch immer das. Aber, nein, das war der W.“. „ Heute verstehe ich das, warum das so ist. Weil, ich hab jemanden gebraucht, für den ich sorgen kann. (1) Genau. Ähm. Die anderen waren eigentlich, äh, gestandene Männer im Leben ((lacht)). Das ist mir heute erst bewusst. Damals wusste ich eigentlich das noch nicht. 190 Segment Nr. 8, 1/45-2/6. 191 Segment Nr. 16, 3/7-3/15. 192 Hypothesen: 1. Lena wartet die Entscheidung in Bezug auf ihre Ehe ab. 2. Es ist keine geeignete Gemein- de in der Nähe. 3. Die Selbsthilfegruppe und die seelsorgerliche Betreuung durch K. bieten einen gewis- sen Gemeindeerersatz. 193 Segment Nr. 9, 2/6-2/10 und Segment Nr. 10, 2/10-2/13. 148 Lena versteht heute die Gründe für die Partnerwahl. Beeindruckt hat sie sicher, dass W. studiert und dieselbe Gemeindeanbindung hat. Damals unbewusst entscheidet sie sich für einen Mann, bei dem sie die Gebende, die Starke sein kann, der sie braucht. Es ist eine Rolle, die sie gewöhnt ist, bei der sie sich sicher fühlt. Es kann auch sein, dass ihr Selbst- wertgefühl für einen der „gestandenen Männer“ nicht ausgereicht hat. 2. Textstelle194 „Wir haben geheiratet 2000. Sind auch nach G. gezogen. Weg, ganz von hier. Das war eigentlich sehr gut für uns zu zweit, weil da war eigentlich so manches dann, ähm, hat angefangen zu bröckeln, dass, was wir ge- glaubt haben, was war richtig, was war nicht richtig, das war ne gute Zeit. Es war aber auch, ähm, mit ihm, wo das erste Mal das Erwachen kam, wo er angefangen hat, dann halt zu trinken und, ähm, ich damit über- haupt nix anfangen konnte.“ Im Hinblick auf die Loslösung von der Gemeinde betrachtet Lena auch im Nachhinein die Zeit ihrer Ehe in Süddeutschland als „sehr gut“, „ne gute Zeit“, da sie wohl beide eigene Vorstellungen entwickeln konnten, ein Stück Befreiung empfanden. Überschattet wird diese Zeit, dass Lena erkennen muss, dass ihr Mann Alkoholiker ist. Sie muss zutiefst ent- täuscht gewesen sein, da sie „Sucht“ bei ihrem Glaubensbruder nicht für möglich gehalten hatte. Sie erlebt sich als hilflos, ratlos, allein gelassen, sieht keinen Ausweg. Schließlich muss Lena bei ihrer Familie um Hilfe gebeten haben, denn nur nach einem Jahr gemein- samen Lebens in Süddeutschland kehren sie in die Stadt von Lenas Eltern zurück. Alterna- tiven wären gewesen, sich sofort von W. zu trennen, für sich selbst professionelle Hilfe zu suchen oder aber schweigend für längere Zeit die Co-Abhängigkeit hinzunehmen. 3. Textstelle195 „Und ich sag mir mal so, ich glaube, wir brauchen auch als Paar, wenn das sein sollte, wenn, dann brauchen wir wirklich auch Hilfe. Sonst würden wir das gar nicht so schaffen, ja. Oder ich würd halt alles wieder ma- chen. Ich weiß, ich tendier auch, ich könnt mir gut wieder vorstellen, ich weiß, ich hab das nur wieder ge- merkt, als der W. die erste Therapie gemacht hat. Dann sind wir noch mal zusammengezogen, zwei Monate hat es gedauert bis zum ersten Rückfall, und diese Zeit habe ich wieder fast alles angefangen wieder zu ma- chen. Also, das heißt hier, doch, also. Ich hab halt mich weniger auseinandergesetzt, sondern erst mal die schöne Zeit genossen, aber trotzdem die Sachen viel auch gar nicht angesprochen oder so was. Es fällt mir selber ehrlich das zu sagen, was ich denke, was ich fühle, sehr, sehr schwer, auf den Punkt zu bringen vor allen Dingen.“ Lena weiß inzwischen, dass es über das Suchtproblem hinaus, eine Beziehungsstörung gibt. Schonungslos offen und selbstkritisch lenkt sie den Blick auf ihre eigenen Defizite. Sie übt in dem Moment gerade das, was ihr schwerfällt: ihre Gedanken auf den Punkt zu bringen. Sie beweist damit, dass sie hart an sich arbeitet. 194 Segment Nr. 12, 2/34-2/41. 195 Segment Nr. 23 (Ausschnitt), 4/40-5/2. 149 4. Textstelle196 „Weil ich wollte ihn einfach nicht so aufgeben. Weil ich ihn doch schon als Mensch sehr gemocht hab. Weil er wirklich, (1) er, wenn was war, dann hat er so geholfen. Oder irgendwas. Er war auch zu mir, ich kann nicht sagen, dass er mich mal angefallen hätte oder wegen irgendwas oder Mords so beleidigt hätte, gar nicht. Das war ja das andere so Extreme. Er hat mich ja dann schon, sag ich jetzt mal, verletzt, indem er einfach gegangen ist oder einfach nicht da war. Aber so dieses, oder die Hand erhoben, oder wie, deswegen waren das für mich, und ich hab ihn immer so schon sehr als Mensch gemocht, sag ich jetzt mal. Der war schon sehr zuvorkommend, sehr hilfsbereit, er konnte auch in den Arm einen immer nehmen. Das war schon schön.“ Lena begründet die Nicht-Aufgabe ihrer Ehe, trotz jahrelanger Trennung mit den mensch- lichen Qualitäten ihres Mannes. Ihre Trauer wird spürbar, wenn sie über die Persönlichkeit spricht, die ihr Mann ohne Alkohol ist bzw. war: ein höflicher, zuvorkommender, sehr hilfsbereiter Mensch, der seine Zuneigung ausdrücken konnte. Auch wenn er alkoholisiert war, gab es keine Gewaltanwendung, keine Aggressivität, keine Beleidigungen. Das Ver- letzende bestand darin, dass er oft nicht da war, wenn Lena ihn brauchte, oft wegging, wegblieb, unzuverlässig war. Angst, Sorgen und bange Fragen: „Wo ist er?“ – „Wann kommt er, wie nach Hause?“ zehrten an den Nerven. 5. Textstelle197 „.., irgendwann habe ich gesagt: „Ich sehe nicht ein, dass ich vor die Hunde gehe.“ Das war dann, wo ich gesagt hab, ne, das nicht.“ „Und daraufhin war dann die Trennung. Aber irgendwo habe ich mir immer gedacht, wenn wir uns trennen, dann wird er’s verstehen, dann wird er’s verstehen. Aber ich habe nicht gedacht, dass es dann noch schlim- mer wird. Dass dann der richtige Absturz sozusagen kommt, dass er dann so gleichgültig wird, also, das habe ich dann doch nicht gedacht. Ich hab gedacht, dann wird es aufhören.“ Lena handelt und trennt sich von ihrem Mann, um nicht krank zu werden. Die Wirkung auf W. ist für sie aber enttäuschend. Wie sehr sie betroffen ist, zeigen die Wiederholungen. Die Beispiele, die sie auch aus der Selbsthilfegruppe kennen wird, dass die Männer aufwachen und um der Beziehung willen, professionelle Hilfe in Anspruch nehmen, wenn ihnen die Koffer vor die Tür gestellt werden bzw., wenn die Frauen ausziehen, treffen auf W. nicht zu. Er rutscht noch tiefer ab. 5.2.2.4 Risiko- und Schutzfaktoren: Lebensgeschichte Lena 5.2.2.4.1 Kindheit – Risiko- und Schutzfaktoren Zu den Risikofaktoren gehört, dass Lena mehr als vier Geschwister hat, sich als Kind bekennender Christen in einer Schule der Sowjetrepublik Lettland sicherlich in einer Au- ßenseiterrolle befand. Der Umzug nach Deutschland fiel gerade in die Zeit der Pubertät 196 Nachfragephase, A23 II/2/27-2/37, CD I. 197 Nachfragephase, A23 II/4/3-4/5 und 4/7-4/12, CD I. 150 und der Migrationshintergrund mit allen seinen Schwierigkeiten stellte eine besondere Herausforderung dar, dennoch den gewünschten Schulabschluss zu erreichen. Diesen Risikofaktoren stehen eine ganze Reihe an Schutzfaktoren gegenüber: Als kindbe- zogene Faktoren kommen für Lena in Betracht, dass sie ein hübsches Mädchen ist, dabei lebhaft, aktiv, flexibel ist und kognitive Fähigkeiten hat. Als Resilienzfaktoren bilden sich heraus:  Hohe Sozialkompetenz: Empathie-, Kooperations- und Kontaktfähigkeit, Verant- wortungsübernahme  Lernbegeisterung, schulisches Engagement  Selbstwirksamkeitsüberzeugungen  Religiöser Glaube, Spiritualität Soziale Ressourcen:  Die Eltern sind zuverlässige, stabile Bezugspersonen.  Wertschätzender Erziehungsstil  Zusammenhalt in der Familie  Enge Geschwisterbindungen  Altersangemessene Verpflichtungen  Ausbildung von Fähigkeiten und Fertigkeiten mannigfacher Art  Guter sozioökonomischer Status Von positiven Verstärkern der Leistungs- und Anstrengungsbereitschaft Lenas kann auch in den Bildungsinstitutionen ausgegangen werden, denn sie weist sowohl in der russi- schen als auch in der deutschen Schule sehr gute Leistungen auf. 5.2.2.4.2 Erwachsenenalter – Risiko- und Schutzfaktoren In der Gegenwart liegt der Hauptstressor und damit stärkste Risikofaktor wahrscheinlich bei der Ungewissheit in der Beziehung zum getrennt lebenden Mann. Im emotionalen Be- reich sind von Lena selbst Defizite bei der Authentizität und der Konfliktbewältigung genannt worden. Ihr Selbstwertgefühl war bislang sehr an Leistungen gekoppelt; beim Wahrnehmen und Ausdrücken ihrer eigenen Gefühle und Wünsche hat sie noch we- nig Übung. Als Schutzfaktoren stehen diesen Risikofaktoren gegenüber: Kognitive Schutzfaktoren198  Selbstwirksamkeitserwartung  Internale Kontrollüberzeugungen  Kohärenzgefühl durch Beruf und Tätigkeit in der Selbsthilfegruppe  Religiosität199 198 Siehe Lyssenko & Bengel (2012):9. 199 Die Gemeindezugehörigkeit war im Sinne von Pargament & Cumming (2010) als “Interpersonal spiritual struggles“ zu sehen (:204). 151 Interaktionale Schutzfaktoren  Aktive Bewältigungsstrategien  Soziale Unterstützung durch Familie und Geschwister, durch Frauen der Selbsthilfegruppe. 5.2.2.5 Zusammenwirken von Risiko- und Schutzfaktoren Das Modell der Herausforderung steht im Vordergrund. Die Betreuung der Geschwister betrachtet Lena als ehrenvolle Aufgabe, die man ihr zutraut. Bei der Bewältigung der In- tegrationsaufgabe in der deutschen Schule kämpft sie, bis sie Erfolg hat und mit der mittle- ren Reife abschließen kann. Das Modell der Kompensation dürfte in der Kindheit eine Rolle gespielt haben, wenn das Außenseitertum Lenas als Kind von Christen in der russi- schen Schule durch positive Erlebnisse im Elternhaus ausgeglichen wurde.200 Diese beiden Modelle sind auch angesichts der Alkoholproblematik des Mannes zu erkennen: Lena wird aktiv, nimmt Hilfe in Anspruch und lernt neue Bewältigungsstrategien. Kompensiert wird ihre Problemsituation durch den Zusammenhalt in der Familie, durch die Kontakte und die Betreuung durch die Selbsthilfegruppe. 5.2.2.6 Bezug zur Forschungsfrage Lena ist dabei, ihr bereits beachtliches Resilienzpotential zu erhöhen bzw. zu erweitern. Wenn sie die selbstkritischen Erkenntnisse konkretisieren kann, wird sie eine sehr resilien- te Persönlichkeit sein, die mit ihren Gaben und Erfahrungsschätzen vielen Menschen hel- fen kann. Als Ansätze für die Seelsorge ist für sie festzuhalten:  Stabilisierung des Selbstwertgefühls (auch ohne Leistungsanbindung)  Balance zwischen Nächstenliebe und Selbstliebe anstreben  Gut für sich selbst sorgen lernen  Ermutigung zu stärkerer Authentizität  Ausdrucksübungen für Wünsche, Empfindungen, Bedürfnisse201  Konfliktbewältigungsstrategien entwickeln  Orte der Zugehörigkeit für sich ausmachen202 200 Durch Beten und Singen, Geschichtenerzählungen und Feiern ist von einer positiven Konditionierung zum christlichen Glauben auszugehen. 201 Die sehr starke Kontrolle ist bei der Analyse des erzählten Lebens sichtbar geworden. 202 Zugehörigkeiten sind für Lena bedeutsam durch die Familiengeschichte. 152 5.2.2.7 Synopse der Lebensgeschichten: Elsa und Lena bezüglich der Resilienzansätze Elsas Lebensgeschichte zeigt, dass trotz ungünstiger Ausgangsbedingungen und Risiken, es gelingen kann, auch im fortgeschrittenen Erwachsenenalter, Belastendes aufzuarbeiten, das Helfersyndrom und die Co-Abhängigkeit zu überwinden, den christlichen Glauben als Ressource zu entdecken, schwere Erfahrungen für sich und andere umzuwandeln und da- mit eine höhere Lebenszufriedenheit zu erreichen. Lena spielt das Resilienzprogramm um gut zwanzig Jahre früher durch. Schon als Kind ist sie christlich sozialisiert, als Jugendliche bekennt sie sich durch die Großtaufe zu einem Leben mit Jesus Christus und hatte immer schon einen festen Rückhalt im Familienver- band. Sinngebende Aufgaben durch die Erziehung ihres Sohnes, durch die Berufstätigkeit und die Mitarbeit im Vorstand der Selbsthilfegruppe helfen ihr, die krisenhafte Zeit des Getrenntseins von ihrem Mann und die damit verbundenen offenen Fragen durchzustehen. Ihr ist eine Zunahme an Lebensfreude und das Zuhausesein in einer guten christlichen Gemeinde zu wünschen. 5.2.3 Beobachtungen in Korrelation zu Themenschwerpunkten aus den Fachbereichen203 5.2.3.1 Korrelation zur Alkoholabhängigkeit In der Bevölkerung haben sich die wissenschaftlichen Erkenntnisse über den Alkoholmiss- brauch und die Alkoholabhängigkeit noch nicht durchgesetzt, wenn man die Beobachtun- gen in den sechs Interviews zugrundelegt.204 Besonders das Verständnis der Abstinenz- notwendigkeit ist nach wie vor ein Problem. Geradezu charakteristisch erscheint der Aus- spruch der Bekannten von Gerda: „G., was regst dich uff, der hot doch ne Therapie ge- macht. Der wird doch wohl mal ne Flasche Bier trinken können.“205 Auch die Erfah- rungen des Mannes von Beate mit seinen Arbeitskollegen gehen in diese Richtung: „[…] die haben’s immer wieder versucht, ihn zu reizen und ähm, (1) zu sagen: „Trink doch mal was.“ Da gab’s dann Fahrten, die die aus der Kasse gemacht haben und die dann gesagt haben: „Mensch, deine Frau ist doch nicht dabei, jetzt kannst doch mal einen trinken.“206 Mit Ausnahme von Beate, die durch ihren Beruf als Arzthelferin und durch Erfahrun- gen in der Verwandtschaft die Bedeutung der Alkoholabhängigkeit nicht unterschätzte, 203 Die Transkripte der narrativen Interviews - Siehe Anlagen: A22 I, A23 I und CD I: A22 II, A23 II – A27 II werden dabei als Datenmaterial verwendet. 204 Sie werden durch Erfahrungen der Verfasserin in ihrer Umgebung bestätigt. 205 A26 I/18/21-23, CD I. 206 A27 II/9/9-13, CD I. 153 kannten sich die anderen Biografinnen überhaupt nicht aus, obwohl Ilona einen alkohol- kranken Vater hatte. Für sie war gerade in dieser Frage die Selbsthilfegruppe wichtig: „Ich gucke auf diese Alkoholismus schon ein bisschen mit andere Augen. Bis jetzt ich wollte, äh, (3) meinem Mann unbedingt helfen. Aber jetzt langsam verstehe ich, ich kann ihm nicht helfen. Ich kann nur mir helfen.“207 Die Biografinnen haben keine Gewalt erlebt, aber unter den Persönlichkeitsveränderungen der Männer durch die Sucht gelitten. Maria: „Also, mein Mann war herzensgut, aber wenn der was getrunken hatte, war das ein völlig anderer Mensch.“208 Elsa beklagt verbale Atta- cken.209 Ilona: „Diese verdammte Sucht macht alles kaputt. Weil normalerweise ((weint)) wäre er ein guter Mensch. Mit großem Herz (…). Aber dieser Alkoholismus macht alles schlimm. [...] Er ist aggressiver geworden. Er flippt schnell aus. Er beleidigt.“210 Lena und Ilona, die sich nicht kennen, haben besonders unter der Abwesenheit und Gleichgültigkeit der Männer gelitten, als ihre Söhne schwer krank im Krankenhaus lagen und sie mit der ganzen Sorge und Verantwortung allein da standen. Auch nach dem Tro- ckenwerden der Männer von Elsa, Gerda und Maria fällt auf, dass die Männer nikotinab- hängig bleiben. Gerdas Mann wird zudem noch koffeinabhängig und isst Unmengen von Eiscreme. Lenas Mann entwickelte im Kontext seiner Alkoholabhängigkeit einen Hang zur Spielsucht. Die mehrschichtige Abhängigkeitserkrankung, Suchtverlagerungen und die bereits nachgewiesene Korrelation zur Nikotinabhängigkeit werden weiterhin Schwer- punkte der Forschung bleiben. Den Alkoholismus aus der „Schmuddelecke“ herauszubekommen, wird in Deutschland nicht leicht sein.211 Hier ist ein Teufelskreis zu sehen. Solange sich die moralische Wer- tung der Alkoholabhängigkeit in der Gesellschaft nicht ändert, fällt es schwer, über Prob- leme der Sucht oder der Co-Abhängigkeit offen zu sprechen. Solange die Betroffenen, un- ter ihnen Lehrer, Pfarrer, Richter, Ärzte,… schweigen, nicht den Mut haben, zu ihrer Ab- hängigkeit zu stehen und über ihre Erfahrungen zu sprechen, solange ändert sich in der öffentlichen Meinung nichts. Stille, fleißige, weitgehend unauffällige Männer212 passen nicht zum Image eines Alkoho- likers, das immer noch im Bewusstsein der Bevölkerung verankert ist.213 Ein Wandel ist 207 A25 II/4/20-23, CD I. 208 A24 I/1/35-36, CD I. 209 Siehe Anlagen: A22 I/6/16-18. 210 A25 I/7/2-4 und 6, CD I. 211 Siehe Text zur Anm. Nr. 56 (Betty und Gerald Ford), S. 64. 212 Die Männer von Elsa, Ilona und Beate waren nie arbeitslos; Gerdas Mann immer nur für kurze Zeit. 213 Elsas Schwiegermutter: „Was willst du denn, er ist doch arbeitssam.“ (A22 I/6/2, Anlagen). 154 bei einigen Arbeitgebern auszumachen214, die ihre Angestellten nicht einfach entlassen, sondern Sorge für eine Therapie und spätere professionelle Begleitung tragen.215 5.2.3.2 Korrelation zur Co-Abhängigkeitsforschung Die Hauptmotive, die Co-Abhängigkeit lange Zeit aufrechtzuerhalten, liegen bei Elsa, Ma- ria, Ilona und Gerda nach ihren Aussagen in der wirtschaftlichen Abhängigkeit und um der Kinder willen. Als Ilonas Sohn Abitur hatte und sie den Wiedereinstieg in den Beruf schaffte, fühlte sie sich stark genug für eine Trennung. Dass Lena und Beate relativ früh Hilfe suchten, liegt mit hoher Wahrscheinlichkeit auch an ihrer Berufstätigkeit und der damit verbundenen Unabhängigkeit; auch ist die Bereitschaft, sich der Problematik öffent- lich zu stellen und es nicht im Stillen selbst zu versuchen, bei den jüngeren Biografinnen, Ilona, Beate und Lena, deutlich höher als bei den älteren. Das Gespräch Beates mit ihrer Mutter, die Probleme mit dem Vorgehen ihrer Tochter hatte, bestätigt diese Beobach- tung.216 In Gerdas Lebensgeschichte, die zwei Therapien ihres Mannes, 1982 und 1990, erlebt hat, zeigt sich, dass sich auch ein Wandel in der Behandlung der Angehörigen voll- zogen haben muss. Sie werden nun mehr um ihrer selbst willen wahrgenommen und einbe- zogen, wie es Elsa und Maria in der Einrichtung auch erfahren haben. Ilona, Beate und Lena sind durch Eigeninitiative, nicht über die Therapie des Mannes zu den Selbsthilfe- gruppen gestoßen. Auffallend ist, dass bei allen Biografinnen die Phase der Verantwor- tungsübernahme am stärksten ausgeprägt war. Bei Beate bestand sie hauptsächlich darin, Hilfe für sich und ihren Mann zu organisieren; die anderen empfanden sich als alleinerzie- hende Mütter, wobei der alkoholabhängige Mann von Maria als zusätzliches Kind gesehen wird. Maria: „Ich kam mir immer vor wie ne Frau (1), ähm (1) alleinstehend mit drei Kin- dern. Und da gehörte dann mein Mann dazu. Also, auf den konnte ich mich überhaupt net verlassen. Ich musste mich um alles kümmern.“217 Ilona: „Ich hab mich sehr oft, äh, gefühlt als alleinerziehende Mutter. Ich bin immer nur mit meinem Kind allein überall gegangen, ob das, ob das, äh, Kurse waren für Kin- der, ob das in die Kirche, egal, wo. Wie gesagt, ich hab mich gefühlt wie Alleinerzie- hende, weil sein Vater war nie da.“218 214 Es wurde auch in einigen Erfahrungsberichten beim Jubiläumstreffen der Selbsthilfegruppe in Südhessen am 08.09.2013 deutlich. – Memo Nr. 7. 215 Das war bei Elsas und Gerdas Mann der Fall; bei Beates Mann arbeitete der Werksarzt mit dem Hausarzt zusammen. 216 „Meine=meine Mutter in erster Linie hatte ein ganz großes Problem damit, dass ich mich jetzt so öffnen wollte. Also für die war das ganz schlimm.“ (A27 I/1/33-34, CD I). 217 A24 II/2/3-6, CD I. 218 A25 I/4/21-25, CD I. 155 Gerda: „Ich habe da immer stark sein müssen. Ich habe alles gemanagt, alles gemacht mit unserem Land zuhause und, und, und, äh, wo ich auch alles geholfen habe usw. und die Kinder und alles, was mit der Schule war, am Elternsprechtag, überall musste ich alleine hin. Er konnte ja net mit, der war ja ewig blau, [ … ].“219 Alle sechs Biografinnen sprachen von psychosomatischen Beschwerden oder schweren Erkrankungen. Bei Beate, Maria und Gerda traten sie erst auf, nachdem die Männer tro- cken oder in der Therapie waren. Bei Ilona und Lena führten ihre Beschwerden dazu, pro- fessionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen und schließlich zur Trennung von ihren Männern. Der Appell an die Hausärzte, bei psychosomatischen Beschwerden die Familiensituation zu beachten und so auf die eigentliche Ursache der Erkrankungen zu kommen, ist nach wie vor aktuell. 5.2.3.3 Korrelation zur Resilienzforschung Die sechs Biografinnen sind starke Frauen, fleißig, eigenständig und kompetent. Sie gera- ten an alkoholabhängige Männer.220 Lask (2004) sieht in der Partnerwahl Grundmuster der Kindheit modifiziert weitergeführt (:105). „Beide haben ein defizitäres Selbstwertgefühl. Sie gleichen diese unterschiedlich aus. Die Partnerin aktiv durch Übernahme der Verantwortung für den Partner. Sie ist die Gebende. Der Partner erhält den Selbstwertausgleich durch die Überverantwortlichkeit und Überfürsorglichkeit der Partnerin und den Alkohol. Er ist der Empfangende“ (:105). Zangsläufig ergibt sich für die Frau, dass sie keine Zeit für sich hat, keine Eigeninteressen entwickeln kann, die Sorge für sich selbst auf der Strecke bleibt, ein Resilienz- Risikofaktor. Wenn das soziale Netz fehlt, z. B. bei Elsa, Maria und phasenweise auch bei Ilona, verwundert es nicht, wenn Krankheiten die Folge sind. Die Berufstätigkeit von Elsa, Maria und Gerda und Zeiten der Erholung wirken stabilisierend, verlängern aber die Co- Abhängigkeitszeit, weil sich das Arrangement nicht grundsätzlich ändert. Bei Ilona bewirkt die Wiederaufnahme der Berufstätigkeit nach einer Kur mit psychotherapeutischer Betreu- ung ein verändertes Selbstwertgefühl, aber auch finanzielle Unabhängigkeit und führt zum Entschluss des getrennten Lebens. Der Netzwerkorientierung, einem Resilienzfaktor, der besonders von Jutta Heller heraus- gestellt wird, 221 kommt für die co-abhängige Frau eine hohe Bedeutung zu. Er beinhaltet den Mut, andere um Hilfe zu bitten und Hilfe anzunehmen. Am Beispiel von Beates Le- bensgeschichte ist zu sehen, wie es gelingen kann, Schritt für Schritt ein solches Netzwerk 219 A26 I/17/35-39, CD I. 220 Bei Gerdas Mann entwickelte sich die Alkoholabhängigkeit während der Berufsausübung. 221 Siehe Kapitel 4.6.4. (Sieben Schlüssel für mehr innere Stärke nach Jutta Heller), S. 89f. 156 aufzubauen, dennoch war es ein harter Kampf und auch hier bedurfte die Verarbeitung und das Erlangen der partnerschaftlichen Balance mehrere Jahre. Die Hilfen, die die Biografinnen früher oder später in den Selbsthilfegruppen bekamen, waren vielfältig.222 Sie fanden emotionale Unterstützung, fühlten sich verstanden,223 lern- ten adäquate Copingstrategien, erfuhren oft auch praktische Hilfe und Korrekur.224 Die Arbeit in den Gruppen ist und war deshalb so wichtig, weil sie zu Wendepunkten, zu Um- und Neuinterpretationen und heilsamen Veränderungen führen können und geführt ha- ben,225 Nur die Katholikin Ilona bekommt Hilfe auch durch die Anbindung an ihre Ge- meinde.226 Lena erlebte Ahnungslosigkeit und Hilflosigkeit gegenüber der Problematik in der Gemeinde, für Elsa und Maria wurde die Einrichtung zur Ersatzgemeinde. Auch Beate und Gerda erwarten keine Hilfe von ihren Heimatgemeinden. Obwohl die Betroffenen- gruppe, in der Gerda mitarbeitet, sich im Evangelischen Gemeindehaus trifft, gibt es kei- nen Kontakt zum sonstigen Gemeindeleben. Über ihre Schwester, eine der Kirchenvorste- herinnen, hat es Gerda aber erreicht, dass auch alkoholfreies Abendmahl angeboten wird. Elsa wies darauf hin, dass noch niemals in der Angehörigengruppe eine Gemeinde erwähnt wurde. Hier ist, bezogen auf die evangelischen Gemeinden, kein Wandel zu erkennen. 5.3 Zusammenfassung Über die Analysen der beiden narrativen Interviews wurden die individuellen Risiko- und Schutzfaktoren der Biografinnen verdeutlicht. Als gemeinsame Faktoren stellten sich die Selbstwertproblematik, Partnerwahl, starke Übernahme von Verantwortung und die Not- wendigkeit professioneller Hilfe heraus. Die Erkenntnisse der Co-Abhängigkeitsforschung bestätigten sich. Ergänzend kann nach der Zusammenstellung der Beobachtungen aus allen sechs Interviews festgehalten werden, dass bei diesen Frauen die Übernahme von Verant- wortung das hervorstechende Merkmal der Co-Abhängigkeit war, dass sie gesundheitlich einen hohen Preis bezahlt haben und dass es einer jahrelangen Begleitung, Paarberatung oder Paartherapie bedarf, um die Ursachen der Beziehungs- oder Kommunikationsstörung zu beheben. Die Partner müssen allerdings dazu auch bereit sein. Nicht immer führen kon- 222 In einer der Empfehlungen von Elisabeth Lucas (2013) heißt es: „Verbinden Sie sich mit denen, denen es so geht wie Ihnen. Sie wissen, wie es um Sie steht, und das tut Ihnen gut“ (:141-142). 223 Beate: „Das erste Mal war ganz schrecklich. Also, das sehe ich noch gut vor mir. Ich hab nur geweint, konnte gar nichts erzählen. Was aber gleich ganz positiv rüberkam, dass da Frauen saßen, die ja alle das- selbe Problem hatten. Entweder hatten sie’s schon geschafft oder waren au mitten drin. Aber es gab halt Hoffnung. Man kann es schaffen, ne.“ (A27 I/2/30-34), CD I. 224 Lena: „Es war net so, dass man nur alles losgelassen hat, sondern, dass man sehr oft gezeigt bekommen hat: ‚Was machst du? Du hast noch keinen Unterhalt eingefordert? Was machst denn du eigentlich?‘ “ (A23 II/5/22-25), CD I. 225 Siehe Rosenthal 1995:134. 226 A25 II/2/15-27, CD I. 157 krete Schritte, Abgrenzungen, Trennungen zum gewünschten Erfolg. Im Sinne der Resili- enzforschung erwies sich die Netzwerkorientierung als wichtigster Faktor. Alle Frauen sind auf diesem Wege resilient geworden. Die Arbeit von vier der Biografinnen in der Suchtberatung, in Angehörigen- oder Betrofffenengruppen zeigt auf besondere Weise, dass sie nicht nur die eigene Situation positiv verändert haben, sondern bereit sind, ihre Erfah- rungen an andere weiterzugeben. Und nicht zuletzt die Bereitschaft der sechs Biografin- nen, ein narratives Interview zu geben, damit aus ihren Lebensgeschichten gelernt werden kann, weist darauf hin, dass aus den schweren Erfahrungen „Perlen“ der Resilienz gewor- den sind. Ausgehend von der Meta-Ebene, den Grundannahmen und Prinzipien der interpretati- ven Sozialforschung und der Biografieforschung haben wir uns, bezogen auf das „Drei- Welten-Modell“ von Mouton227 beim Interview in „Welt Eins“ bewegt, der Welt des all- täglichen Lebens. Bei der Analyse wurde die Beziehung zu Methoden der interpretativen Sozialforschung, zur „ Zweiten Welt“, hergestellt, so auch bei der Untersuchung durch Kriterien der Resilienzforschung und bei den Beobachtungen in Korrelation zu den Fach- wissenschaften. Die Erkenntnisse sollen der alltäglichen Welt, in diesem Fall der seelsor- gerlichen Hilfe und Beratung, zugute kommen. Der Bezug zur Theorie der interpretativen Sozialforschung und Biografieforschung und die Einbettung in die Praktische Theologie und damit der Bezug zur Meta-Ebene, zur „Dritten Welt“, werden noch zu diskutieren sein. 227 Siehe Anm. Nr. 1, Seite 16. 158 6 Diskussion der Ergebnisse und Handlungsempfehlungen 6.1 Reflexion des Forschungsprozesses – Gütekriterien Die Gütekriterien der quantifizierenden Sozialforschung – vor allem Objektivität, Validität und Reliabilität – können für die qualitative Sozialforschung nicht einfach übernommen werden. Aus dieser Position heraus entwickelte sich die Forderung nach eigenständigen Gütekriterien qualitativer Forschung (Lüders 2005:80). Ines Steinke (2012) schlägt sieben „Kernkriterien qualitativer Forschung“228 (:323-331) vor, von denen fünf nach untersu- chungsspezifischen Gründen ausgewählt und dargestellt werden. 6.1.1 Intersubjektive Nachvollziehbarkeit Gegenüber der intersubjektiven (und objektiven) Überprüfbarkeit bei quantitativer For- schung ist für qualitatives Vorgehen die intersubjektive Nachvollziehbarkeit angemessen. Durch die Dokumentation der Erhebungsmethoden, der Datenanalyse und der Auswer- tungsschritte kann nachvollzogen werden, welche Voraussetzungen für die Interpretation gegeben sind. Es werden kodifizierte Verfahren, in diesem Fall narrative Interviews, an- gewandt. Die hier vorliegende Datenanalyse nach Gabriele Rosenthal liegt in der Tradition der objektiven Hermeneutik von Ulrich Oevermann und der Erzähl- und Textanalyse von Fritz Schütze, verknüpft mit der thematischen Feldanalyse von Wolfram Fischer.229 „Wenn kodifizierte Verfahren verwendet werden, verfügt der Leser einer Publikation über Infor- mationen, die eine Kontrolle bzw. den Nachvollzug der Untersuchung erleichtern“ (Steinke 2012:326). Die Auswahl bei den Analyseschritten der Datenauswertung wird dokumentiert und begründet.230 Die Analyse gelebten Lebens, die die Vorstellung der Familiengeschich- te und die Analyse der biografischen Daten beinhaltet, gab Auskunft über „Vorwelt“, „Umwelt“ und „Mitwelt“ der Biografinnen und damit Zusammenhänge zwischen der Le- bensgeschichte und der Kultur- und Zeitgeschichte. Gerade durch die sehr unterschiedli- chen Lebensumstände der beiden ausgewählten Biografinnen wurde die Bedeutung der Prägungen in dieser Hinsicht hervorgehoben. Erkenntnisse zur gegenwärtigen Situation der Selbstpräsentation konnten nach Sequenzierung und Textsortenbestimmung durch die Ana- lyse und Auswertung des erzählten Lebens ermittelt werden. 228 1. Intersubjektive Nachvollziehbarkeit; 2. Indikation des Forschungsprozesses; 3. Empirische Veranke- rung; 4. Limitation; 5. Kohärenz; 6. Relevanz; 7. Reflektierte Subjektivität (Steinke 2012: 323-331). 229 Siehe Kapitel 5.1.6. (Analyseverfahren), S. 101f. 230 Siehe S. 103f. 159 Für die Beantwortung der Forschungsfrage wurden aussagekräftige Textstellen wichtiger Themenbereiche (Selbstwert, Beruf, Christlicher Glaube, Ehe/Ehemann) ausgewählt und das subjektive Verständnis des Erlebens der Biografinnen, Veränderungsprozesse bei der Bewertung, das Fühlen und Empfinden beschrieben und interpretiert. Diese Analyse des erlebten Lebens stellte die wichtigste Ausgangsbasis für die Resilienzfaktorenuntersuchung dar. Mit Sicherheit hätten weitere Analyseschritte, besonders die Kontrastierung der er- zählten mit der erlebten Lebensgeschichte, aber auch die Feinanalyse vertiefende oder neue Erkenntnisse gebracht. Da die angewandte Analyse- und Interpretationsmethode sehr zeit- aufwändig und arbeitsintensiv ist, musste eine Einschränkung aus arbeitsökonomischen Gründen erfolgen, zumal durch die geleisteten Analyseschritte bereits eine solide Diskus- sionsgrundlage für den Bezug zur Forschungsfrage gegeben war. 6.1.2 Indikation des Forschungsprozesses Das Kriterium Indikation umfasst nicht nur die Angemessenheit der Erhebungs- und Aus- wertungsmethoden, sondern bezieht sich auf den ganzen Forschungsprozess (:326). Die Entscheidung für qualitative und nicht für quantitative Forschungsmethoden ist erklärt worden.231 Die Wahl der narrativen Interviews als Erhebungsmethode ist durch die vielen Informationen zum Forschungsthema und zur Forschungsfrage bestätigt, die in einem Leit- fadeninterview so nicht hätten erfasst werden können. Das Zustandekommen von sechs Interviews erwies sich als Glücksfall, besonders in Bezug auf die Altersstruktur der Bio- grafinnen. 6.1.3 Empirische Verankerung Den Erfordernissen des Gütekriteriums „empirische Verankerung“, „dicht an den Daten“ zu arbeiten, wird entsprochen, denn als Analyse- und Interpretationsgrundlage diente die wörtliche Verschriftlichung der narrativen Interviews mit den Anmerkungen zu Sprechstil und Verhaltensweisen, ergänzt durch die Memos der Interviewerin. Die Möglichkeit, Neu- es zu entdecken, ist besonders durch das abduktive Verfahren, wie Gabriele Rosenthal es versteht, gegeben.232 Eine kommunikative Validierung, eine Rückbindung der gewonne- nen Erkenntnisse an die Untersuchten, ist dadurch angebahnt, dass den Biografinnen in der Einverständniserklärung zugesichert wird, die Auswertung vorgelegt zu bekommen. Alle 231 Siehe Kapitel 5.1.1. (Qualitative Sozialforschung), S.93f. 232 Siehe S. 113-114; S. 137-138, Beispiele der Hypothesengewinnung nach dem abduktiven Verfahren und Erklärung, S. 102. 160 sechs Biografinnen haben ohne Änderungsvorschläge der Verwertung ihrer Interviews zugestimmt. „Elsa“ und „Lena“ betonen die Stimmigkeit der Interpretation.233 Sinnvoll erscheint es der Verfasserin, wenn die Auswertung mit der jeweiligen Biografin gemeinsam hätte bespro- chen werden können, um auch Gelegenheit zu Rückfragen zu geben. 6.1.4 Limitation „Dieses Kriterium dient dazu, im Sinne eines die Grenzen des Gel- tungsbereichs, d. h. der Verallgemeinerbarkeit einer im Forschungsprozess entwickelten Theorie herauszufinden und zu prüfen“ (:329). Inwieweit aufgrund von sechs bzw. von zwei narrativen Interviews234 allgemeingültige Erkenntnisse gewonnen werden können, ist die zentrale Frage in der rekonstruktiven So- zialforschung. Das Auffinden des Allgemeinen im Besonderen geht auf das durch die Bio- grafieforschung zugrunde gelegte Wechselverhältnis von Individuum und Gesellschaft aus.235 „Biographische Strukturen spiegeln […], auch wenn sie sich scheinbar am Indivi- duellen kristallisieren, immer auch die Gesellschaft in der Erfahrung der Biographen wi- der“ (Goblirsch 2010:340). „Bei interpretativen Verfahren wird […] von einer dialektischen Konzeption von ‚indi- viduell und allgemein‘ und damit von der prinzipiellen Auffindbarkeit des Allgemeinen im Besonderen ausgegangen. Jeder einzelne Fall, der ja immer ein in der sozialen Wirklichkeit konstituierter ist, verdeutlicht etwas über das Verhältnis von Individuel- lem und Allgemeinen. Er entsteht im Allgemeinen und ist damit auch Teil des Allge- meinen. Damit gibt auch jeder einzelne Fall Hinweise auf das Allgemeine. Versteht man das Allgemeine nicht im numerischen Sinne, hängt die Folgerung vom Einzelnen auf das Allgemeine auch nicht von der Häufigkeit des Auftretens eines Phänomens ab, sondern von der Rekonstruktion der konstituierenden Momente des einzelnen Phäno- mens in Absonderung von den situationsspezifischen, d. h. fallspezifischen Besonder- heiten. Verallgemeinerungen werden also nicht im numerischen, sondern theoretischen Sinne vorgenommen“ (Rosenthal 2011:73-74). Von Elsas Fallbeispiel können wir, wenn es um die Verallgemeinerung im theoretischen und nicht im numerischen Sinne geht, auf alle gleichartigen Fälle schließen und ebenso von Lenas konkretem Fall aus. 233 „Elsa“: „Die Biografieauswertung kann ich nochmal für die heutige Gegenwart unterstreichen. Den Glauben, den ich für mich gefunden habe, hilft mir auch heute, gewisse Situationen zu bewältigen, wieder neue Kraft für den weiteren Weg zu erhalten.“ (Beleg auf der Einverständniserklärung, CD II). „Lena“: „Vielen Dank für Ihre Ausarbeitung. Es hat mir gut getan, mein Leben so zu lesen. Manchmal tat es auch weh.“ – (Beleg auf der Einverständniserklärung zur Auswertung, CD II). 234 Siehe Kapitel 5.1.8.4 (Begründung der Auswahl zur Transkription), S. 109. 235 Siehe Kapitel 5.1.3 (Biografieforschung), S. 95f. 161 Alle sechs Interviews sind für die Forschungs-Fragestellung relevante Fälle. Zur Datenana- lyse wurden zwei ausgewählt, die in besonderer Weise „theoretisch relevante Merkmal- kombinationen“ (Kelle & Kluge 2010:41) gewährleisteten. 6.1.5 Reflektierte Subjektivität Zum Kriterium „Reflektierte Subjektivität“ (Steinke 2012:330) ist anzumerken, dass die persönlichen Voraussetzungen der Forscherin (:331), die bei der Untersuchung eine Rolle spielen, dargestellt und diskutiert wurden.236 Von einer Vertrauensbeziehung zwischen den Biografinnen und der Forscherin (:331) ist auszugehen, sonst wären die Interviews mit dieser sensiblen Thematik gar nicht zustande gekommen. Auf evtl. auftretende Schwierig- keiten (Helfferich 2009:61) war die Interviewerin vorbereitet. Das Angebot, jederzeit eine Pause machen zu können, das Interview abzubrechen, galt als Verabredung für solche Fäl- le. Für die Kommunikation zwischen den Biografinnen und der Interviewerin war u.a. be- deutsam, dass nicht von einem gemeinsamen Erfahrungshintergrund (:61) auszugehen war.237 Die Biografinnen waren alle bemüht, ihre Situation sehr anschaulich zu schildern bzw. zu erklären. Sie waren die Informierten, die Gebenden.238 Mit der Untersuchung sollte ein Beitrag zur Biografieforschung geleistet werden, um für Seelsorge und Beratung Hinweise zum innovativeren Umgang von co-abhängigen Frauen zu gewinnen. Der nächste Beitrag wird sich dem Bezug zur Theorie der Biografie- forschung, im Sinne von Mouton zur Meta-Ebene, widmen und dann die Untersuchung als Beitrag zur Praktischen Theologie beleuchten. 6.2 „Co-Abhängigkeit und Resilienz“ als Beitrag zur Biografieforschung Über die biografischen Selbstpräsentationen, bei denen die Erzählenden selbst bestimmen, welche Inhalte sie mit welchen Deutungen entfalten, erhalten wir nicht nur subjektive Sinnkonstruktionen gegenüber dem eigenen Leben der Biografinnen, sondern auch Hin- weise auf die sozialen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen (Hanses 2011:277).239 Diese Folgerungen gehen auf Alfred Schütz zurück, der das „Element der unabänderlichen Geschichtlichkeit der Situation des Einzeldaseins“ für die Biografieforschung herausstellte bzw. nachgewiesen hat (Schütz & Luckmann 2003:14). Gerade im Hinblick auf Bewälti- 236 Siehe Kapitel 5.1.8.2. (Profil der Interviewerin), S. 108. 237 Die Interviewerin hat nie mit einem alkoholabhängigen Partner zusammengelebt. 238 Siehe auch Anm.242 (Fehler der Interviewerin) und Kap. 6.3.1. (Stärken und Schwächen – Kritische Betrachtungen), S. 164f. 239 Siehe auch Kapitel 6.1.4. (Limitation). 162 gungsstrategien, auf Ressourcengewinnung und Resilienzfaktoren ist die „biographische Prägung des Wissensvorrats in der Gegenwart“ (:163) von großer Bedeutung. Sie verweist auf die Familiengeschichte, denn insbesondere Bewältigungsstrategien sind oft durch die „Vorwelt“ geprägt worden.240 Die sechs Biografinnen, die Co-Abhängigkeit über längere oder kürzere Zeit erlebt ha- ben, haben ihre „Relevanzsysteme“ zu dem Zeitpunkt geändert, als sie für sich selbst Hilfe suchten und/oder als der Mann sich einer Therapie unterzog. Bei der gegenwärtigen „In- terpretationsrelevanz“ und „Motivationsrelevanz“ ist deshalb von nachträglichen Deu- tungsverschiebungen und -änderungen von Erlebnissen auszugehen, denn in der Selbsthil- fegruppe oder bei der Therapie begann die Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensge- schichte. Bei der Beantwortung der Frage, welche Rolle die Kinder während der Zeit der Abhängigkeit gespielt haben, finden wir, z. B. deutliche Uminterpretationen in Elsas, Ma- rias und Ilonas Lebensgeschichte.241 Die Entscheidung für narrative Interviews 242 erwies sich bei der sensiblen Thematik als richtig, denn das Gefühl der Autonomie war für die Interviewpartnerin wichtig. Wenn auch die Auswertung nach Gabriele Rosenthal mit dem abduktiven Verfahren243 sehr zeit- aufwändig war, wird dadurch aber ein tieferer Verständnisgewinn für die Lebensgeschichte der Biografinnen erreicht. Die textstrukturelle Analyse des erzählten Lebens mit der Diffe- renzierung nach Textsorten ermöglicht ein feineres Aufspüren der gegenwärtigen Einstel- lung und Situation. Bei Lena hätte es aber weiterer Sitzungen bedurft, damit sie den Zu- gang zu den eigenen Erlebnissen und Gefühlen nicht durch Argumentationen und Um- 240 Die Auswertung der Familiengeschichte und die der biografischen Daten, ohne den Text des narrativen Interviews, ist und war von daher aufschlussreich. 241 Elsa: „Wenn die nach Hause gekommen sind, die haben keine Freunde mit nach Hause gebracht.Das ist mir aber auch alles hinterher erst bewusst geworden.“ – (A22 I/3/44-46, CD I).). Maria: „Und dann hab ich immer versucht, dass die Kinder das net so mitkriegten, und ich hab mir auch eingebildet, sie würden das net mitkriegen. Aber (1), nach Jahren, wie die Kinder dann älter waren, dann haben die doch zu mir gesagt: ‚Mama, was du da mitgemacht hast.‘ “Und da war ich erst mal ganz er- staunt, dass, dass die das alles so mitgekriegt haben und dass die überhaupt Verständnis auch für mich hatten.“ – ( A24 I/1/39-2,3, CD I)). Ilona: „Und vor einem Jahr zuerst, als er so mit 20, mein Sohn, zuerst hat etwas gesagt, dass er ver- misst also, äh, (1) Sachen, wo mit Vater als Kinder kann mal spielen, äh, oder etwas unternehmen, also, das=das war auch Schock für mich. Weil ich hab immer gedacht, das ist ein glückliches Kind, aber, aber das war nicht so glücklich, wie ich gedacht habe.“ – ( A25 I/4/7-12, CD I)). 242 Bei der Durchführung ist es der Verfasserin allerdings nicht immer gelungen, wertneutral zu bleiben. Aus der Betroffenheit heraus zeigt sich bei einigen Anmerkungen eine deutliche Solidarisierung mit den Biografinnen; bei den Rezeptionssignalen, die bei bestimmten Erzählelementen nicht auf „hm“ oder „ja“ beschränkt bleiben konnten, bemüht sie sich aber im Relevanzrahmen der jeweiligen Bio- grafin zu bleiben. Alle Biografinnen haben sich für die Wertschätzung bedankt, die ihnen allein schon durch das Interesse an ihrer Lebensgeschichte vermittelt, die aber auch von der Verfasserin schriftlich ausgedrückt wurde. 243 Siehe Beispiele der Hypothesengewinnung, S.113-114; S. 137-138 und Erklärung S. 102. 163 schreibungen umgeht, sondern sich durch authentisches Erzählen öffnet, wie es ansatzwei- se in der Nachfragephase geschehen ist (A23 II, CD I). Die theoretischen Kenntnisse aus den Forschungsgebieten „Alkoholabhängigkeit“, „Co- Abhängigkeit“ und „Resilienzforschung“ waren bei der Durchführung der Untersuchung hilfreich, um bestimmte Aussagen und Prozesse zu verstehen und einzuordnen. In den ana- lysierten Interviews von „Elsa“ und „Lena“ finden sich die herausgehobenen Merkmale der Co-Abhängigkeit.244 Besonders die „Übernahme von Verantwortlichleit“ war kenn- zeichnend auch bei den vier anderen Biografinnen. Bei „Beate“ äußerte sich diese aller- dings darin, dass sie Hilfe für ihren Mann und für sich suchte, aktiv wurde. Die positiven Persönlichkeitsmerkmale, die Rennert, Köhler und Flassbeck für Co-Abhängige245 formu- liert haben, finden sich bei allen sechs Biografinnen. Die von Flassbeck geäußerte Vermu- tung, dass diese vom Suchtkranken ausgenutzt werden, trifft vor allem für die älteren Frau- en und für „Ilona“ zu, für alle, die über viele Jahre co-abhängig waren. Auch wenn bei „Lena“ und „Beate“ nicht von einem Abhängigkeitssyndrom246 ge- sprochen werden kann, war doch professionelle Hilfe notwendig – wie in den anderen Fäl- len auch. Nach Rennerts Spirale der Co-Abhängigkeitsentwicklung wären diese beiden Biografinnen noch nicht einmal bei der Stufe „gewohnheitsmäßig co-abhängiges Verhal- ten“ einzuordnen. Da aber gesundheitliche Beschwerden auftraten, war nach Flassbeck der Bezug zur dritten Form „Co-Abhängigkeit in Wechselwirkung mit anderen Störungen“247 gegeben und damit die Behandlungsbedürftigkeit erklärt. Das Beispiel zeigt, wie notwen- dig der Verzicht auf pauschalisierende Zuordnungen ist und dass individuelle Faktoren stark zu berücksichtigen sind. Bei den resilienzfördernden Faktoren sind die sozialen Kontakte zu betonen. Nachdem die Frauen für sich selbst Hilfe in Anspruch nahmen248, über ihre Situation und ihre Prob- leme reden konnten, verstanden und ermutigt wurden, konnten sie auch gut oder besser für sich selbst sorgen. Seelsorgerliche Hilfe in der Gemeinde bekam nur die Katholikin „Ilona“. War für „Lena“, „Gerda“ und „Ilona“ der christliche Glaube seit Kindheit an eine Ressource, so kamen „Elsa“ und „Maria“ zu dieser Kraftquelle erst durch die Einrichtung, nach oder während der Behandlung ihrer Männer. Es zeigte sich, dass co-abhängige Frauen ganz besonders durch die Entwicklung ihrer Fähigkeiten und Kompetenzen während der Zeit der Co-Abhängigkeit ein hohes Resilienz- 244 Siehe Kap. 3.5. (Co-Abhängigkeit – Zusammenfassung) S. 69f. 245 Siehe Anm. 67-69. 246 Siehe Flassbeck, Anlagen, A9. 247 Siehe S. 56 und Anlagen, A9. 248 Alle sechs Biografinnen besuchten eine Selbsthilfegruppe, siehe Rat von Elisabeth Lukas, S. 90. 164 potential gewinnen. Das wird aber nur dann konstruktiv, wenn im Kontext eines sozialen Netzwerks ein Umdenken geschieht, die Selbstfürsorge nicht vernachlässigt und möglichst die partnerschaftliche Ebenbürtigkeit erreicht wird. Der Richtungswechsel mündet nicht selten in ein Engagement für andere Betroffene. Weitgehend sind Erkenntnisse aus den Forschungsgebieten bestätigt worden; es erge- ben sich aber auch Schwerpunkte, die noch nicht herausgestellt waren, z. B. die Rolle der Paarberatung bzw. Paartherapie249 nach dem erfolgreichen Entzug des Mannes. Der Beitrag zur Biografieforschung besteht zum einen darin, dass eine bestimmte, bis- her nicht besonders beachtete Zielgruppe in den Mittelpunkt der Untersuchung gestellt wurde und ihre Schwierigkeiten und Nöte, aber auch ihre Chancen aufgezeigt wurden. Zum anderen werden Anregungen gegeben, über weitere Möglichkeiten und Hilfssysteme nachzudenken, damit ein „Umdenken“ möglichst früh bewirkt werden kann, um dadurch auch gesundheitliche Risiken einzugrenzen. Über die Rolle, die der christlichen Gemeinde dabei zukommen könnte, wird noch zu berichten sein. 6.3 „Co-Abhängigkeit und Resilienz“ als Beitrag zur Praktischen Theologie 6.3.1 Stärken und Schwächen – Kritische Betrachtungen Die Bedeutung der Biografieforschung für die Praktische Theologie ist unumstritten. Man ist auf die Wahrnehmung der sozialen Wirklichkeit angewiesen, um dem „Alltagsdefizit“ entgegenzuwirken. Mit ihrem empirischen, methodologischen und theoretischen Zugang zum Menschen kommt die Biografieforschung einer handlungstheoretisch ansetzenden Praktischen Theologie entgegen (Klein 1994:77). Nicht nur in den Sozialwissenschaften, sondern auch in der evangelischen und katholischen Theologie sind seit 2000 zahlreiche Dissertationen und Studien mit dem Bezug zur Biografieforschung verfasst worden.250 In der kirchlichen Frauenarbeit und in der Feministischen/Geschlechtssensiblen Theologie werden Methoden der Biografieforschung besonders stark genutzt.251 Zu beachten ist, dass neben den sehr zeitaufwändigen Methoden der rekonstruktiven Sozi- alforschung zur Datenerhebung und Datenanalyse auch andere Verfahren angewendet werden, z. B. Analysen von Tagebuchaufzeichnungen oder aufgeschriebenen Lebenserin- nerungen, leitfadengestützte oder offene Interviews, Online-Befragungen oder Fragebögen. 249 Die Heilung der „Beziehungsfähigkeit“, die Flassbeck in seiner personzentriertenBehandlung anspricht, S. 67, wird in der Praxis oft nicht ausreichend beachtet. 250 Siehe Haslbeck (2007); Kaupp (2005); Kreiner (2003); Prüller-Jagenteufel (2002). 251 Siehe Sammet (2005/2010); Söderblom 2004. 165 In narrativen Interviews sieht die Verfasserin aber nach wie vor ein gutes Instrumentarium zur Erkenntnisgewinnung für die Seelsorge. Durch die Stegreiferzählungen gewinnen die Biografinnen selbst neue Einsichten, werden individuelle Besonderheiten erkannt und Rückschlüsse auf allgemeine gesellschaftliche Strukturen sind möglich. Neben den persön- lichen Resilienzansätzen und über die Forschungsfrage hinaus wurde ersichtlich, dass in evangelischen Gemeinden co-abhängige Frauen ein verstecktes, schweigendes Dasein füh- ren. Die Verfasserin sah in dieser zunächst nur persönlichen Beobachtung, die bestätigt wurde, die Motivation zu der vorliegenden Untersuchung. Narrative Interviews durchzuführen, dürfte Theologen und Seelsorgern nicht schwer fallen. Aufforderungen über bestimmte Episoden zu sprechen, Erlebnisse zu erzählen, be- stimmen viele seelsorgerliche Begegnungen. Tonbandaufnahme und Transkription solcher Erzählungen, die zur Datenanalyse in der Biografieforschung (nach Gabriele Rosenthal) vorausgesetzt werden, erfordern allerdings wieder großen Aufwand. Besonders die schrift- liche Aufzeichnung wird von einigen Seelsorgern als zu objektivierend betrachtet und des- halb abgelehnt, denn die Weiterarbeit erfolgt am Text, nicht mehr mit dem Menschen. selbst. Eine Stärke im methodologischen Ansatz der vorliegenden Untersuchung sieht die Verfas- serin in der Textsortenbestimmung, die auch für die seelsorgerliche Praxis zu empfehlen ist. Kenntnis und Interpretation sind ein wichtiges Hilfsmittel in der biografischen Dia- gnostik. Welche Erzählform gewählt wird, gibt Aufschluss über die gegenwärtige Präsen- tationsintention und über die Deutungsperspektive. Auch die Umgehung emotional bedeut- samer Lebensabschnitte durch Argumentation oder Beschreibung spielt eine aufklärende Rolle. Über behutsames Nachfragen können zentrale Probleme angegangen werden, die evtl. noch niemals zuvor ausgesprochen wurden und dann eine große Erleichterung bedeu- ten. Die abduktive Hypothesenbildung, wie sie Rosenstock versteht, ist eine Methode, die am besten in einer Forschungsgruppe praktiziert wird, deren Teilnehmer weder die Biogra- fen noch den ganzen Text des narrativen Interviews kennen. Weder betroffen noch beein- druckt von der Persönlichkeit der Biografen, sind die Assoziationen zu den biografischen Daten und zu einzelnen ausgewählten Textstellen unbefangener, als es die der Interviewer sein können. Vor allem, wenn zwischen der Durchführung des Interviews und der Daten- 166 analyse kein großer Zeitabstand ist. Die Chance, Unbekanntes herauszufinden, ist in einer Forschungsgruppe unvergleichlich viel größer als bei der Einzelarbeit.252 Die vollständige Datenauswertung allen Biografen vorzulegen, würde die Verfasserin nicht festgeschrieben haben wollen. Bei den sechs Biografinnen war es möglich und sinn- voll, aber in dem einen oder anderen Fall kann es eine Überforderung bedeuten, deren Wirkung nicht abzuschätzen ist.253 Es ist zu wünschen, dass beim biografischen Arbeiten, das eine zunehmend wichtige Rolle in Beratung und Seelsorge bekommen hat,254 Methoden der Biografieforschung noch stärker einbezogen werden. In den systemischen Ansätzen255 wird bereits im Sinne der grundlegenden Erkenntnisse von Alfred Schütz die Familiengeschichte beachtet. Die wissenschaftlichen Arbeiten zeigen, wie bereichernd die Biografieforschung für ei- ne erfahrungsbezogene Theologie, für die Praktische Theologie ist. Auch in der vorliegen- den Untersuchung konnte aufgezeigt werden, dass Methoden der Biografieforschung zu Erkenntnissen beitragen, die zu Herausforderungen in der Seelsorge und zu Handlungs- empfehlungen für die christliche Gemeinde führen. 6.3.2 Herausforderungen für die Seelsorge Legt man die vier Relationen im Beziehungsnetz256 eines Menschen für co-abhängige Frauen zugrunde, so erkennt man, dass in allen Fällen die Ich-Selbst- und die Ich-du- (Mitmensch)-Relation gestört ist. Bei einigen war auch die Ich-DU (Gott)-Relation nicht vorhanden. Bei der Ich-du-Relation betrifft es zum einen das Verhältnis zum Partner, zum anderen auch das fehlende soziale Netz. An den Beispielen Selbstwertproblematik und Paarbeziehungsstörung257 sollen die Herausforderungen für die Seelsorge und mögliche Hilfen aufgezeigt werden. 6.3.2.1 Selbstwertproblematik Karl Lask (2004) empfiehlt als einen der ersten wichtigen Schritte die Stärkung des Selbstwertgefühls (:123, siehe Grafik 11). 252 Der Verfasserin stand eine solche Forschungsgruppe nur für die ersten drei Daten der Lebensge- schichte von „Elsa“ zur Verfügung. Siehe Anm. 98, S. 103, Forschungswerkstatt in Ludwigsburg. 253 In der Universität Kassel ist man deshalb von der kommunikativen Validierung abgerückt. 254 Siehe Frölich & Hedtmann (2013); Kast (2010), Pisarski (2010); Ruhe (2009); Klingenberger (2007); Schibilsky (2003. 255 Siehe: Fritz (2013); Pfennighaus (2011); Morgenthaler (2005). 256 Siehe Kapitel 1.3.3: Michael Herbst (2012), Manfred Seitz (2011), S. 26 dieser Arbeit. 257 Andere wichtige Themenbereiche: Umgang mit Angst, z. B. vor Rückfällen, Umgang mit Suchtverlage- rungen, Prävention für die Kinder. 167 Grafik 11: Überwindung des niedrigen Selbstwertgefühls Ob in persönlichen Beratungsgesprächen und/oder aber in einer Selbsthilfeguppe und/oder aber in der Gemeinschaft einer christlichen Gemeinde, die Ermutigung, sich selbst anzu- nehmen, sich selbst wertzuschätzen und etwas für sich selbst zu tun, ist ein Schlüsselfaktor für weitere Schritte. Wichtig ist, dass es zur „Entfaltung aufbauender Kräfte“ im Leben der 168 co-abhängigen Frau kommt. Die Anonymen Alkoholiker sehen in der Beziehung zu Gott die wichtigste Kraft für die Heilung. Das gilt sowohl für die Alkoholabhängigen als auch für die Co-Abhängigen. Auch im Blauen Kreuz sind aus diesem Grund die Verkündigung des Evangeliums, Gebetsfrühstücks- und Bibelarbeitstreffen zentrale Anliegen, in dem Wissen, dass von der Heilung der ICH-DU (Gott)-Relation Entscheidendes abhängt, letzt- lich auch die Heilung des Selbstwertgefühls. Wer sich von Gott angenommen, geliebt weiß, wird ein stabiles Selbstwertgefühl entwickeln können, selbst, wenn negative Kind- heitsprägungen vorliegen.258 Monbourquette (2008) betont neben dem Selbstwertgefühl die Selbstwerdung, bei der es darum geht, bedingungslose Liebe annehmen zu können, sich in aktiver Passivität zu üben (:16). „Zwischen der Selbstwertschätzung und der Selbstwerdung besteht eine eindeutige Kontinuität, genauso wie zwischen Selbstwertschätzung, Selbstwerdung und christli- chem Glauben“ (:224). Für Seelsorger und Verkündiger fordert er: „Es ist von entscheidender Bedeutung, dass ein Mensch, der die Gute Nachricht ver- kündigt, eine gesunde Selbstwertschätzung mitbringt. Er sollte in seinem Wesen und Verhalten selbst ‚gute Nachricht‘ sein“ (:214). Dorothea Greiner (2007) weist darauf hin, dass in heutigen Predigten sehr oft nur noch von Menschen die Rede ist. „Aber sie sagen nicht mehr, was Gott zu uns sagt und an uns tut, dass wir von Gott angenommen und zutiefst geliebte Menschen sind.“ (:210). Wer im intrinsischen Sinne glaubt, dass Jesus Christus auch für ihn gestorben ist, muss sich wert- geschätzt fühlen, denn einen größeren Beweis als den stellvertretenden Tod kann es nicht geben.259 Hilfreich sind die 24 „Bausteine für ein gesundes Selbstvertrauen“, die Reinhold Ruthe (2008) in seinem Buch „Sie sind einzigartig“ mit vielen wertvollen Tipps vorstellt. An ei- nigen Bausteinen, die für co-abhängige Frauen besonders relevant sind, sollen mögliche Hilfen aufgezeigt werden. „Ich ändere meine Gesinnung“260 Wir finden bei co-abhängigen Frauen in den meisten Fällen fest einprogrammierte innere Leitlinien, z. B. „Ich bin für alles verantwortlich.“ – „Ich bin schuld daran, dass er trinkt.“ - „Ich muss ihn retten.“ – „Ich darf über die Probleme nicht sprechen.“ - „Ich muss die Fa- milienehre bewahren.“261 Wenn die co-abhängige Frau die Notwendigkeit der Gesinnungs- 258 Am Beispiel der Lebensgeschichte von Elsa wird das sehr deutlich. 259 1. Petr 1,18; Röm 8,31. 260 Siehe Ruthe (2008:123), Baustein Nr. 19. 261 Im Volksmund fest verankert: „Das eigene Nest beschmutzt man nicht!“ 169 änderung einsieht,262 nach Ruthe ist das der erste notwendige Schritt, kann sie konkret um Änderung der destruktiven Motive beten und bekommt die Kraft der Veränderung ge- schenkt (:125). Im Zwölf-Schritte-Programm der Anonymen Alkoholiker263 bestimmen die ersten sechs Schritte eine solche Richtungsänderung; auch wenn hier der Zusammenhang mit dem Selbstwertgefühl nicht explizit angesprochen wird, so ist doch besonders beim fünften Schritt264 die Zunahme an Selbstbewusstsein zu erwarten. „Die Vergebung stärkt meinen Selbstwert“265 In den Jahren der Co-Abhängigkeit, aber auch im Leben der Biografinnen davor, hat es viele Verletzungen gegeben. Nicht nur Ruthe weist auf die entlastende Funktion der Ver- gebung hin. Wer sich selbst und anderen, die gekränkt, gedemütigt, verletzt haben, verge- ben kann, beschenkt sich selbst, schreibt Beate Weingardt (2008:28). „Die Blockade in der Beziehung zu sich selbst und zum Nächsten, aber auch zu Gott, ist aufgehoben und die ‚Energie der Liebe‘ kann wieder fließen“ (:29). Martin Grabe (2007) sieht in der Vergebung eine Lebenskunst, die schrittweise zu er- lernen ist. Gefühlsmäßig wird es nicht immer möglich sein, „das zu tun, was vielleicht ob- jektiv der richtige nächste Schritt ist“ (:144). „Vergebung ist ein innerer Reifungsprozess, der seine ihm eigene Zeit braucht und nicht beliebig beschleunigt werden kann. Es geht nicht nur um den Umgang mit einer Schädigung, sondern auch um ein Stück Lernen über uns selbst mit anderen und mit dem Leben“ (:144). Weingardt (2008) nennt als eine der Voraussetzungen für den Vergebungsprozess, dass „das Selbstwertgefühl nicht zu sehr zerstört bzw. wieder gestärkt ist“ (:134). Sie geht auch davon aus, dass beim Stabilisierungsprozess begleitende Hilfe notwendig sein wird (:135). Die Ermutigung zum Weg der Vergebung wird bei der seelsorgerlichen Begleitung deshalb nicht immer am Anfang stehen können, dennoch ist die Vergebung zur weiteren Heilung des beschädigten Selbstwertgefühls notwendig, denn „mit der Vergebung geschieht sozu- sagen eine Neuprägung unseres Selbstbewusstseins.“ (Ruthe 2008:130). Über diesen Weg überwinden co-abhängige Frauen auch Schuld- und Schamgefühle und kommen aus der Opferrolle heraus.266 262 Ilona: „Ich kann ihm nicht helfen. Ich kann nur mir helfen.“ – A25 II/4/22-23, CDI. 263 Siehe Kapitel 3.4.1, S. 61f. 264 „Wir gaben Gott, uns selbst und einem anderen Menschen gegenüber unverhüllt unsere Fehler zu.“– S.62. 265 Siehe Ruthe (2008:128), Baustein Nr. 21. 266 Siehe auch Herbst (2012:343-398); Grethlein (2012:550f). 170 „Der Selbstwert wächst, wenn Sie Gott die Ehre geben“267 Ruthe führt hier in mehrfacher Paraphrase aus, was intrinsischer Glaube für den Selbstwert einer Person bedeutet: „Vorher waren Sie unsicher, jetzt werden Sie sicher. Vorher waren Sie kraftlos, jetzt erleben Sie Kraft. Vorher waren Sie ratlos, jetzt haben Sie einen Ratgeber. Vorher wa- ren Sie gehemmt, jetzt leben sie gelöster“ (:134). „Der Glaube ist eine Basis, die den Selbstwert stärkt. Der Glaube ist eine Kraft, die Leib, Seele und Geist erfüllt. Der Glaube ist ein Halt, der die Orientierungslosigkeit be- endet. Der Glaube ist eine Perspektive für heute und für die Zukunft“ (:134). Viele trockene Alkoholiker und ehemalige co-abhängige Frauen, die z.B. im Blauen Kreuz Christen geworden sind, werden diese Sätze bestätigen können.268 Im letzten Baustein wird die Bedeutung des intrinsischen Glaubens noch einmal hervorge- hoben. „Ich bin dein Kind!269 „Wer das aus vollem Herzen sagen kann, der hat Selbstvertrauen und reagiert selbstbe- wusst. […] Herr, ich bin dein Kind – ich spüre Ruhe und Gelassenheit in meinem Her- zen. Herr, ich bin dein Kind – du nimmst mir meine Befürchtungen und Zweifel. Herr, ich bin dein Kind – du hast mich lieb und vergibst mir alle Schuld. Herr, ich bin dein Kind – du nimmst mir alle Selbstwertstörungen ab. Herr, ich bin dein Kind – ich be- gegne mir, den anderen, dem Leben und dir mit Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein. Ich danke dir für diese großartige Zusage“ (Ruthe 2008:135-136).270 Das Bild des eigenen Wertes von Gott her zu entwickeln und sich nicht abhängig zu ma- chen von irgendwelchen negativen Prägungen und Erfahrungen, ist eine große Chance, bedarf aber eines langen Prozesses. 6.3.2.2 Paar-Beziehungsstörung Viele Verletzungen kommen im Laufe der Abhängigkeitserkrankung auf beiden Seiten der Partner zusammen. Der Aufarbeitungsphase nach dem Trockenwerden des Mannes muss daher sehr viel mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden als allgemein angenommen oder in der Literatur empfohlen wird. Mit Ausnahme des Selbsthilfegruppenansatzes von Karl Lask entsteht der Eindruck, dass mit dem Trockenwerden alles wieder im Lot ist. Maria, die über 25 Jahre in der Suchtberatung tätig ist, hat erlebt, dass dann erst die kritische Pha- se beginnt. „Da sind auch hinterher schon viele Ehen auch schon noch kaputt gegangen, was ich so mitgekriegt habe, ne. (2) Das kommt ja dann auch noch dazu.“271 Beide Partner 267 Siehe Ruthe (2008:133), Baustein Nr. 23. 268 Siehe Lebensgeschichte Elsa. 269 Siehe Ruthe (2008:135). 270 Siehe Gal 4, 4-7 und 1.Joh 3, 1-2. 271 A24 II/8/25-27, CD I. 171 müssen für eine Aufarbeitung bereit sein. Gerda hat erst nach vielen Interventionen er- reicht, ihren Mann zu Gesprächssitzungen der Selbsthilfegruppe mitzunehmen. Die jahre- lange Begleitung von Beate und ihrem Mann geschah auch in Wochenendseminaren einer Selbsthilfegruppe, deren Leiterin von Karl Lask ausgebildet worden und selbst früher Be- troffene war. Beate weist in ihrem letzten Interviewbeitrag darauf hin, dass die ganze Fa- milie betreut wurde, auch die Kinder mit eingebunden waren.272 Für Maria und Elsa war die Einbindung in die Einrichtung durch Ausbildung und ehren- amtliches Engagement auch ihrer Männer zugleich eine stabilisierende Begleitung. Bei Elsa forderte der Mann wieder Mitspracherecht bei Entscheidungen, verlangte eine Aufga- benverteilung wie unter ebenbürtigen Partnern.273 Marias Mann übernahm die volle Ver- antwortung, das Pendel schlug gewissermaßen zur anderen Seite aus.274 Maria musste nach dem Tod des Mannes – wie viele Witwen – erst wieder lernen, eigenständig zu werden. Eine Behandlung der Kommunikationsstörung ist auch unter dem Blickwinkel der Ver- nachlässigung notwendig, der fast beiläufig sichtbar wurde. Gerda sagte: „Ich kam mir manchmal vor wie eine Frau, deren Mann eine Geliebte hat, nur, dass in diesem Fall die Geliebte der Alkohol war.“275 Auch wenn das Fremde, Trennende zwischen den Eheleuten keine Person, sondern das Suchtmittel ist, sind Parallelen unverkennbar da. Das Hauptinte- resse gilt dem Alkohol und nicht der Ehefrau, nicht der Familie. Die Vernachlässigung von Pflichten,276 eine vermehrte gedankliche Beschäftigung mit dem Suchtmittel und ein Man- gel an Interessen277 gehören zur nachgewiesenen Symptomatik eines Alkoholkranken. Konstruktive Formen der Auseinandersetzung sind kaum möglich; die Kommunikation ist gestört. Giesekus (2008) weist darauf hin, dass die tatsächlich gelebten und erlebten Bezie- hungsstrukturen einen großen Einfluss auf unser Wohlbefinden, unsere seelische und kör- 272 B: „Aber diese Zeit, möchte ich nochmal betonen, auch mit unseren Kindern, das war so was von hilf- reich, das kann man gar net in Worte fassen.“ I: „Wie weit kamen die Kinder mit rein?“ B:“ Die waren mit auf Wochenendseminaren. Das hatte ich vorhin vergessen, also nicht nur der Partner, die Kinder wa- ren sogar mit und die erinnern sich auch da dran und wenn ich sage, von der Frau S. spreche, dann wissen die sofort, liebe, tolle Frau, immer wollte sie auch nur das Beste für die Kinder, und wenn’s nur kleine Geschenkchen auf diesem Seminar waren, die wissen sofort, wer das ist. Und es ist auch so für mich, al- so ich würde da nie ein Geheimnis draus machen, dass diese Zeit war. Die gehört einfach mit dazu. Ne.“ (A27 II/14/7-21 – ohne Rezeptionssignale der Interviewerin, CD I)). 273 „Und dann hat er sozusagen mit der Faust auf den Tisch gehauen ((lacht)) und hat gesagt: ‚Hör mal, du wolltest n gleichwertigen Partner haben. In Zukunft möchte ich gefragt werden in solchen Sachen.‘ Ich hab erst mal nach Luft geholt. Denke, boh, was war denn das jetzt? Ne? Hab aber hinterher gemerkt, ge- nau das wolltest du eigentlich, nen gleichwertigen Partner. Also musste ich da anfangen umzulernen.“ (A22 II/4/2-12 – ohne Rezeptionssignale der Interviewerin, CD I). 274 „Und dann hab ich mich nämlich um gar nichts mehr gekümmert und das war au net gut.“ (A24 II/4/22-23, CD I). 275 Memo Nr. 6. 276 DSM IV (1.). 277 ICD 10 (5.) „Vernachlässigung anderer Vergnügen oder Interessen zugunsten des Substanzkonsums, erhöhter Zeitaufwand, um die Substanz zu beschaffen, zu konsumieren oder sich von den Folgen zu erho- len.“ 172 perliche Gesundheit haben (:62f). Und wie beim Fremdgehen versucht die „betrogene“ Partnerin evtl. „mit Liebe, Eingeständnissen, Rücksicht, Appellen, Vorwürfen o.Ä. den Kampf gegen den Rivalen/die Konkurrentin zu gewinnen“ (:97).278 Da die Rivalin „Alko- hol“ auch noch eine körperliche Abhängigkeit bewirkt hat, ist von vornherein klar, dass der Kampf aussichtslos ist. Auch das Nicht-Wahrhabenwollen und Nicht-Wahrnehmen des Unglücks und der Schäden, die durch die falsche Bindung entstehen, ist eine Parallele zum „Fremdgeher“. Anstatt nüchtern festzustellen: „Ich bin in meiner Ehe so unglücklich, weil ich fremdgehe [trinke], entsteht der Selbstbetrug: „Ich gehe fremd [trinke], weil ich so un- glücklich in meiner Ehe bin“ (:97). Und wie Giesekus empfehlen Suchttherapeuten die Trennung,279 wenn keine Änderungsbereitschaft des Mannes zu erkennen ist wie bei Ilonas Mann oder wenn Therapien wie bei Lenas Mann keine Änderung bewirken und die Bereit- schaft zur verbindlichen Begleitung fehlt. In vielen Fällen ist die Trennung notwendig, weil bereits schwere gesundheitliche Probleme bei der co-abhängigen Frau aufgetreten sind. Wenn die Trennung vom Alkohol erfolgt ist, braucht es wie nach einem Ehebruch „viel Zeit, Geduld, Bereitschaft, an sich zu arbeiten“, um eine Vertrauensbeziehung wieder aufzubauen (:98). Die Arbeit an tieferliegenden Gründen für die Beziehungsstörung kann zur Vermeidung von Rückfällen beitragen und bringt die Chance, eine gute, eine bessere Ehe zu führen.280 Hilfreiche Impulse für die „Seelsorge mit Ehepaaren“ sind bei Michael Herbst (2012) zu finden, besonders, wenn es um „Enttäuschung, Krisen und eheliche Teufelskreise“ geht (:586), auch wenn die Problembereiche Sucht und Co-Abhängigkeit nicht vorkommen. Im „Modell zu einem Miteinander und Füreinander in Partnerschaft und Familie“ skiz- ziert Lask (2004), wie den betroffenen Frauen und Männern individuell und dann auch in „partnerschaftlichen und familiären Anliegen“ geholfen werden sollte (:146). Anzumerken ist, dass Hinweise auf evtl. einzubeziehende Therapien und/oder Seelsorgeangebote fehlen. Inwieweit die christliche Botschaft einbezogen und eine seelsorgerliche Ausrichtung in den Selbsthilfegruppen gegeben ist, hängt nach Einschätzung der Verfasserin sehr stark von der Einstellung der Gruppenleiterin ab. Den christlichen Glauben als Ressource zu entdecken, 278 Das volle Programm der Co-Abhängigkeit ist hier einsetzbar. 279 „Wenn bei dem fremdgehenden Partner nicht die Bereitschaft zu einer klaren Trennung da ist, schlage ich vor, dass sich der Ehepartner trennt – zumindest, bis die außereheliche Beziehung gelöst ist, und am bes- ten so lange, bis man eine gemeinsame Therapie machen kann“ (Giesekus 2008:98). 280 Beate: „Unsere Freunde haben uns immer wieder erzählt, was wir Tolles hingekriegt haben. Nun ist mein Mann schon fast 17 Jahre trocken. Diese Erfahrung hat uns sehr zusammengeschweißt, und wir merken sofort, wenn es unserem Partner nicht gut geht, dann wird ein Gespräch geführt, dann wird auch gebohrt, wenn der eine nicht gleich bereit ist. Da wird dann so lange gebohrt, jetzt wird aber geredet. Ne, weil man spürt, da stimmt was net. (2) Dies haben wir, ja, in großen Zügen der Gruppenarbeit zu verdanken, und ich bin auch wirklich sehr dankbar, dass wir diesen Weg eingeschlagen haben und dass es so funktio- niert hat bei uns. Also, ich bin sehr dankbar dafür.“ – (A27 I/4/8-17, CD I). 173 erscheint in diesem Hilfsangebot schwieriger zu sein als bei der Arbeit des Blauen Kreu- zes. Die Heimatgemeinden spielen in beiden Einrichtungen keine Rolle. Grafik 12: Modell zu einem Miteinander und Füreinander in Partnerschaft und Familie 281 6.3.3 Handlungsempfehlung für die christliche Gemeinde Bei der Ich-du (Mitmensch)-Beziehungsstörung der co-abhängigen Frau stand bisher der Partner im Mittelpunkt, aber auch die Ich-du-Beziehung zur Familie, zum Freundeskreis, zur christlichen Gemeinde ist oft nicht intakt. Barrieren sind auf beiden Seiten errichtet worden, so scheint es. Ein soziales Netzwerk fehlt oft für die betroffenen Familien, vor allem dann, wenn die Fassade der heilen Welt aufrechterhalten werden soll und zusätzlich Kraft kostet. Wie das „Heilungspotential der Gemeinschaft“282 hier wirken könnte, die co- abhängigen Frauen sich nicht verstecken müssen, Ansprechpartner finden, ist der Verfasse- rin ein großes Anliegen. Die Katholikin Ilona wusste nach einem Gespräch mit ihrem Ge- meindepfarrer professionelle Helfer in ihrer Nähe. Schon der Gedanke daran, verschaffte ihr Erleichterung.283 281 Lask (2004):146. 282 Crabb (2007):31f. 283 „Meine Seele hat, äh, also gebrannt und nach diese Gespräch ich war einfach viel, viel leichter. Und der Pfarrer hat mir auch Adresse gegeben, äh, wenn um Psychotherapie geht, äh, vom Bekanntschaftskreis und das war auch wieder, äh, etwas für mich, wo ich vielleicht nicht auf Dauer diese Therapie bekommen 174 Die katholische Kirche ist hier offensichtlich sehr fortschrittlich. Ähnliches sollte in den evangelischen Gemeinden auch möglich sein. Der Verfasserin schwebt vor, Frauen des Besuchsdienstkreises (und andere Interessierte) zu den Themen Alkoholabhängigkeit und Co-Abhängigkeit in einem mehrteiligen Informationsseminar zu schulen. Wer gut infor- miert ist, wird wachsamer im Umgang mit den Familien, mit denen sie durch ihre Besuche Kontakt bekommen. Es sollte in der Gemeinde bekannt sein, z. B. über die beiden Pfarrer, die Kirchenvorsteher und die Verantwortlichen der Frauenkreise, dass es diese Ansprech- partnerinnen für co-abhängige Frauen gibt. Auch der Schulsozialarbeiter, der in der Ge- meinde zugleich für die Jugendarbeit zuständig ist, kann über seine Kontakte zu Kindern und Jugendlichen aus Familien mit alkoholabhängigen Vätern, die Mütter auf dieses Hilfs- angebot hinweisen. In Zusammenarbeit mit dem Diakonischen Werk, dem Blauen Kreuz und der Angehö- rigengruppe der Anonymen Alkoholikergruppe sollte auf weitere Hilfsangebote aufmerk- sam gemacht werden.284 Über das bereits bestehende Projekt „Gemeinde hilft“ ist es au- ßerdem möglich, praktische Hilfe zu vermitteln, z. B. Kinderbetreuung, während die Frau eine Selbsthilfegruppe besucht oder anderweitig etwas für sich selbst tut, z. B. auch an einem der Frauengesprächskreise, an einer Gebets- oder Bibelgruppe teilnimmt. Um die co-abhängige Frau sollte ein Beziehungsnetz anglegt werden, das es ihr erleichtert, weitere im Einzelfall notwendige Hilfe anzunehmen, um möglichst früh in eine konstruktive Rich- tung zu arbeiten und gesundheitliche Schäden zu vermeiden. Selbstverständlich hängt es davon ab, ob die betroffenen Personen dieses Angebot auch annehmen wollen. 6.4 Möglichkeiten der Weiterarbeit Im Bereich der Biografieforschung könnten narrative Interviews bis hin zur Typisierung ausgewertet werden, um differenzierte Erkenntnisse zur Persönlichkeitsstruktur co- abhängiger Frauen zu gewinnen. Die bisherige Klassifizierung aus dem Jahr 1996285 ist umstritten. Für die seelsorgerliche Beratung wäre die Einbeziehung von Persönlichkeits- strukturtests hilfreich. Zugleich könnten die Vergleiche zur Diskussion der Persönlichkeits- typisierung beitragen. Begrüßenswert ist, dass im Jahresprogramm 2014 in der Ausbildung könnte, aber mindestens einmal oder in ganz schlechten Zeiten ich konnte mich immer an diese Psycho- therapeutin wenden. Und das, äh, war eben zu diesem Zeitpunkt sehr gut für mich.“ – (A25 II/2/19-26, CD I). 284 Ein Angebot des Förderkreises „Frauen helfen Frauen“ besteht zur Zeit in Nordhessen nicht. 285 „Verschiedene Untersuchungen befaßten sich mit der Rolle der Partnerinnen von Alkoholikern. Mit Hilfe von Persönlichkeitstests wurden drei Typen definiert: die dominiernde, die masochistisch und die indiffe- rent-passive Frau. Dabei zeigte sich weiter, daß solche Persönlichkeitsentwicklungen der Frauen sowohl vor Beginn der Beziehung zum betroffenen Mann wie auch hinterher, also sekundär entstanden sein kön- nen“ (Feuerlein 2008: 44f). 175 der Biblisch Therapeutischen Seelsorge Module zum Thema: „Sucht und ihre Behand- lung“286 angeboten werden. Zu empfehlen ist als weiterer Schritt die Aufnahme des The- mas: „Beratung von Angehörigen Suchtkranker“. Da Lebensberater und Seelsorger immer wieder einmal im Zusammenhang mit anderen Beratungen, z. B. bei Ratsuchenden mit depressiven Störungen oder mit Burnout-Syndrom auf diese Problematik stoßen, wäre es an der Zeit, auch in der Ausbildung für eine professionelle Beratungsgrundlage zu sorgen. Eine Ausbildung auf landeskirchlicher Ebene ist für die ehrenamtlichen Mitarbeiter des Besuchsdienstes287 empfehlenswert und wird von der Verfasserin angeregt werden. Eine Umfrage, die andere Gemeinden und Landeskirchen betrifft, könnte Aufschluss darüber geben, ob es auf dem einen oder anderen Gebiet bereits Erfahrungen gibt, wie Gemeinden sich mit der Suchtproblematik und der Angehörigenarbeit befassen. Dabei wä- re die Einbeziehung der Arbeiten in der katholischen Kirche sicherlich auch eine Hilfe. Und nicht zuletzt sind alle präventiven Maßnahmen, die zur Resilienzausbildung beitragen, zu unterstützen, z. B. bei Kindern, Jugendlichen, jungen Erwachsenen. 6.5 Schlussthesen In kurzen Statements wird zum Schluss der Erkenntnisgewinn beleuchtet und es werden daraus abgeleitete Empfehlungen für die Behandlung der Thematik in verschiedenen Pra- xisfeldern gegeben. Im ersten Themenbereich bleiben zusammenfassende Aussagen dicht an der Untersuchung. Es folgen Themenbereiche, die allgemeinere Handlungsorte betref- fen, um für Grundlagen möglicher Veränderungen ein möglichst breites Spektrum zu bie- ten. Diese Thesen haben empfehlenden Charakter. Seelsorge und Beratung co-abhängiger Frauen 1. Narrative Interviews mit der Auswertung nach Methoden der rekonstruktiven So- zialforschung ermöglichten eine differenzierte biografische Diagnostik,288 beson- ders im Hinblick auf die Entdeckung von Risiko- und Schutzfaktoren der Resilienz und die mögliche Aktivierung von Ressourcen. 2. Die Ableitung von seelsorgerlichen Hilfen für die Biografinnen ergaben sich aus dem persönlichen Resilienzprofil.289 Für Elsa geht es nach einer Therapie, in der die traumatischen Verletzungen der Kindheit und ihre belastete Beziehung zur Mutter aufgearbeitet wurden, gegenwär- tig darum, der Mutter mit mehr Selbstbewusstsein zu begegnen und an der partner- schaftlichen Beziehung weiter zu arbeiten. 286 Beispiel: 22.01.2014, Karlsbad, Reimann (2013). 287 Amt für Gemeindentwicklung in der Evangelischen Kirche von Kurhessen und Waldeck. 288 Siehe Hanses (2011); Höfer & Straus (2011); Jüttemann ( 2011). 289 Siehe Kapitel 5.2.1.6 „Elsa“ und Kapitel 5.2.2.6 „Lena“. 176 Abgeleitete Thesen:  Die Balance zwischen Engagement und Selbstfürsorge gilt es ebenso im Auge zu behalten wie die Tertiärprävention, um einen Rückfall in das Helfersyndrom zu erkennen bzw. zu vermeiden.  Der intrinsisch verstandene christliche Glaube spielt für sie weiterhin eine be- deutende Rolle bei der Resilienzgewinnung.290 Abgeleitete Thesen zur Arbeit mit einer Therapeutin für Lena:  Sie achtet darauf, ihr Selbstwertgefühl nicht allein oder zu stark von der Lei- tung abhängig zu machen.  Sie bemüht sich, die Selbstfürsorge stärker zu beachten und den Gefühlen mehr Raum und Ausdruck zu verleihen.  Sie sieht sich herausgefordert, eine gesunde Streitkultur zu entwickeln.  Für Lena sind das persönliche Bekenntnis zu Jesus Christus und gelebter Glau- be seit ihrer Kindheit bestimmende Stabilitätsfaktoren.  Mit ihren vielfältigen Fähigkeiten arbeitet sie im Vorstand der Selbsthilfegrup- pe mit und stellt damit ihr Erfahrungsrepertoire anderen Frauen zur Verfügung. 3. Zu den Themenbereichen Selbstwertproblematik und Paar-Beziehungsstörung wurden notwendige Interventionen für co-abhängige Frauen erarbeitet. Im Blick- punkt der Betrachtungen stand die Heilung der vier Beziehungsrelationen: Ich-DU (Gott); Ich-du (Mitmensch, Partner, Gesellschaft); Ich-Es; Ich-Selbst. Der Zusam- menhang zwischen der Ich-DU (Gott)-Relation und der Ich-Selbst-Relation war besonders für die Stabilisierung des Selbstwerts der co-abhängigen Frau bedeut- sam. Der alkoholabhängige Mann, hält eine krankhafte Ich-Es (Alkohol)- Beziehung aufrecht, die eine gestörte Ich-du (Partnerin)-Beziehung zur Folge hat und die einem Dreiecksverhältnis gleichkommt. Er bedarf ebenso einer Versöh- nung mit Gott und sich selbst wie die Partnerin. Die Notwendigkeit einer profes- sionellen Paarbegleitung bzw. einer Paartherapie wurde ersichtlich. Die richtungsweisenden Impulse mögen Lebensberatern, Seelsorgern, ehrenamtli- chen Mitarbeitern und allen an der Thematik Interessierten helfen, die Probleme co-abhängiger Frauen besser zu verstehen und Wege eröffnen, ihnen beizustehen. 4. Der intrinsisch verstandene christliche Glaube und die Netzwerkorientierung er- wiesen sich als wichtige Resilienzfaktoren. Eine besondere Rolle spielte bei den Aufarbeitungsprozessen durch Einbeziehung der Literatur von erfahrenen Seelsor- gern und Therapeuten die „Lebenskunst Vergebung“.291 5. Die Notwendigkeit der Hilfe von außen zeigte sich besondern darin, dass es im Leben der co-abhängigen Frauen dadurch zum Verständnis ihrer selbst, zur Re- interpretion des Verhaltens, der Lebensgeschichte und zu Veränderungen führte. 6. Die Untersuchung hat gezeigt, dass co-abhängige Frauen durch das jahrelange Be- wältigen von Stress- und Belastungssituationen, durch die Übernahme der Verant- wortung in fast allen Lebensbereichen ein hohes Resilienzpotential entwickelten, das dann konstruktiv wurde, als es zum Umdenken, zur Richtungsänderung kam. 290 Siehe Statement zur Interviewauswertung, Anm. 233, „Elsa“, S.160. 291 Siehe Grethlein (2012); Herbst (2012); Weingardt (2012); Grabe( 2004). 177 7. Die während der Co-Abhängigkeitszeit entwickelten Kompetenzen führten in eini- gen Fällen292 dazu, sich in der Suchtberatung und/oder Angehörigenberatung zu engagieren. Die Ex-Co-Abhängige wird durch ihre Erfahrungen zur Expertin für diese Problematik, erkennt die Schwierigkeiten in ihrem Umfeld und wird nicht selten zum Multiplikator.293 Wenn sich für gegenwärtige co-abhängige Frauen et- was zum Guten hin ändern soll, so sind ehemalige co-abhängige Frauen anzuspre- chen und als Mitarbeiterinnen, als Seelsorgerinnen oder Lebensberaterinnen zu gewinnen. Seelsorge und Lebensberatung in beruflicher Perspektive 8. Seelsorger und Lebensberater sollten für Beratung Suchtkranker und ihrer Angehö- rigen durch entsprechende Schulungen vorbereitet werden.294 9. Wenn christliche Eheberater von Prepare/Enrich (ENriching, Relationship, Issues, Communication and Happiness) in den Eheberatungs- und besonders in den Ehe- vorbereitungsseminaren (Partnerwahl) auch das Suchtpotential beachteten, könnte das präventiv eine große Hilfe sein. 10. Das Angebot bei der Online-Beratung und Internetseelsorge295 ist um die entspre- chenden Themenbereiche zu erweitern.296 Wegen der Anonymität ist hier beson- ders die Chance gegeben, dass Betroffene, Abhängige und/oder Co-Abhängige um Hilfe anfragen. 11. Sind Seelsorger und Lebensberater für die Beratung von Abhängigen und Co- Abhängigen ausgebildet, werden sie auch in der Lage sein, Referate bei Frauen- frühstückstreffen, Frauenkreisen und anderen Veranstaltungen anzubieten. Dabei sollte es auch um das Rollenverständnis der Frau gehen, da in der älteren Genera- tion und in christlichen Kreisen immer noch das Bild der für die Familie sich auf- opfernden und hingebungsvollen Frau als vorbildhaft gilt. Entspechende Literatur ist auf den Büchertischen in Veranstaltungen der Landeskirche, auf Konferenzen, Tagungen und Frauentreffen auszulegen.297 12. Für Seelsorgekongresse sollten Referenten gewonnen werden, die sich der Prob- lematik annehmen. Um ein verändertes Problembewusstsein zu bewirken, sieht die Verfasserin Chancen am ehesten darin, wenn sehr früh mit präventiven Maßnahmen begonnen wird und wenn zu- künftige Multiplikatoren in ihrer Ausbildung mit den Themen Abhängigkeitserkrankungen und Angehörigenarbeit konfrontiert und mit Fachwissen ausgestattet werden. 292 Bei Elsa, Maria, Lena und Gerda ist das der Fall. Auch die frühere nordhessische Leiterin der Selbst- hilfegruppe „Frauen helfen Frauen“ ist eine ehemalige Co-Abhängige. 293 Flassbeck (2010):235. 294 Siehe Kapitel 6.4 „Biblisch Therapeutische Seelsorge“, S. 174f. 295 Siehe Knatz (2013). Handbuch Internetseelorge: Grundlagen-Formen-Praxis. 296 Der Caritasverband bietet bereits eine Onlineberatung an, zu erreichen über: www.caritas.de, Stichwort: Sucht. Es fällt auf, dass auch hier die katholische Kirche sehr fortschrittlich ist. 297 Beispiele: Norwood (2012). Wenn Frauen zu sehr lieben; Weingardt (2012). Wer immer nur gibt … gibt irgendwann auf. 178 Ausbildung und Kompetenzentwicklung „Prävention“ 13. Die Durchführenden von Resilienzförderprogrammen, die bereits mit pädagogi- schen Übungen im Kindergarten anfangen, sind gefordert, auf die besondere Rolle der Selbstwertproblematik zu achten. 14. Sucht- und Angehörigenproblematik gehören in das Curriculum von Jugend- und Sozialarbeitern. 15. In der Seelsorgeausbildung zukünftiger Pfarrer darf in Zukunft der Problemkom- plex „Abhängigkeitssyndrom“ nicht fehlen. 16. Zu empfehlen ist die Aufnahme der Themen „Sucht und Co-Abhängigkeit“ in das Curriculum der universitären Disziplin der Praktischen Theologie. In der Folge ist es wünschenswert, wenn durch wissenschaftlich tätige Theologen und/oder Seel- sorger/Psychologen/Psychotherapeuten Publikationen zu der bisher vernachlässig- ten Thematik in den Handbüchern der Praktischen Theologie erscheinen wür- den.298 17. In den Veröffentlichungen zu „Grundlagen und Praxisfeldern evangelischer Seel- sorge“299 wäre eine Ergänzung zum Praxisfeld „Umgang mit Suchtkranken und ih- ren Angehörigen“ notwendig. 18. Auf landeskirchlicher und gemeindlicher Ebene ist die Ausbildung ehrenamtlicher Mitarbeiter im Besuchsdienst anzuraten. Landesbischof Bedford-Strohm (2011) weist in seinen Thesen zur öffentlichen Theologie auf die Bedeutung der Kirchen als Orte für Orientierungswissen und ethische Reflexionen hin. „Nicht nur aus theologischen, sondern auch aus gesellschaftstheoretischen Gründen braucht die Zivilgesellschaft öffentliche Theologie. Die demokratische Zivilgesell- schaft ist angewiesen auf Orte, an denen Orientierungswissen gepflegt und ethisch re- flektiert wird, sowie Institutionen, die solche Orte pflegen. Auch in der modernen Welt spielen die Kirchen dafür eine zentrale Rolle“ (:28). Es geht darum, dass die Kirche, vertreten durch ihre Gemeinden, zum einen, diese Chan- cen der Information, der Orientierungshilfe und ethischen Reflexion auch nutzt und zu in- novativen Impulsen beiträgt, zum anderen auch Orte bietet, wo Menschen konkret Hilfe erfahren. 298 In den aktuellen Handbüchern der Praktischen Theologie ist die vorliegende Thematik nicht vorhan- den, z. B. Gräb & Weyel (Hg.) 2007; Hauschildt & Schwab (Hg.) 2002; Haslinger (Hg.) 2000, Bd.2. Durchführungen; Haslinger (Hg.) 1999, Bd. 1 Grundlegungen. 299 Siehe Michael Herbst (2012). 179 Öffentliche Theologie 19. Informationen über typische Abhängigkeitssyndrome, besonders über die Absti- nenznotwendigkeit und ihre Begründung300 sollten vor Kirchentüren nicht ge- stoppt, sondern auch in den Gemeinden stärker in der Öffentlichkeit verbreitet werden. Das muss auf jeden Fall in den Schulungen der Pfarrer, Seelsorger und kirchlichen Mitarbeitern erfolgen und das kann durch entsprechende Broschüren der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, des Freundeskreises für Suchthilfe und der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen geschehen, z. B. auf den Büchertischen der Gemeinden, evtl. durch Anregung der inzwischen problembe- wussteren kirchlichen Vertreter. 20. Zukünftige Forschungsarbeiten in Bezug auf Suchtverlagerungen und Korrelatio- nen zu anderen Abhängigkeitssyndromen, z. B. zur Nikotinsucht301 der alkohol- kranken Männer sind zu beachten, weil sie unmittelbar auch die Angehörigen be- treffen. 21. Die Möglichkeiten der Hilfe für Angehörige von Suchtkranken sollte von den Ein- richtungen der Suchtkrankenhilfe und den Selbsthilfegruppen in den Medien auf- gezeigt werden.302 Ehrenamtliche Helfer und/oder Ex-Betroffene könnten dazu an- regen. 22. Damit Alkoholabhängigkeit und Co- Abhängigkeit keine Tabu-Themen in christli- chen Kreisen bleiben, könnte der Evangeliumsrundfunk303 und/oder der Sender Bibel TV beitragen, wenn z. B. auch einmal die Lebensgeschichte einer co- abhängigen Frau gezeigt würde. 23. Nachzudenken ist, ob es nicht auch in Deutschland an der Zeit ist, Erholungs- und Behandlungszentren speziell für Co-Abhängige zu schaffen, wie es in den USA seit längerem der Fall ist.304 24. Seelsorgerliche Predigten können dazu beitragen, auf eine größere Ausgewogen- heit zwischen Nächstenliebe und Selbstliebe hinzuwirken und die persönliche Wertschätzung Gottes jedem Menschen gegenüber, der sich sein Kind nennen darf, hervorzuheben.305 Dadurch wird das Selbstwertgefühl gestärkt und damit eine bes- sere Selbstfürsorge angeregt.306 25. Lebensbegleitende Rituale, die die christlichen Kirchen anbieten und die Prakti- zierung liturgischer Formen, wie etwa des Betens und Segnens, können zu wichti- gen Hilfen, zu Leitplanken, besonders für Suchtkranke und ihre Angehörigen wer- den, wenn sie in die Gemeinde integriert sind. 300 Siehe Artikel: „Wie funktioniert Sucht im Gehirn?“ (Erbe 2009:25), S. 33-34 dieser Arbeit 301 Siehe S. 41-42. 302 Lena hat in Südhessen von der Selbsthilfegruppe durch eine Veröffentlichung in der Presse erfahren. 303 Beispielsweise mit der Sendung „Hof mit Himmel“. 304 Pia Mellody, z. B. leitet eine solche Anstalt (siehe S. 48). 305 Bei der Predigt zu Gal 4,4, am ersten Weihnachtsfeiertag, 25.12.2013, war das der Fall. 306 Jesus sorgte für sich selbst, er zog sich zum Beten und Kraftschöpfen in die Einsamkeit zurück, entzog sich immer wieder einmal den Versuchen der Fremdbestimmung (Mk1, 35; Mt 14, 13; Lk 4, 42). 180 26. Hilfe vor Ort307 zu gewährleisten, sollte auch Aufgabe christlicher Gemeinden sein bzw. werden. Die evangelistische Dimension kirchlichen Handelns ist auch in der Diakonie zu konkretisieren.308 Es bedeutet, dass Pfarrer, amtliche und ehrenamtli- che kirchliche Mitarbeiter die Scheu vor einem Tabu-Thema aufgeben müssten, die Realität nicht (länger) verleugnen dürften. Das „heilende Potential der Ge- meinde“ möge in Zukunft auch co-abhängigen Frauen und ihren Familien gelten. Die diakonische Seelsorge ist z. B. für Alleinerziehende, für kranke und alte Men- schen gut angenommen worden. Es bleibt zu wünschen und zu hoffen, dass die vorliegende praktisch-theologische Masterarbeit Anstöße zu Änderungen bewirkt, damit weniger co-abhängige Frauen krank werden müssen, sondern rechtzeitig Hilfe und Ermutigung bekommen und resi- lient werden. 307 Siehe Kapitel 6.3.3, S. 173 – Die Verfasserin sieht für ihre eigene landeskirchliche Gemeinde Chancen einer Änderung gegeben. Für Aussagen über andere Gemeinden fehlen ihr Informationen. 308 „Worum […] es geht, ist jene evangelistische Dimension kirchlichen Handelns, in der eine Kirche hellhö- rig wird für die Rufe in die Wüste, also dorthin, wo Menschen darauf warten, daß jemand eine Wegstre- cke mit ihnen fährt und sie ihre Straße alsbald fröhlicher ziehen können, weil ihnen unverstandenes, zweideutiges Leben im Namen Jesu Christi eindeutig geworden ist“ (Möller 1990:77). 181 Bibliographie Armstrong, Ursula 2011. Co-Abhängigkeit: Die verkannte Krankheit. In: Ärzte Zeitung, 28.06.2011. http://www.aerztezeitung.de/praxis_wirtschaft/w_specials/special-arzt- [Stand: 2012-09-20]. Aßfalg, Reinhold 2009. Die heimliche Unterstützung der Sucht: Co-Abhängigkeit. 6..Auflage. Geesthacht: Neuland. Backhaus, Knut 2009. Der sprechende Gott: Gesammelte Studien zum Hebräerbrief. Tübingen: Mohr Siebeck. Bamberger, Günter G. 2001. Lösungsorientierte Beratung. 2. Auflage. Weinheim: Beltz. Barwinski, Rosmarie 2010. 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Wiederholter Konsum, der zu einem Versagen bei der Erfüllung wichtiger Verpflichtungen bei der Arbeit, in der Schule oder zu Hause führt 2. Wiederholter Konsum in Situationen, in denen es aufgrund des Konsums zu einer persönlichen Gefährdung kommen kann 3. Wiederholter Konsum trotz ständiger oder wiederholter sozialer oder zwi- schenmenschlicher Probleme 4. Toleranzentwicklung gekennzeichnet durch Dosissteigerung oder verminder- te Wirkung 5. Entzugssymptome oder deren Vermeidung durch Substanzkonsum 6. Konsum länger oder in größeren Mengen als geplant (Kontrollverlust) 7. Anhaltender Wunsch oder erfolglose Versuche der Kontrolle 8. Hoher Zeitaufwand für Beschaffung und Konsum der Substanz sowie Erho- len von der Wirkung 9. Aufgabe oder Reduzierung von Aktivitäten zugunsten des Substanzkonsums 10. Fortgesetzter Verbrauch trotz Kenntnis von körperlichen oder psychischen Problemen 11. Craving, starkes Verlangen oder Drang die Substanz zu konsumieren. Beim Auftreten von 2 Merkmalen innerhalb eines 12.Monats-Zeitraums gilt die Substanzgebrauchsstörung als erfüllt. Die Schwere der Symptomatik wird folgend weiter spezifiziert: Vorliegen von 2-3 Kriterien: moderat Vorliegen von 4 oder mehr Kriterien: schwer. (Rumpf & Kiefer 2011:46). -A2- 195 DSM-IV-TR Diagnostic Criteria for Alcohol Abuse and Dependence Alcohol Abuse (A) A maladaptive pattern of drinking, leading to clinically significant impairment or distress, as manifested by at least one of the following occuring within a 12-month period:  Recurrent use of alcohol resulting in a failure to fulfill major role obliga- tions at work, school, or home (e.g., repeated absences or poor work performance related to absences, suspensions, or expulsions from school; neglect of children or household)  Recurrent alcohol use in situations in which it is physically hazardous (e.g., driving an automobile or operating a machine when impaired by alcohol use)  Recurrent alcohol-related legal problems (e.g., arrests for alcohol- related disorderly conduct)  Continued alcohol use despite having persistent or recurrent social or in- terpersonal problems caused or exacerbated by the effects of alcohol (e.g., arguments with spouse about consequences of intoxication). (B) Never met criteria for alcohol dependence. Alcohol Dependence (A) A maladaptive pattern of drinking, leading to clinically significant impairment or distress, as manifested by three or more of the following occurring at any time in the same 12-month period:  Need for markedly increased amounts of alcohol to achieve intoxication or desired effect; or markedly diminished effect with continued use of the same amount of alcohol  The characteristic withdrawal syndrome for alcohol; or drinking (or using a closely related substance) to relieve or avoid withdrawal symptoms  Drinking in larger amounts or over a longer period than intended  Persistent desire or one or more unsuccessful efforts to cut down or control drinking  Important social, occupational, or recreational aktivities given up or re- duced because of drinking  A great deal of time spent in aktivities necessary to pbtain, to use, or to recover from the effects of dinking  Continued drinking despite knowledge of having a persistent or recur- rent physical or psychological problem that is likely to be caused or ex- acerbated by drinking. (B) No duration criterion separately specified, but several depend- ence criteria must occur repeatedly as specified by duration qualifiers associated with criteria (e.g., “persistent”, “continued”). (U.S. Department of Health and Human Services 2007: 93 -94). -A3- 196 Kurz- und langfristige neurobiologische Alkoholwirkungen (Soyka 2008:23, Tabelle 2.1) Tabelle 1: Kurz- und langfristige neurobiologische Alkoholwirkungen -A4- Substanz- menge Kurzfristig positiv Kurzfristig negativ Langfristig positiv Langfristig negativ kleine Mengen, z. B. bis 20 g (Frauen) und 30 g (Männer); generell ab- hängig vom Individuum • aktivierend • entspannend • leichte Beein- trächtigung der Wahrnehmung • Nachlassen der Steuerungs- fähigkeit • Enthemmung negativer Gefühle evtl. protektive Wirkung Toleranz- bruch große Mengen, mehr als 20-30 g stark dämpfend, anderer Bewusstseins- zustand • Wahrnehmungs- störungen • Verlust der Steuerungs- und Kontrollfähigkeit • motorische Auffälligkeiten (Gang, Sprache) Toleranz- entwicklung Entzugs- erschei- nungen, Sensitivierung 197 Teufelskreise als Planetengetriebe „Die Abbildung der Teufelskreise als miteinander verzahntes Planetengetriebe soll veranschaulichen, dass der Drogenkonsum stets alle vier Teufelskreise anschiebt, individuell zwar in unterschiedlichen Übersetzungsverhältnissen, aber insgesamt unaufhaltsam.“ (Schneider 2009:173). Grafik 4: Teufelskreise als Planetengetriebe -A5- 198 Mehrstufige Behandlungskette für Alkoholkranke (nach Athen) (Soyka 2008:330, Abb. 8.2). Grafik 5: Mehrsufige Behandlungskette für Alkoholkranke (nach Athen) -A6- 199 Co-Abhängigkeit Kriterien - Kernsymptome – Merkmale – Faktoren Timmen L. Cermak (a) Anne Wilson Schaef (b) 1. Selbstwertgefühl geknüpft an Bemühungen, andere Personen zu beeinflussen und zu kontrollie- ren 2. Fühlen sich verantwortlich für die Bedürfnisse anderer Ihre eigenen Bedürfnisse neh- men sie dabei nicht zur Kenntnis 3. Leiden in Situationen von Intimi- tät sowie von Trennung unter Ängstlichkeit und Abgrenzungs- problemen 4. Neigung zu verstrickten Beziehungen zu Süchtigen und antriebs- oder persönlichkeitsgestörten Perso- nen 5. Kombination von drei oder meh- reren der folgenden Merkmale: - Exzessives Vertrauen auf die Verleugnung der Realität - Einschränkung der Emotion - Depression - Erhöhte Wachsamkeit (Hy- pervigilanz) - Zwanghaftes Verhalten - Angst - Missbrauch von chemischen Substanzen - Co-Abhängige sind (oder wa- ren) häufig Opfer von wieder- holtem körperlichen und/oder sexuellem Missbrauch - Stressbedingte Krankheiten - Co-Abhängige leben zumin- dest in einer primären Bezie- hung mit einem aktiv Drogen- abhängigen ohne fremde Hilfe zu suchen (zitiert nach Rennert 2012:170-187) 1. Außenorientierung Sich nicht abgrenzen können Beziehungssucht Täuschungsmanöver Mangelndes Selbstwertgefühl Kein Vertrauen in die eigene Wahr- nehmung 2. Übertriebene Fürsorge Sich unentbehrlich machen Helfersyndrom 3. Körperliche Erkrankung Stressbedingte funktionale oder psychosomatische Krankheiten Überaktivität, Arbeitssucht Medikamentenabhängigkeit 4. Selbstbezogenheit Übernahme von Verantwortung für alle Fehlen von Grenzen Alles wird persönlich genommen. 5. Versuch, alles zu kontrollie- ren 6. Gefühle Verlust des Kontaktes zu den eigenen Gefühlen 7. Unehrlichkeit Es ist unehrlich, nicht in Kontakt mit seinen Gefühlen zu sein. Es ist unehrlich, der eigenen Wahrnehmung nicht zu trauen. Es ist unehrlich, nur die Erwartungen anderer erfüllen zu wollen. Es ist unehrlich, Täuschungsmanöver zu inszenieren. 8. Egozentrik An etwas Entscheidendem im Leben des anderen nicht teilzuhaben, bedeu- tet für sie verlassen zu werden. 9. Leichtgläubigkeit „Alles wird wieder ins Lot kommen!“ Nur sehen und hören, was ins Konzept passt. 10.Verlust der eigenen inneren Moral Selbstbetrug – Selbstzerstörung Vernachlässigung von Körper und Seele Handeln gegen innerstes Wissen Verhalten gegenüber anderen nicht hilfreich 11.Angst, Starrheit, Rechthaberei (2010:55-77). -A7- 200 Co-Abhängigkeit Kriterien – Kernsymptome – Merkmale – Faktoren -A8- Matthias Hermann Köhler (a) 1. Depressivität und Ängstlichkeit 2. Egozentrik des alkoholkranken Partners 3. Helfersyndrom 4. Teamfähige Leistungsbereitschaft 5. Depressive Angeglichenheit des alkoholkranken Partners 6. Dialogbereiter Intellekt 7. Soziale Orientierung (2002:59) Pia Mellody (b) 1. Schwierigkeiten mit angemessener Selbstachtung 2. Schwierigkeiten, intakte Grenzen zu setzen 3. Schwierigkeiten, über die eigene Realität zu verfügen 4. Schwierigkeiten, die eigenen Bedürfnisse und Wünsche zu erkennen und zu erfüllen 5. Schwierigkeiten, die Realität angemessen zu erfahren und auszudrücken (2010:27-63). Monika Rennert (c) 1. Zunehmende Einschränkung in der Wahrnehmung von Verhaltensalter- nativen bis hin zum Gefühl existentieller Bedrohung durch jegliche Ver- änderung 2. Verlust von Selbstwert 3. Unterdrückung von Gefühlen 4. Verstärkung von Abwehrmechanismen 5. Kampf um Kontrolle 6. Verlust der Realität 7. Beeinträchtigung aller Potentiale der Persönlichkeit (2012:231). 201 Co-Abhängigkeit Kriterien – Kernsymptome – Merkmale – Faktoren Jens Flassbeck -A9- Co-abhängige Verstrickung Co-Abhängigkeitssyndrom 1. das Leiden und die Not des irra- tionalen, komplexen und ganz und gar nicht alltäglichen Stres- ses, mit einem Süchtigen zu- sammenzuleben und ihm helfen zu wollen 2. ausgeprägte prosoziale Einstel- lungen und liebenswürdige Per- sönlichkeitsmerkmale, wie z.B. Idealismus, Freundlichkeit, Gutmütigkeit, Nachgiebigkeit, Rücksichtnahme oder Langmut, die vom Süchtigen ausgenutzt werden 3. Gefühle von Scham, Schmerz, Wut und Ohnmacht sowie die damit verbundene Sprachlosig- keit 4. ein Übermaß an familiärem Zu- sammenhalt 5. das Wegschauen anderer Per- sonen 6. die einseitige Solidarität mit dem Süchtigen und die Beschuldi- gung der Angehörigen, die Sucht zu verantworten und zu fördern (2010:46). Abhängigkeitsspezifische Symptome 1. Eingenommensein durch den süchtigen Part- ner, übermäßiges Verlangen, zu helfen 2. Bemühen um Kontrolle der Sucht des Part- ners 3. Zunahme der Hilfebemühungen und Kontrolle 4. Vernachlässigung anderer Vergnügen und Interessen und sozialer Bezüge bis hin zur vollständigen Selbstaufgabe 5. zum Partner halten trotz schädlicher Folgen 6. Bagatellisierung, Verleugnung der Sucht 7. ständiges Nähesuchen zum Partner, Ge- trenntsein löst Unruhe und Unwohlsein aus, Vermeidung von Getrenntsein (2010:52). Schamkomplex und andere sozioemotionale Störungen 1. Scham-, Schuldkomplex, Sprachlosigkeit 2. Schein der heilen Welt, glücklichen Familie 3. wechselhafte Stimmung zwischen Hoffnung und Larmoyanz 4. Inkonsequentes Verhalten 5. starke Hemmung von Ärger und Aggressivität 6. übermäßige Freundlichkeit und Höflichkeit sowie ständiges Bemühen, es anderen recht zu machen 7. hohe Leistungsansprüche, Perfektionismus, hohes Selbstideal 8. Selbstzweifel, Selbstwertproblematik, Versa- gensgefühle 9. übermäßige Verantwortungsübernahme (2010:56). Zusätzliche wichtige Auffälligkeiten 1. depressive Beschwerden (Erschöpfung, Freudlosigkeit, Lustlosigkeit) 2. psychosomatische Beschwerden (Erschöp- fung, Schlafstörung, Appetitlosigkeit, Un- wohlsein, häufige kleine Erkrankungen...) 3. Ängste, Unsicherheit, Nervosität 4. posttraumatische Beschwerden (Misstrauen, Gleichgültigkeit, Unruhe, Schreckhaftigkeit...) 5. problematischer Suchtmittelkonsum (:58). 202 Vulnerabilitätsfaktoren – Risikofaktoren Vulnerabilitätsfaktoren  Prä-, peri- und postnatale Faktoren (z.B. Frühgeburt, Geburtskom- plikationen, niedriges Geburtsgewicht, Ernährungsdefizite, Erkran- kung des Säuglings)  Neuropsychologische Defizite  Psychophysiologische Faktoren (z.B. sehr niedriges Aktivitätsniveau)  Genetische Faktoren (z.B. Chronosomenanomalien)  Chronische Erkrankungen(z.B. Asthma, Neurodermitis, Krebs, schwe- re Herzfehler, hirnorganische Schädigungen  Schwierige Temperamentsmekmale, frühes impulsives Verhalten, hohe Ablenkbarkeit  Unsichere bindungsorganisation  Geringe kognitive Fertigkeiten: niedriger Intelligenzquotient, Defizite in der Wahrnehmung und sozial-kognitiven Informationsverarbeitung  Geringe Fähigkeiten zur Selbstregulation von Anspannung und Ent- Spannung Exemplarische Auswahl von Vulnerabilitäten (vgl z.B. Hoffmann & Steffens, 1997; Laucht, Schmidt & Esser 2000; Scheithauer & Petermann, 1999, 2000a) Risikofaktoren  Niedriger sozioökonomischer Status, chronische Armut  Aversives Wohnumfeld (Wohngegenden mit hoem Kriminalitäts- anteil)  Chronische familiäre Disharmonie  Elterliche Trennung und Scheidung  Wiederheirat eines Elternteils, häufig wechselnde Partnerschaften der Eltern  Alkohol-/Drogenmissbrauch der Eltern  Psychische Störungen oder Erkrankungen eines bzw. beider Elternteile  Kriminalität der Eltern  Obdachlosigkeit  Niedriges Bildungsniveau der Eltern  Abwesenheit eines Elternteils/alleinerziehender Elternteil  Erziehungsdefizite/ungünstige Eziehungspraktiken der Eltern (z.B. inkonsequentes, zurückweisendes oder inkonsistentes Erziehungsverhalten, Uneinigkeit der Eltern in Erziehungsmetho- den, körperliche Strafen, zu geringes Beaufsichtigungsverhalten, Desinteresse/Gleichgültigkeit gegenüber dem Kind, mangelnde Feinfühligkeit und Responsivität) (Wustmann Seiler 2012:38). -A10- 203 Risikofaktoren (Fortsetzung)  Sehr junge Elternschaft (vor dem 18. Lebensjahr)  Unerwünschte Schwangerschaft  Häufige Umzüge, häufiger Schulwechsel  Migrationshintergrund  Soziale Isolation der Familie/Adoption/Pflegefamilie  Verlust eines Geschwisters oder engen Freundes  Geschwister mit einer Behinderung, Lern- oder Verhaltensstörung  Mehr als vier Geschwister  Mobbing/Ablehnung durch Gleichaltrige  Außerfamliäre Unterbringung Exemplarische Auswahl von Risikofaktoren kindlicher Entwicklung (vgl. z.B. Egle, Hoffmann&Staffens, 1997; Laucht, Schmidt & Esser 2000; Scheithauer & Petermann,1999, 2000a). (Wustmann Seiler 2012:39) Traumatische Erlebnisse  Katastrophen (wie Erdbeben, Vulkanausbruch, Flugzeugabsturz,  Natur-, technische oder durch Menschen verursachte Hochwasser, Schiffsunglück. Brände oder Atomreaktorunfall)  Kriegs- und Terrorerlebnisse, politische Gewalt, Verfolgung, Vertreibung und Flucht  Schwere (Verkehrs-)Unfälle  Gewalttaten (= direkte Gewalterfahrung, wie z.B. körperliche Misshandlung, sexueller Missbrauch, Vernachlässigung, Kindesentführung, Geiselnahme, Raubüberfall oder seelische Gewalt)  Beobachtete Gewalterlebnisse (= indirekte Gewalterfahrung, z.B. Beobachtung von Verletzung, Tötung, Folterung von nahen Bezugspersonen, Gewalt in den Medien)  Diagnose einer lebensbedrohenden Krankheit und belastende medizinische Maßnahmen  Tod oder schwere Erkrankung eines bzw. beider Elternteile. Traumatische Erlebnisse (vgl. DSM-IV, 1996; Fischer & Riedesser, 1999; Petermann, 2000) (Wustmann Seiler 2012:40). -A11- 204 Das Risiko- und das Schutzfaktorenkonzept als zentrale Konzepte der Resilienzforschung Grafik 9: Das Risiko- und das Schutzfaktorenkonzept I(Wustmann Seiler 2012:55). -A12- 205 Das Risiko- und das Schutzfaktorenkonzept als zentrale Konzepte der Resilienzforschung Grafik 10: Das Risiko- und das Schutzfaktorenkonzept II(Wustmann Seiler 2012:65). -A13- 206 Personale Ressourcen Personale Ressourcen Kindbezogene Faktoren Positive Temperamentseigenschaften, die soziale Unterstützung und Aufmerksamkeit bei den Betreuungspersonen hervorrufen (flexibel, aktiv, offen) Intellektuelle Fähigkeiten Erstgeborenes Kind Weibliches Geschlecht (in der Kindheit) Resilienzfaktoren • Selbstwirksamkeitsüberzeugungen • Positives Selbstkonzept/Selbstvertrauen/hohes Selbstwertgefühl • Fähigkeit zur Selbstregulation • Internale Kontollüberzeugung • Realistischer Attribuierungsstil • Hohe Sozailkompetenz: Empathie/Kooperation- und Kontakt- fähigkeit (verbunden mit guten Sprachfertigkeiten)/soziale • Perspektivenübernahme/Verantwortungsübernahme/Humor • Aktives und flexibles Bewältigungsverhalten (z.B. die Fähigkeit, so- ziale Unterstützung zu mobilisieren, Entspannungsfähigkeiten) • Sicheres Bindungsverhalten (Explorationslust) • Lernbegeisterung/schulisches Engagement • Optimistische, zuversichtliche Lebenseinstellung • Religiöser Glaube/Spiritualität (Kohärenzgefühl) • Talente, Interessen und Hobbys • Zielorientierung/Planungskompetenz • Kreativität • Körperliche Gesundheitsressourcen (Wustmann Seiler 2012:115). -A14- 207 Soziale Ressourcen Soziale Ressourcen Innerhalb der Familie  Mindestens eine stabile Bezugsperson, die Vertrauen und Autonomie fördert  Autorativer/demokratischer Erziehungsstil (emotional) positives, unter- stützendes und strukturierendes Erziehungsverhalten, Feinfüh- ligkeit und Responsivität  Zusammenhalt (Kohäsion), Stabilität und konstruktive Kommuni- kation in der Familie  Enge Geschwisterbindungen  Altersangemessene Verpflichtungen des Kindes im Haushalt  Hohes Bildungsniveau der Eltern  Unterstützung familiäres Netzwerk (Verwandtschaft, Freunde, Nachbarn)  Hoher sozioökonomischer Status In den Bildungsinstitutionen  Klare, transparente und konsistente Regeln und Strukturen  Wertschätzendes Klima (Wärme, Respekt und Akzeptanz gegenüber dem Kind  Hoher, aber angemessener Leistungsstandard  Positive Verstärkung der Leistungen und Anstrengungsbereitschaft des Kindes  Positive Peerkontakte/positive Freundschaftsbeziehungen  Förderung von Basiskompetenzen (Resilienzfaktoren)  Zusammenarbeit mit dem Elternhaus und anderen sozialen Institutio- nen Im weiteren sozialen Umfeld  Kompetente und fürsorgliche Erwachsene außerhalb der Familie, die Vertrauen fördern, Sicherheit vermitteln und als positive Rollenmodel- le dienen(z.B. Nachbarn, Freunde, Erzieherinnen, Lehrer)  Ressourcen auf kommunaler Ebene (Angebote der Familienbildung, Be- ratungsstellen, Frühförderstellen, Gemeindearbeit etc.)  Gute Arbeits- und Beschäftigungsmöglichkeiten  Vorhandensein prosozialer Rollenmodelle, Normen und Werte in der Gesellschaft (Wustmann Seiler 2012:116) -A15- 208 Religiosität und Gesundheit Argumente für einen positiven Zusammenhang zwischen Religio- sität und psychischer Gesundheit Religion 1. „verringert Angst, indem sie eine erklärende für eine sonst chaotische Welt anbietet 2. bietet das Gefühl von Hoffnung, Sinn und Zweck und daraus resultierend ein Gefühl emotionalen Wohlbefindens 3. vermittelt Vertrauen in die Sinnhaftigkeit von allem, wodurch Schmerz und Leid besser erträglich sind 4. bietet für eine Vielzahl situativer und emotionaler Konflikte eine Lösung an 5. löst zumindest teilweise das beunruhigende Gefühl der Sterblichkeit durch Glauben an ein Weiterleben 6. gibt den Menschen ein Gefühl von Kraft und Kontrolle durch die Verbindung mit einer omnipotenten Macht 7. vermittelt moralische Richtlinien für den Umgang mit sich selbst und ande- ren, unterdrückt einen selbstzerstörerischen Lebensstil 8. fördert soziale Bindungen 9. vermittelt soziale Identität und befriedigt Bedürfnisse nach Zugehörigkeit durch Gemeinsamkeit im Glauben 10. bietet die Grundlage für gemeinsam ausgeführte, befreiende Rituale.“ (Die Durchnummerierung wurde von der Verfasserin vorgenommen.) (Sebastian Murken 2002 – Referat und Diskussion der Forschungsgruppe Weltanschau- ungen in Deutschland, fowid:2). -A16- 209 „The Road to Resilience" 1. Betrachten Sie Krisen als überwindbare Probleme. 2. Akzeptieren Sie, dass Veränderung Teil des Lebens ist. 3. Streben sie danach, Ihre Ziele zu erreichen. 4. Entschließen Sie sich zum Handeln. 5. Suchen sie nach Möglichkeiten, um „sich selbst zu finden“. 6. Fördern Sie ein positives Selbstbild. 7. Betrachten sie Situationen nüchtern. 8. Behalten Sie eine optimistische Erwartungshaltung bei. 9. Bemühen Sie sich um soziale Beziehungen. 10. Sorgen Sie für sich selbst.“ (Bengel & Lyssenko 2012:20 – nach American Pychological Association). -A17- 210 Waltraud Hörauf, Am Höhberg 23, 34260 Kaufungen, Tel. 05605/1721 E-Mail: waltraud.hoerauf@web.de; Student number 4802-219-5 Supervisor: Dr. André de la Porte, Managing Director, Hospivision, South Africa, Pretoria Co-Supervisor: Dr. Manfred Baumert, Theologisches Seminar Adelshofen Einverständniserklärung der Interviewpartnerin Forschungsprojekt: „Co-Abhängigkeit und Resilienz von Frauen mit alkoholabhängigen Angehörigen“ Biografisches Arbeiten in der Seelsorge Ich bin damit einverstanden, dass das von Frau Waltraud Hörauf am ………………. mit mir geführte Interview auf Tonträger aufgezeichnet wird. Frau Hörauf hat mich ausführlich über das empirische Vorgehen informiert: Nach der Verschriftlichung des Interviews gelangt die Transkription nicht an die Öffentlich- keit. Die Verwendung der anonymisierten Verschriftlichung wird einzig für das For- schungsprojekt verwendet. Die Aufbewahrung der Einwilligungserklärung wird nach dem Trennungsgebot des Datenschutzkonzeptes nicht gemeinsam mit dem transkribierten Interview aufbewahrt. Beim Erzählen meiner Lebensgeschichte ist es mir freigestellt, was ich berich- ten oder auslassen möchte. Auf Antworten kann ich bei Nachfragen auch verzichten. Ich bin damit einverstanden, dass einzelne Passagen des Interviews, die nicht mit meiner Person in Verbindung gebracht werden können, als Material für wis- senschaftliche Zwecke und zur Veröffentlichung der Masterarbeit genutzt werden können. Unter diesen Bedingungen erkläre ich mich bereit, das narrative Interview zu geben und bin damit einverstanden, dass es auf einen Tonträger aufgenommen, abgetippt, anonymisiert und ausgewertet wird. Nach der Analyse wird mir das ausgewertete Ergebnis vorgelegt. Erst nach meiner Kenntnisnahme und meinem Einverständnis dürfen die ausgewerteten Da- ten in der Masterarbeit von Frau Waltraud Hörauf verwendet werden. (Auf Wunsch der Befragten können einzelne Abschnitte des Gesprächs gelöscht werden.) Diese Erklärung wird von mir v o r der Durchführung des narrativen Interviews gegeben. Ohne Angaben von Gründen kann ich mein Einverständnis zurücknehmen. Unterschrift: Datum: -A18- 211 Waltraud Hörauf, Am Höhberg 23, 34260 Kaufungen, Tel. 05605/1721 E-Mail: waltraud.hoerauf@web.de; Student number 4802-219-5 Supervisor: Dr. André de la Porte, Managing Director, Hospivision, South Africa, Pretoria Co-Supervisor: Dr. Manfred Baumert, Theologisches Seminar Adelshofen Einverständniserklärung des Interviewers Hiermit versichere ich, dass die Aufnahmen und die Verschriftung des Interviews, welches am ……………………….. mit ………………………………….. geführt wur- de, ausschließlich in anonymisierter Form und ausschließlich zu wissenschaftli- chen Zwecken Dritten zugänglich gemacht wird. Des Weiteren verpflichte ich mich, jeder dritten Person gegenüber absolutes Stillschweigen über die Inhalte des Interviews zu wahren. Ich bestätige hiermit, dass ich im vorliegenden For- schungsprojekt die ethischen Richtlinien der University of South Africa, den Ethik- Codex der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) sowie die Ethischen Richtlinien der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs) in ihrer aktuellen Fassung309 einhalte. Eine unterschriebene Kopie der Einverständniserklärung er- hält die Befragte. Unterschrift: Datum: 309 Deutsche Gesellschaft für Psychologie 2004. Ethische Richtlinien. Deutsche Gesellschaft für Soziologie 1992. Ethik-Codex. UNISA 2007. Policy on Research Ethics (PORE). Approved Council I-III and 1-26. -A19- 212 Einverständniserklärung der Interviewpartnerin nach der Auswertung Forschungsprojekt: „Co-Abhängigkeit und Resilienz von Frauen mit alkoholabhängi- gen Angehörigen“ Ein Beitrag zur Biografieforschung für die Seelsorge Ich bin damit einverstanden, dass die Aussagen aus meinem Interview, die in den Kapiteln: „Beobachtungen in Korrelation zu Themenschwerpunkten aus den Fachbereichen“ und „Diskussion der Ergebnisse“ zitiert und interpretiert wurden, in der Masterarbeit von Frau Waltraud Hörauf verwendet werden. Meine Änderungswünsche wurden berücksichtigt. Unterschrift: Datum: -A20- 213 Legende der Transkriptionszeichen , kurzes Absetzen . deutliches Absetzen (3) (…) Dauer der Pause in Sekunden Nein:n Dehnung des Vokals War::um starke Dehnung des Vokals ((lachend)) Kommentar der Transkribierenden ((weinend)) es war so schrecklich, kommentiertes Phä- nomen nein betont NEIN laut Manch- Abbruch ( ) Inhalt der Äußerung ist unverständlich; Länge der Klammer entspricht etwa der Dauer der Äußerung (sagte er) unsichere Transkription dann=sind=wir schneller Anschluss /hm/ Rezeptionssignal des Interviewers Ja das war #dasEnde# #wie war denn# gleichzeitiges Sprechen ab „das“ I: Interviewer B: Biograph Quelle: Forschungswerkstatt: „Praxis der Fallanalyse“, Wolfram Fischer, Universität Kassel, Wintersemester 2011/2012, Seminarunterlagen. -A21- 214 Narratives Interview mit „Elsa" am 17.07.2013, Haupterzählung 1 I: Bitte erzählen Sie mir Ihre Lebensgeschichte, alles, was Ihnen einfällt, Er-2 lebnisse und das, was Sie berichten möchten und wir können auch jeder 3 Zeit Pause machen. 4 B: Ja, ich bin als zweitmittleres Kind großgeworden. Also, ich habe einen älte-5 ren Bruder, der ist ein Jahr älter als ich. Einen jüngeren, der ist zwei Jahre 6 jünger als ich. Ich war fünf Jahre alt, da ist mein Vater verstorben und mei-7 ne Mutter hat sich dann sozusagen durchgekämpft durchs Leben mit drei 8 Kindern, wenig Geld, wie das halt früher auch so war, also immer an der 9 Armutsgrenze auch. Ja, und mein Leben lief so von meinem Gefühl her, 10 was ich aber erst später festgestellt hab, so wie das fünfte Rad am Wagen 11 in meiner Familie ((schluckt)). Die Jungs waren was wert, ich nicht. Ich ha-12 be ((ähm)) immer gekämpft ((Stimme leicht weinerlich)) um Anerkennung 13 bei meiner Mutter. Aber sie war weiter stärker. Alles, was sie machte, war 14 richtig. Was ich machte, war verkehrt. Ich hab es ihr nie recht machen kön-15 nen in der Hinsicht. Ja, und so bin ich in meinem Leben durchgeschlittert. 16 Ich hab zwar auch einen Beruf erlernt. Ich wollte eigentlich Kinderkranken-17 schwester werden damals ((schluckt)), hatte aber keine mittlere Reife und 18 musste dadurch in einem Krankenhaus so ne Hauswirtschaftsschule absol-19 vieren. War so ein halbes Jahr vor Prüfung. Da ist mein ältester Bruder töd-20 lich verunglückt, umgebracht worden sozusagen, und dann bin ich dann bei 21 meiner Mutter, weil sie kein Geld hatte, er stand kurz vor der Gesellenprü-22 fung, wo Geld dann ein bisschen ins Haus kam, wo meine Mutter mit ge-23 rechnet hatte ((ähm)), ja, da war kein Geld mehr da und da habe ich diese 24 Ausbildung abgebrochen und bin in eine Fleischereiausbildung rein, Flei-25 schereifachverkäuferin. Hab ich nach dreieinhalb Jahren absolviert. Ja, zu 26 dem Zeitpunkt kannte ich meinen Mann schon. Wir waren damals Nach-27 barskinder. Ich war immer schon hinter meinem Mann her. Da war ich fünf, 28 sechs Jahre alt. Das war so eine Art Sandkastenliebe. Wenn ich ihn gese-29 hen hab, dann fing ich an zu stottern und, ja, war hin und weg von ihm ge-30 rissen. Und meine damalige Schwiegermutter, also meine jetzige Schwie-31 germutter, oder gewesene, ja, die hat immer gesagt, du wirst noch mal 32 meine Schwiegertochter. Und so bin ich irgendwo, ja, auf diesem Level ge-33 wesen. Ach, na ja, toll. Aber mein Mann wollte nix damals von mir wissen. 34 Ich war ihm einfach zu jung. Dann hat er eine Frau kennengelernt, aber au 35 über seine Verwandtschaft weg. Das ist ne ehemalige Cousine, also von 36 seiner Mutter die Cousine, davon die Tochter. Ja, die hat er geheiratet. Die 37 war gerade ein Jahr älter als ich. Ich war auf seiner Hochzeit au. Wir waren 38 eingeladen als Nachbarn. Es war ein Hin und n Her. Aber ich, aber er, wie 39 gesagt, er hat Tacheles mit mir geredet, dass er von mir nichts wollte, dass 40 er, tja, andere ((schluckt)) Interessen hätte und ich hab mich auch damit zu-41 frieden gegeben, hatte zu dem Zeitpunkt auch einen Freund. Ja, den hatte 42 ich anderthalb Jahre und auf einmal stand mein jetziger Mann wieder vor 43 uns und ich hab im Kopf immer noch drin gehabt, na ja, der will ja sowieso 44 nichts von dir, der besucht uns nur wegen Nachbarschaftsfreundlichkeit 45 wegen meiner Mutter und bin immer samstagabends weggegangen. Er kam 46 und ich bin gegangen und beim dritten Mal hat er mich gefragt, ob ich über-47 haupt wüsste, warum er hier ist. Das sei er doch wegen meiner Mutter, weil 48 -A22- I/1 49 215 ich ja wusste im Kopf, von mir will er ja nix. Und da meinte er, nee, er wäre 1 wegen mir hier. Ja, und innerhalb von acht Tagen habe ich den anderen 2 Freund abgeschossen, wie man so schön sagt, bin dann mit ihm zusam-3 men. Da war ich 19. Ja, 19 Jahre war ich da. ((holt tief Luft)) Ja, er ist ge-4 schieden von der Frau, hat ein Kind. Hat ganz unten wieder anfangen müs-5 sen, weil das Geld, was er damals bei der Ehe hatte und es ist mit Schul-6 den aufgebaut worden; er hat sehr viel Schulden mit in unsere Ehe mit 7 reingebracht auch und am Anfang. Ja, unsere Ehe war glücklich, wie man 8 so schön sagt, nä, jetzt endlich, nä. Dass er Bier getrunken hat zu dem da-9 maligen Zeitpunkt hab ich gemerkt. Aber für mich gehörte damals das Bier-10 trinken zur Männlichkeit dazu. Weil ich kenn’s nicht, dieses Alkoholmäßige 11 aus unserer Familie heraus, sondern Biertrinken war so was ganz Nettes, 12 Höfliches, ne? Gehört einfach zur Männlichkeit dazu. Ähm, für mich war 13 damals ein Alkoholkranker jemand, der unter der Brücke lag, der keine Ar-14 beit mehr hat, der keine Familie mehr hat und ewig alkoholisiert ist. Das war 15 für mich damals ein Alkoholiker. Und das war ja mein Mann net, der hat ja 16 gearbeitet, der hatte Familie, der hatte einen festen Wohnsitz bei uns sozu-17 sagen. Aber nach drei Jahren Ehe, die erste Tochter war schon da, die, ach 18 nee, nach vier Jahren, vier Jahren Ehe, hab ich gemerkt, das ist nicht das, 19 was ich mir gerne unter einer Ehe vorstelle, weil mein Mann kam perma-20 nent betrunken nach Hause. Er hat sich verwahrlost sozusagen auch, ne. 21 So dreckig und speckig wollte er mit mir schlafen. Ich habe mich dann auch 22 teilweise gewehrt dagegen ((holt tief Luft)), hab mich zu dem damaligen 23 Zeitpunkt, weil ich mit meiner Mutter keinen guten Kontakt hatte, muss ich 24 dazu sagen, ähm, mich an meine Schwiegermutter gewandt und hab mir 25 mein Leid von der Seele geredet und da hat die wortwörtlich zu mir gesagt, 26 was ich wollte. Ich sollte dankbar sein, das ist so ein arbeitsamer Junge 27 ((holt tief Luft)) und das bisschen Bier, was er trinkt, das sollte ich ihm 28 doch bitte gönnen. Na ja, gut. Dann hab ich gedacht, upps, ne, vielleicht 29 siehste es ja auch verkehrt. ((holt tief Luft)) Ja, und so bin ich durch mein 30 Leben durch. Es gab auch schöne Phasen, kein Thema da drinne. Am An-31 fang war’s ja auch net so extrem immer. Aber er war, stand ständig unter 32 Alkoholgenuss, also immer Bier, keine harten Sachen, kein Wein, kein 33 Schnaps und so was, ne, halt nur das Bier. Ich hab am Anfang viel kontrol-34 liert, hab ihm beweisen wollen, dass ich merke, dass er trinkt, dass er mehr 35 trinkt. Ich hab Zeichen gemacht an Bierkisten und an Stöpseln. Also, ich 36 hab mich selber verrückt gemacht. Ich war richtig in dieser Schiene drin, 37 ihm was zu beweisen, dass ich Recht hatte, damit er aufhört. Hat natürlich 38 nichts genützt in der Hinsicht. Er hat alles rausbekommen, weil ich mich ja 39 verraten hab, auch, dass ich das und das gemacht hätte, und er sollte mich 40 nicht anlügen. Naja, mit der Zeit kriegen die ja auch einen richtigen Dreh 41 raus, wie sie alles verheimlichen können. Hat er sehr gut gekonnt, muss ich 42 dazusagen. Obwohl ich andere Merkmale dann mittlerweile hatte. ((holt tief 43 Luft)) Wir hatten damals ein Haus angemietet. Wir hatten vorher in ner 44 Mietwohnung gewohnt mit mehreren Partien drinne, wo mächtig auch der 45 Alkohol floss bei uns. Es gab viele Feiern, auch schöne Feiern da drunter, 46 und, ähm, wir wollten damals aus dem Haus raus, damit mer mehr Ruhe 47 kriegten und wir gehofft haben, dadurch, dass mein Mann dann weniger - 48 A22- I/2 49 216 Bier trinkt und das Haus dann zur Debatte stand wegen, hat er uns geschwo-1 ren, wenn das klappt, hört er auf zu trinken. Na gut, wir haben alles Mögli-2 che getan. Wir haben das Haus angemietet. Wir waren glücklich, bis dann 3 wieder mehr der Alkohol im Spiel war. Dass das alles nicht so hingehauen 4 hat, wie er sich das vorgestellt hat, die Kinder und ich total enttäuscht. Da 5 war unsere älteste Tochter ungefähr 12 Jahre alt. Wie sie dann, die haben ja 6 dann immer die Höhen und Tiefen zwischen uns mitbekommen, weil ich auch 7 nicht diese Ruhige war, die dann alles blindlings zugesehen hat, sondern ich 8 hab mich auch schon gewissermaßen gewehrt und immer wieder den Alko-9 hol vorgehalten bei ihm. Dann haben unsere Kinder gesagt: „Mutti, lass, 10 trennt euch, lass uns da wegziehen vom Papa. Der hält sowieso sein Ver-11 sprechen net.“ Aber ich hab festgehalten. Ich hab festgehalten, weil ich ge-12 dacht hab, Mensch, er ist ja kein schlechter Mensch. Da war zu dem Zeit-13 punkt immer noch dieses, ja, so n bisschen Liebe da. Die Hoffnung war ganz 14 groß bei mir. Die Hoffnung, dass er’s doch irgendwann packt. Weil, das ist 15 ja nicht schlimm, mit dem Alkohol aufzuhören. Ne? Ich konnte es ja auch. 16 Warum kann er das net? Net? Das is so die Sache, ähm, ja, wo ich immer 17 wieder gesagt habe, nee, er schlägt uns nicht, er geht arbeiten. Ich hab im-18 mer die positiven Sachen rausgeholt, immer. Das eine Negative, was ich bis-19 her immer nur gesehen hab, war der Alkohol, den er getrunken hat, ne. Aber 20 der ganze Rattenschwanz, den ich erst nach Jahren mitbekommen habe 21 sozusagen, den habe ich zu dem Zeitpunkt gar nicht gesehen, muss ich ehr-22 lich sagen. Ich hab auch nicht gesehen, dass ich was für mich machen 23 muss, kann, auch net, sondern ich war der Meinung, ich bin die Starke, ich 24 schaffe das, ich manage das alles, ich manage die Erziehung der Kinder, ich 25 manage, wenn wir irgendwo in den Urlaub fahren. Ich hab alle Freiheiten mit 26 der Zeit bekommen, weil er nicht in der Lage war, es zu organisieren, ob‘s 27 Bankgeschäft ist, ob’s finanzielle Sachen sind. Wir waren sehr stark im Ruin 28 dadurch drinne, durch seine Alkoholsucht. Er hat zweimal Führerschein in 29 der Zeit weggehabt. Er hat mächtig geraucht zu dem Zeitpunkt. Alles, ne. Al-30 so, ich sag einmal, 600, 700 Euro waren im Monat nur für meinen Mann von 31 der Trinkerei und von Zigaretten alles. Ich hab immer mitgearbeitet, aber nie 32 auf Steuerkarte, muss ich dazusagen, weil alles, was ich mitgearbeitet habe, 33 hätte an seiner Unterhaltszahlung von seinem Sohn wär mit angerechnet 34 worden. Ich hab dadurch wenig Rente jetzt, muss ich dazusagen, sehr wenig 35 Rente, ((holt tief Luft)) ähm, weil ich gedacht habe, naja, wenn die Unter-36 haltszahlung weg ist, dann kannste nochmal richtig durchstarten mit deinem 37 Beruf, dass du dich anmeldest und so, ja. Zwei Jahre habe ich’s gekonnt. 38 Danach wurde ich sehr krank und ich bin seit 16 Jahren in offener U-Rente. 39 Konnte meine Berufswege nicht mehr so durchziehen, wie ich es mir erhofft 40 habe zu dem damaligen Zeitpunkt. Ja, unsere Kinder hatten ein Verhältnis zu 41 unserem, ja, zu unserem, auch zu meinem Mann, sehr gespanntes Verhält-42 nis, muss ich dazusagen. Die Große war mehr das Papakind. Die Kleine, die 43 war gleich gegen, ja, Aggressionen ihm gegenüber. Wenn die nach Haus ge-44 kommen sind, die haben keine Freunde mit nach Hause gebracht. Das ist mir 45 aber auch alles hinterher erst so bewusst geworden. Das ist mir zu dem da-46 maligen Zeitpunkt, hab ich gar net gemerkt. Ich hatte zwei verschiedene 47 Töchter. Das heißt, ich hab sie immer noch ((lacht)). Ähm. 48 - A22- I/3 49 217 Die Große, die war dieses stille, dieses Kind, dieses, was sich nicht be-1 merkbar macht. Die Kleine war die Aufmüpfige mehr und das hat sich ja in 2 unserem ganzen Leben so ’n bisschen durchgezogen. Dann ist mir bekannt 3 geworden, aber erst, nachdem unsere Tochter dann verheiratet war. Die ist 4 mit 16 ausgezogen zu ihrem Freund, zu ihrem jetzigen Mann auch, schon. 5 Weil die Schule in K. für sie günstiger war, vom Berufsweg. Die sind, haben 6 Apotheke gemacht, beide Mädchen und dann haben wir dann die Einwilli-7 gung gegeben, dass se dahin kann, weil ich gedacht habe, naja, vielleicht 8 find se da ihren Halt, mehr oder weniger. Hat se auch gefunden, muss ich, 9 bis heute hat sie ihren Halt gefunden. Find ich auch gut. Nur was ich zu 10 dem Zeitpunkt nicht wusste, weil ich immer gedacht hab, eine Mutter merkt 11 das, eine Mutter spürt das, wenn ein Kind, ähm, jetzt geh ich sehr ins Inter-12 ne rein, wenn ein Kind angefasst wird. (3) Und zwar hab ich das erst erfah-13 ren, da war se mit ihrem verheiratet, da hat er’s uns gesagt. Für mich brach 14 ne Welt zusammen. Es ist nicht der Vater gewesen, sondern mein eigener 15 Bruder, und (1) das war für mich ziemlich hart. 16 I: Also der Onkel von ihr. 17 B: Ihr (Patenonkel). Ich wollte ihn anzeigen. Meine Tochter hat gesagt: 18 „Mutti, mach das nicht. Ich kann damit umgehen.“ Es ist ja nichts passiert, 19 es ist nur das Anfassen gewesen. 20 I: /hm/ 21 B: Damals, weil mein Mann noch getrunken, hab ich das einfach hinstellen 22 können und sagen, okay, sie ist fast 18, sie kann selber über ihr Leben ent-23 scheiden. Ähm, hab auch nichts in die Wege geleitet. Ich hab zwar mit mei-24 nem Bruder geredet, mit meiner Mutter geredet. Beide haben gesagt, das 25 wär nicht so. Ich stand dann wieder mal alleine. Von meinem Mann hatte 26 ich zu dem Moment keine Unterstützung. Der ist zwar sehr aufbrausend zu 27 dem Zeitpunkt gewesen, wollte meinen Bruder umbringen und das alles 28 und ich zeig dich an und unsere Tochter immer das Gegenteil: „Papa, hör 29 auf. Mach das nicht.“ Ne. „Der ist selber jetzt verheiratet. Der hat zwei Kin-30 der. Überleg mal, du nimmst dem Vater“, äh, „die Kinder dem Vater weg.“ 31 So hat unsere Tochter reagiert. (3) Irgendwo hab ich‘s dann stehen lassen 32 können, weil ich mir sage, sie will das so. Ich muss auch lernen, damit klar-33 zukommen. Sie muss lernen, damit klarzukommen. Sie hatte selber zudem 34 kurze Zeit später, hatte se, na, da war se ((leiser)) 22, 23, hat se ein Kind 35 gehabt, hat sozusagen auch diese ganze Liebe dem Kind gegeben. (2) 36 ((leiser)) Zu dem Zeitpunkt war mein Mann schon trocken. Genau. Ja, da 37 war er schon trocken. Aber so am Anfang, wie mein Mann trocken wurde, 38 da war immer nur der Arbeitgeber, also, der hat den letzten Druck gemacht. 39 Ich hab’s gar net geschafft. Ich hab geredet, ich hab’s im Guten versucht, 40 im Bösen versucht. Und wie ich so krank war, das war in 96 bin ich sehr 41 krank geworden. Ich hatte eine Kopfoperation. Ne Wasserzyste mitten im 42 Gehirn stand drin, wo keiner wusste, wie’s endet. Ich hab gedacht ((boh)) 43 das ist die schönste Operation ((lacht)) gewesen. Keine Schmerzen an der 44 Operation. Kannst rumturnen wie du willst sozusagen. Die Defizite einer 45 solchen Operation habe ich erst viel später bekommen wie ich bemerkt hab, 46 - A22- I/4 47 218 dass ich nicht mehr so bin wie vorher. Ich hatte ((sch, sch)) Störungen in 1 der Sprache, in der Motorik hatte ich Störungen, rechtsseitig leichte Läh-2 mungen drin gewesen im Körper und die Rechtschreibung ist auf der Stre-3 cke geblieben, weil über das Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis, da ist, 4 mussten se leider rein. Ich hab’s drei Jahre, ja, drei Jahre habe ich ge-5 kämpft gegen diese Sache. Ich hab gedacht, das muss doch zu schaffen 6 sein. Hab mir auch permanent selber im Weg gestanden dadurch, weil ich 7 es nicht akzeptiert hab, dass es nicht mehr so ist. Dann musste ich in der 8 Zwischenzeit auch in die Reha und Berufsunfähigkeit und alles das, was da 9 so dran hängt. Da ist mir bestätigt worden, dass ich nur noch zwei Stunden 10 am Tag belastbar bin zu dem Zeitpunkt und bin dann in die Rente rein, und 11 hab dann gedacht, okay, du lebst, das andere wird schon wieder. Das ist so 12 von meiner Mutter: Kopf unter dem Arm und durch. Zu dem Zeitpunkt war 13 mein Mann sehr noch auf der letzten Phase seines Alkoholismus drinne. 14 ((holt tief Luft)) Also ne Kiste Bier am Tag war gar nichts. Er hat rund um die 15 Uhr getrunken. Er war aber nie so, dass er so schwankend gewesen ist, 16 dass er so ausfallend gewesen ist. Er hat uns nie geschlagen in der ganzen 17 Zeit. Das kann man heutzutage auch hoch anrechnen. Schon entschuldigt 18 man ihn wieder ((lacht)). Aber, ähm, er war immer arbeitsam, trotz alledem. 19 Aber irgendwo hab ich gemerkt, ich hab die Kraft net mehr für ihn mit. Das 20 ist nach drei Jahren so richtig mir bewusst geworden, weil ich durch meine 21 eigene Erkrankung sehr viele Federn lassen musste. Also, ich war wirklich 22 ganz unten auch. Und da hab ich immer gedacht, ne, du hast immer ge-23 sagt, wenn irgendetwas ist, dann gehste. Ich hab’s nie geschafft. Ich hab’s 24 finanziell in den ganzen Jahren immer überlegt, kannst du dich von dem 25 Mann trennen? Was wird mit den Kindern? Was wird mit mir? Ich meine, fi-26 nanziell standen wir ja absolut net auf Rosen. In der Hinsicht, im Gegenteil. 27 Die unterste Schiene waren mir. Was wird aus den Kindern? Das war mir, 28 ja, das war mir am Wichtigsten. Net, dass die Kinder diese heile Welt noch 29 irgendwo hatten, dass die Kinder trotz des trinkenden Vaters stolz sein 30 konnten auf ihr Elternhaus. Ne. Also, ich hab mir da vieles vorgemacht, 31 muss ich ehrlich sagen. Aber das Größte war wirklich für mich das Finanzi-32 elle auf der einen Seite. Und auf der anderen Seite: was macht er, wenn ich 33 ihn verlasse? Weil die Androhungen waren schon oft da, weil ich immer 34 wieder gesagt hab, ich lass mich scheiden von dir, wenn du net aufhörst. 35 Das hat paar Tage gedauert ((holt tief Luft)), dann wieder nicht. Dann war 36 wieder ne Phase, wo er wie ein, ja, vor mir gesessen hat, wie ein heulendes 37 Elend: „Ich will aufhören. Ich will aufhören.“ Ne. „Ich schaffe das.“ Ne. Zu 38 der Zeit habe ich immer nur gesagt: „Geh zur Ärztin.“ Ne. „Hol dir Hilfe.“ 39 Aber er hat’s nie geschafft, weil der Alkohol war stärker. Eindeutig. Und das 40 schlimmste ist noch obendrauf, wenn man mitbekommt, dass der Alkohol 41 wichtiger ist als die eigene Frau, die eigenen Kinder. Dass das einen wahn-42 sinnig hohen Stellenwert für denjenigen hat. Der Stellenwert, der Alkohol ist 43 oben an der Decke und die Familie kommt unten auf dem Boden erst und 44 da ist ein ganz großer Zwischenraum jedes Mal. Auch das habe ich alles 45 hingenommen, weil ich gedacht habe, naja, er braucht halt nur den Alkohol, 46 das war immer mein Gedanke, er braucht ja nur den Alkohol wegzulassen. 47 Es hat nichts genützt. Es hat auch nichts genützt, wie unsere große Tochter 48 an ihn ran getreten ist: „Papa, hör auf. Geh, da gibt’s Hilfen. Such dir was.“ 49 - A22- I/5 50 219 Ne. Nichts zu machen. Er schafft das schon. Und meine Schwiegermutter 1 war immer: „Was willst du denn, er ist doch arbeitssam.“ Das war immer 2 auch so der Leitfaden in unserem Leben. Er ist arbeitsam und was willst du 3 denn? Ne. Er hat sich bei ihr Geld geborgt immer wieder, wenn es bei uns 4 wirklich knapp war. Dann ist sie zu mir gekommen: „Hör mal, ich krieg von 5 euch das und das Geld.“ Ich sag: „Wie bitte?“ Ich wusste von Vielem nicht 6 Und da war ne Phase, wo ich gesagt hab, ich kann net mehr. Und das war 7 nach drei Jahren nach meiner Erkrankung, wo ich dann gesagt hab: „Wenn 8 du nicht aufhörst und was machst für dich, und unsere jüngste Tochter auch 9 ausgezogen ist, dann kann es sein, dass ich von heute auf morgen weg 10 bin.“ Sag ich, „ich schaff’s net mehr. Ich muss meine ganz Kraft für mich 11 brauch ich nur noch, um mit mir selber klar zu kommen.“ Und sag ich, „und 12 da ist kein anderer Mann dazwischen“, weil das ist in der ganzen Phase 13 hoch Drei gewesen, die Eifersucht immer wieder von seiner Seite her. Also, 14 keiner durfte mich angucken, keiner durfte sich mit mir unterhalten. Da ist er 15 zynisch geworden mir gegenüber. Also, es gibt diese (verbalen Schläge), 16 wissen se, der eine schlägt richtig zu und der andere macht’s mit Gesten, 17 mit Ausdrücken und das ((holt tief Luft)), und das war mein Mann halt mehr. 18 Ne. Also, wenn der mich angeguckt hat, das ging durch Mark und Knochen 19 und das hat genauso wehgetan, als wenn er mir ne Ohrfeige gegeben hätte 20 in der Hinsicht. Aber ich hab das zu diesem Zeitpunkt alles nie gemerkt für 21 mich. Ich hab immer im Kopf drinne gehabt, ich bin die Starke. Ich schaffe 22 das. Ja, bis er dann nach den drei Jahren, wie ich dann krank war, sein Ar-23 beitgeber gekommen ist. Der hat ihm dann den Druck gegeben und da hab 24 ich gedacht, der schafft das net. Der geht in ne Entgiftung rein, der schafft 25 das net. Der ist danach wieder da. Und da gab’s bei ihm ne Wende. Der hat 26 ne Entgiftung gemacht oben im Krankenhaus. Damals war das noch mög-27 lich. Da ist eine Diakonisse gewesen, das spricht er heute noch, das ist der 28 Engel auf Erden gewesen für mich, weil die ihn sozusagen an die Hand ge-29 nommen hat, mit ihm Gespräche geführt hat, mit ihm den Weg zu einer Ein-30 richtung gegeben hat, dass er da Hilfe bekommen konnte und siehe da, 31 mein Mann hat den Weg, ist den Weg gegangen. Ja, hat dann über die Ein-32 richtung seinen Weg gefunden, wieder trocken zu werden, hat ne stationäre 33 Therapie gemacht von 13 Monaten, eh 13 Monaten, 13 Wochen. Entschul-34 digung. Ähm, für mich war zu dem Zeitpunkt, wie er, ja, wir durften einmal 35 die Klinik hier angucken, sind wir auch reingegangen. Es war für mich per-36 sönlich wie ein Gefängnis. Wo bringst du deinen Mann hier hin? Ne. Dann 37 sin mr nach Hause. Mir ging’s gar nicht gut, weil ich gedacht hab, du ver-38 rätst deinen Mann. Du gibst deinen Mann hier einfach weg. Es war ganz 39 schlimm für mich. Das muss ich ehrlich sagen und dann kam der Tag, wo er 40 hier in die Klinik eintreten musste. Ich habe ihn hier reinbegleitet. Ich habe 41 hinterher Rotz und Wasser geheult, wie ich ihn hier abgeben musste 42 ((Stimme bricht)) (3). Die Verzweiflung, warum hab ich‘s net schaffen kön-43 nen ((weint))? Warum ((weint)), warum muss das ein Fremder machen? 44 Warum schaffe ich als Partner, die er angeblich lieben tut, warum schafft 45 die das nicht? Warum schaffen‘s die Kinder net mit ihm? Warum schafft’s 46 die ganze Familie nicht, ihn trocken zu kriegen? ((weint)) Da müssen erst 47 fremde Leute kommen. Das ist für die Angehören hart im ersten Moment 48 ((weint)). Man kommt sich wirklich als Verräter vor. Ich habe mich ge- 49 - A22- I/6 50 220 schämt, ihn hier zu besuchen immer am Anfang. Ich hab gedacht, hoffent-1 lich sieht’s keiner ((weint)). ((Stimme wieder fest)) Weil hier Straßenbahnen 2 fahren und die Busse, die aber auch nur zum Teil zu uns fahren. Es war 3 immer für mich am Anfangs so‘n Spießrutenlaufen und auf einmal, hier ist 4 das so in der Klinik, dass die ersten 14 Tage Ausgangssperre ist. Komi-5 scherweise, bei uns haben die ne Ausnahme gemacht, weil ich sozusagen 6 seine Stütze war. Das haben die durch therapeutische Gespräche 7 I: /hm/ 8 B: mittlerweile festgestellt, durfte ich von Anfang ihn auch abholen und durfte 9 mit ihm hier um die Ecken spazieren gehen und so. Das habe ich auch ger-10 ne gemacht. Kein Thema. Nur an dem Tag, wo ich ihn hierher gebracht ha-11 be, an demselben Tag ist unsere jüngste Tochter auch ausgezogen 12 ((weint)). Ich bin nach Hause gekommen, in einem leeren Haus ((weint)) 13 (5), ganz alleine für mich und, tja, von Gott und der Welt verlassen sozusa-14 gen. Es hat mir gut getan dann. Das hab ich aber erst später gemerkt, dass 15 ich diese Ruhe mal brauchte. Aber das Schlimmste war für mich zu dem 16 Zeitpunkt ((weint)) die finanziellen Sachen. Die Rechnungen kamen, kein 17 Geld da, die Krankenkasse zahlt ja hier diesen Aufenthalt. Da bekommt 18 man so n bisschen Krankengeld sozusagen. Das muss man managen kön-19 nen in der Hinsicht. Es haben sich dadurch ein bisschen Schulden noch 20 mehr angehäuft. Aber das war mir zu dem Zeitpunkt dann irgendwo au 21 egal. Wo ich mir zwar mehr Unterstützung bekommen oder gehofft habe, 22 dass trotzdem irgendwo noch Geld da rein kommt, aber das war halt nicht 23 bei uns. Und dann hat sich irgendwann, kam so n Ego bei mir auf. Und 24 zwar als mein Mann immer hier erzählt von den Gruppen und da ist freitags 25 Abend ne Selbsthilfegruppe. Da geht er jetzt immer hin. Hat immer ge-26 schwärmt davon und ich hab zuhause gesessen. Ich hab gedacht, das darf 27 doch net wahr sein. Der schwärmt hier von einer anderen Frau, mit der er 28 reden kann. Mit mir konnte er ja net reden. Warum dann mit ner anderen 29 Frau? Da kriegte ich Eifersucht. 30 I: Das war auch ne alkoholabhängige Frau? 31 B: /hm/((lang gezogen). Ich glaube ja, die war au abhängig. Oder ich weiß es 32 dann nicht. Die ist dann verstorben. Es ist ne Gruppenleiterin gewesen und 33 in der Gruppe konnte er wunderbar reden und hat mir au immer abends er-34 zählt, was er geredet hat. Und bei mir kam so richtig nen Aufruhr hoch: 35 wieso kann er da reden? Du hast über 25 Jahre versucht, mit ihm darüber 36 zu reden. 37 I: Ja 38 B: Warum klappte das nicht? Ich war da irgendwo ((boh)). Und hab da immer 39 gesagt: „Wenn du willst, dass ich mit in die Gruppe komme, sag mit Be-40 scheid.“ Ich war ja bereit dafür, weil ich gesagt habe: „Wenn du diese The-41 rapie machst, ich bin an deiner Seite, ich unterstütze dich, wo ich nur kann. 42 Aber gehen musst du selber.“ Das war immer so mein Motto auch. Und das 43 waren drei Wochen, vier Wochen, wie er nur erzählt hat. Und da sag ich 44 - A22- I/7 45 221 immer, das gibt’s doch net. Ne. Und dann irgendwann hat er mich mitge-1 nommen in die Gruppe rein. Und dann haben die Gruppenteilnehmer bei 2 mir gesagt, ich sollte was für mich tun. Da kam als Angehöriger immer der 3 Aufruf: „Wieso muss ich was für mich tun? Ich bin doch der, der hier die 4 ganze Zeit nur gemacht hat und getan hat und gemanagt hat. Wieso 5 muss ich was für mich tun? Er hat doch das Alkoholproblem. Das, so 6 kam das bei mir an. (2) ((lacht - holt tief Luft)) Und ich hab mich da lange, 7 ich habe drei oder vier Mal, also, ich bin dann auch regelmäßig mit rein jede 8 Woche. Da habe ich immer gedacht, was wollen die von mir? Wieso muss 9 ich was für mich tun? Ich, ich, ich funktioniere doch noch? Ich hab doch 10 keene Probleme? Ja, bis ich dann das gemerkt habe, wo meine Probleme 11 wirklich waren, dass ich gar net die Starke war, dass ich nur die äußere 12 Fassade so gemacht hab. Die innere war ganz anders da: anlehnungsbe-13 dürftig, hilfesuchend, fertig mit sich und der Welt ((lacht)). Also, was ich da 14 alles für mich wahrgenommen habe und dieser lange Weg, da rauszukom-15 men wieder, das war für mich, muss ich dazusagen, die Selbsthilfegruppe 16 ein wunderschöner Start für mich gewesen, muss ich ehrlich sagen, um 17 endlich für mich was zu lernen. Denn sonst funktioniert man ja doch nur 18 weiter. Und wir haben sehr viele Seminare hier besucht, Wochenendsemi-19 nare, wo ik immer wieder auch in meinem Leben gucken, oder überwie-20 gend nur in meinem Leben, sagen wir mal so, immer geguckt habe und 21 gemacht habe und habe dadurch auch, ja, zu Gott wieder Vertrauen be-22 kommen, was vorher zwar da war, aber nicht so intensiv, weil ich hab im-23 mer nur gebetet, wenn’s mir net gut geht: „Lieber Gott, helf mir doch und 24 ((holt tief Luft)) du siehst ja hier unsere Probleme.“ Ne. Und auf der anderen 25 Seite war’s der Teufel: „Der hilft dir sowieso net. Du siehst doch.“ Ne. Das 26 war ein Zwiespalt bei mir hoch drei. Aber hier bei der Einrichtung habe ich 27 auch die ersten drei Jahre dagegen gekämpft. Wir haben nämlich hier frei-28 tags immer so ’n Plenum, wo Betroffene sich, ja, in so ner großen Runde 29 sich vor dir hinstellen, stellen sozusagen, ähm, die Einrichtung vor, was für 30 Veranstaltungen wir haben und so weiter und so fort und wir arbeiten frei-31 tags meistens mit so nem Thema immer, was eine Gruppe immer abwech-32 selnd festlegt. Und die erzählt dann immer, ja, ich danke dem lieben Gott, 33 dass er mir den Weg geführt hat hierher. Und als Angehöriger sitzt man in 34 der großen Menge. Wo war der liebe Gott vorher? Warum hat er die ganze 35 Familie erst runterreißen lassen? Wenn’s ihn wirklich gibt, warum hat er 36 nicht vorher denjenigen mal geholfen, ‘nen Weg zu finden? Und muss erst 37 die ganze Familie am Ende sein? So hab ich des gesehen, so hab ich das 38 gesehen. Und, aber irgendwo hat mir dieses Leben hier in der Einrichtung 39 durch viele ältere, ähm, Mitglieder hier, ich war fasziniert von, davon, wie 40 die ihre Schicksale annehmen konnten ((holt tief Luft)), ähm, ohne irgendwo 41 verbittert zu sein oder zu hadern, oder man hat’s jedenfalls nicht so ge-42 merkt. Und dann hab ich mal, wir waren mal weggewesen auf so ‘ner Frei-43 zeit und sie saß bei uns im Auto und da hab ich nur zu ihr gesagt: „L., so 44 wie du möchte ich auch mal ein Christ sein.“ Die guckt mich ganz abergläu-45 bisch an. Hä? Bist du noch normal? Sag ich: „So wie du lebst, so, du hast 46 so ne innere Ruhe, du bist so ausgeglichen. So möchte ich auch mal wer-47 den. Das ist doch, so stell ich mir nen Christ vor.“ Da meinte die E.: „Du bist 48 schon längst Christ und merkst des gar net.“ Und das hat mir, ja, geholfen, 49 - A22- I/8 50 222 meinen Blick zu ändern. Meinen Blick zu ändern dahin, dass ich in dieser 1 Richtung mein Herz öffnen kann, dass da wieder Platz ist für Gott. Wahn-2 sinnig geholfen hat mir durch mein Leben hin, also, was ich dann Revue 3 passieren lasse, das Buch „Deine Spuren im Sand“, wo er immer wieder da 4 war, ne, wo ich ihn aber net gesehen hab, klar, oder gespürt hab, sag ich 5 jetzt mal, aber da war er da, um, so, wenn man so ’n Leben Revue passie-6 ren lässt, dann kriegt man nen ganz anderen Blickwinkel auf einmal, finde 7 ich immer. Dann sieht man es nochmal von ner ganz anderen Perspektive 8 oder hat ne andere Wahrnehmung au. Ja, jedenfalls is so mein Leben an-9 ders geworden. Es ist net einfacher geworden, aber ich kann besser mit 10 umgehen. Mein Mann ist immer noch trocken. Dafür danke ich auch, muss 11 ich ehrlich sagen. Wir sind beide, seitdem er hier Therapie gemacht hat, in 12 der Ehrenamtsarbeit tätig, leiten mittlerweile selber Gruppen au. Ähm (3). 13 Ich hab die Gelegenheit vor gut drei Jahren, wo auf einmal bei mir was zu-14 sammengebrochen ist, wo ich nicht mit fertig werden konnte, möchte ich 15 aber au jetzt net darüber reden, ((holt tief Luft)) habe ich von heute auf 16 morgen gemerkt, jetzt brauchst du Hilfe. Weil durch die Angehörigen kriegt 17 man immer wieder mit, ich war in Therapie, ich hab psychologische Hilfe in 18 Anspruch genommen. Ich denke Menschenskinder, kannst jetzt gar net mit-19 reden, dann kannst net mal als Helfer hier reden, weil ich hab gar keine Er-20 fahrung davon. Ne. Ich hab’s bis jetzt so geschafft und hab gar nicht ge-21 merkt, oder, ja, ich war der Meinung, mein Leben geht vorwärts. Dass mein 22 Leben aber immer noch auf derselben Stelle stand, das hab ich erst vor drei 23 Jahren gemerkt dann. Und dann hab ich aber sofort gespürt, jetzt brauchst 24 du fachliche Hilfe, nicht. Diese Situation konnte keiner von den Angehöri-25 gen auffassen. Ich hatte dann hier au Gespräche mit dem Herrn T. sehr vie-26 le au. Der ist ja Familientherapeut au. Dann hab ich mir mit meiner Ärztin 27 gleich, ähm, ne Psychologin an Land gezogen, hab ne Reha, psychosoma-28 tische Kur beantragt, alles in diesem einen Jahr dann. Das war Jahr 2009 29 ((zögert)) glaube ich, ja. 2009. 2010? Ja, 2009. 2010 ist es, ja. Und habe 30 richtig gemerkt, dass mir richtig der Boden unter den Füßen weg war. Also 31 so was hab ich in meinem ganzen Leben noch nicht mitgekriegt, au in der 32 Trinkphase von meinem Mann nicht, muss ich schon (lacht) sagen. Das wa-33 ren Peanuts dagegen noch. Ähm (2). Durch die Therapeutin habe ich erst 34 dieses Jahr die letzte Sitzung gehabt. Ich habe drei Jahre jede Woche Sit-35 zung gehabt außer Urlaub und so, ähm, hab ich für mich en ganz anderen, 36 ja, mein Leben is anders geworden, sag ich jetzt mal in einigen Punkten. 37 Ich war immer ein Mensch in meinem Leben, dem ’s nur gut geht, wenn’s 38 den andern gut ging. Ich hab immer gleich hier geschrieen, wenn irgend-39 was war, ohne dass die Leute mich gefragt haben, sondern ich war immer 40 gleich präsent. Und die haben mir erst mal die Augen geöffnet, warum ich 41 so geworden bin, warum das so bei mir ist, warum melde ich mich erst, o-42 der zuerst, bevor mich jemand fragt und warum überlege ich nicht erst, 43 wenn mich jemand fragt, ob ich‘s wirklich machen möchte oder so. Für mich 44 war das überhaupt kein ((phu))? Mach ich. Klar. Ne. Ähm, und das kam 45 durch meine Therapeutin heraus, dass es durch die Kindheit gekommen ist. 46 Dass ich immer gekämpft hab um Anerkennung, immer gekämpft habe, 47 mich zu beweisen, dass mich jemand lieb hat, so ungefähr und (3) diese 48 Zeit mit der Therapeutin hat mir dazu den Weg geebnet, dass ich heute sa- 49 A22- I/9 50 223 ge, okay, ich bin so, wie ich bin. Es muss mich nicht jeder lieben. Das ist 1 Fakt. Das, was ich kann, kann ich. Was ich nicht kann, kann ich auch gut 2 abtreten. Es gibt auch andere, die was machen können. Ich muss net im-3 mer gleich hier schreien. Ja, ich bin viel selbstbewusster dadurch gewor-4 den. Viel selbstbewusster. (2) Und ich biete heute immer wieder unseren 5 Leuten hier an, macht eine Therapie, macht ne psychologische Therapie. 6 Das hat nichts mit nem trinkenden Partner immer zu tun, obwohl wir immer 7 sagen, es hat im ersten Moment mit zu tun, aber es ist nichts als unser Le-8 ben. Unser Leben. Ich. Genau. Hier geht’s nur um mich. Und das durfte ich 9 die drei Jahre jetzt genießen und kann au viele Sachen jetzt in der Hinsicht 10 umdenken, umlenken. Man kommt manchmal in so Schienen wieder rein. 11 Gerade bei meiner Mutter hab ich ganz oft diese Schiene gehabt ((lacht)). 12 Also meine Mutter war ein großes Problem in dieser Therapie für mich, weil 13 auch in meinem Alter mit 62 Jahren, vor drei Jahren fing das, oder ich mich 14 geändert habe, ähm, war meine Mutter so ne dominante Person, die immer 15 gesagt hat, du machst dies net richtig, du machst jenes nicht richtig und das 16 musste machen und jenes musste machen. Ich fühlte mich immer so als 17 kleines Kind noch. Und meine Therapeutin hat mir nen Satz mit mir zu-18 sammen ausgearbeitet: Ich bin nicht mehr das kleine Kind. Ich bin nicht die 19 kleine Tochter von meiner Mutter, sondern ich bin heute eine erwachsene 20 Frau und dieser Satz hat mir wahnsinnig geholfen. Den mir immer wieder 21 vorzusagen, ich bin nicht mer dieses kleine Kind. Ich bin ein erwachsenes 22 Kind heute, eine erwachsene Tochter. Und das hab ich dann umsetzen 23 können bei meiner Mutter, Grenzen ihr zu setzen, auf liebevolle Art und 24 Weise. Ich bin net so einer, der so mit der Faust da irgendwo durchs Leben 25 geht. Ich bin eher dieser ruhigere, der Gefühlsmensch bin ich mehr und, 26 ähm, ja, siehe da, meine Mutter hat sich geändert. Und das war für mich so 27 dieser positive, ähm, ja, diese positive Erfahrung, die ich mit meiner Mutter 28 jetzt noch erleben durfte. Weil so ne Mutter, wie sie jetzt grade ist, hätte ich 29 mir mein ganzes Leben gewünscht ((lacht)). Aber ich sag, sie ist 84 Jahre 30 alt jetzt, ist seit einem Jahr im Pflegeheim (2), ist zwar nicht Demenz, aber 31 körperliche Defizite hat se mächtige, wo se net mer alleine leben kann. Ich 32 war auch nicht bereit, sie zu pflegen, auch durch meine Vergangenheit her-33 aus, weil bei uns hat’s oft gehadert miteinander ((holt tief Luft)), weil ich 34 dann net ruhig sein konnte und sie immer wieder drauf noch bei mir sozu-35 sagen, immer dieses Gefühl, du machst nichts richtig, du kannst nichts rich-36 tig, du bist nichts wert. Das war für mich immer noch so im Kopf drin. Und 37 ich hab mich immer wieder bei meiner Mutter angestrengt, immer wieder 38 versucht, ähm, ihr es recht zu machen. Das sind Sachen, die ich durch die 39 Einrichtung kennengelernt habe, z. B. wie man sich begrüßt hier, dieses 40 Herzliche, mal ne nette Umarmung, mal nette Worte überhaupt, ne, ähm, 41 wo ich gedacht hab, ich kann doch gar net so verkehrt sein. Wenn die mir 42 das rüberbringen als fremde Leute, warum kann’s meine Mutter nicht? Wa-43 rum kann die das nicht, ne, wo ich das so erhofft? Ich kann’s doch mit mei-44 nen Kindern. Ich nehm meine Kinder in Arm, ich drücke sie, ähm, ich sag 45 ihnen was Liebes, was Nettes mal. Ne. Ähm. Ja, ich akzeptiere sie so, wie 46 se sind, will se nicht verändern. Aber meine Mutter ist ein Mensch, die 47 möchte die Menschen immer verändern. Das habe dann au herausbekom-48 men. Aber was für mich so die Wende gab, das habe ich herausbekommen 49 - A22- I/10 50 224 für mich, meine Mutter konnte es nicht anders, weil sie’s nicht anders ge-1 lernt hat. Das war für mich n Punkt. Genau. Und da hab ich gedacht, okay, 2 mit der Sache kannste umgehen. Die (Katz) hat’s nicht gelernt, weil genau 3 ihre Mutter, genau das gleiche gemacht hat mit ihr. Genau das gleiche. Ich 4 weiß das von meinem Onkel her und trotzdem kann ich’s auf der einen Sei-5 te verstehen, aber auf der anderen Seite kann ich es nicht verstehen. 6 Wenn ich so ne schlechte Erfahrung mit ner Mutter schon gemacht hab, so 7 von der Gefühlsebene her, ne, wieso kann ich das nicht bei meinem Kind 8 besser machen? Warum geht das nicht? Warum krieg ich das hin und sie 9 nicht? Das hat mich dann auch noch lange beschäftigt. Ne. Aber jetzt ist so, 10 ich kann da offen darüber reden, auch mit ihr da drüber reden. Ich danach 11 mit ihr offene Worte geredet. 12 I: /hm/ 13 B: Das fing an, wenn ich gekommen bin: „Tag Mutti.“ Die gibt mir keine Hand 14 am Anfang. Also die ganzen Jahre net. Die letzten drei Jahre haben wir ja 15 gelernt erst miteinander, oder die letzten vier Jahre kann man sagen. Es ist 16 so, dass sie immer wieder, ja, (2) andere Menschen kann sie freundlich 17 empfangen, mich aber net. Das Gefühl hat ich immer. Ne. Und dann hab 18 ich mich geändert. Ich hab gesagt, okay, du musst damit lernen umzuge-19 hen. Das bist nicht du, das ist sie. Ich bin anders. Und dann hab ich ver-20 sucht, hab ich viel von der Einrichtung auch erzählt ihr am Anfang und da 21 hat se immer gesagt, das wär ne Sekte. Ich hab gesagt, wenn du meinst, 22 dass das ne Sekte ist, dann ist das deine Einstellung. Du bist so ne schlaue 23 Frau, du bist im Internet drinne und weist net ( ) ähm Videosache da im 24 Fernsehen. Ich sag, wenn du der Meinung bist, dass das ne Sekte ist, dann 25 tust du mir echt leid jetzt. Ne. Na jedenfalls, es kam die Wende, wo ich 26 dann ihr einfach mal n Küsschen gegeben habe auf die Wange (redet sehr 27 schnell), so eiskalt war das, ehrlich. Es war für mich ungewohnt und ich hab 28 das aber beibehalten trotz alledem und dann hab ich, kam eine Situation 29 wieder, wo wir wieder angeeckt sind. Ich sag: „Ich möchte dir eins sagen“, 30 sag ich, „ich weiß nicht, warum du mit mir nicht kannst und ich mit dir nicht, 31 aber ich verstehe es nicht, dass du alles abblockst, was meine Seite betrifft 32 in der Hinsicht.“ Ne. Das wär net so. Ich sag: „Dann überleg mal, wenn ich 33 dir en Küsschen geb, ich hab von dir noch bis jetzt keine Umarmung ge-34 habt, mal irgendwie als Dankeschön. Du weißt, dass ich vieles für dich 35 mach, weil du meine Mutter auch bist und ich respektiere das auch.“ Ne. 36 „Ich ver-, verehren ist zuviel gesagt, aber, es ist in Ordnung, du hast en 37 schweres Leben hinter dir gehabt.“ Ne. „Aber trotzdem kann man Dankbar-38 keit zeigen.“ Und ich sag: „Und das bringst du mir gegenüber nicht.“ Und 39 sag: „Und guck mal in deinem ganzen Leben. Du hast keine Freunde, du 40 bist immer alleine, bist gerne alleine. Weiß ich mittlerweile.“ Ne. „Aber 41 Freunde braucht man trotzdem.“ Ich sag: „Du hast sie alle vergrault mit dei-42 ner Art, dass du immer das Recht bist, du bist immer zickig, sag ich jetzt 43 mal. Du bist immer, du kannst kein gutes Haar an anderen Menschen las-44 sen, du willst sie verändern.“ Sag ich: „Das lassen die meisten net zu.“ Das 45 hat sie schlucken müssen in dem Moment auch und dann war kam wieder 46 ne Seite, bin ich wieder mal zu ihr. Wir wohnen ja net weit auseinander. 47 Und dann hielt sie mir schon die Wange hin. Und dann kam au wieder so 48 - A22- I/11 49 225 ne Situation, wo ich dann gesagt hab: „Du wirst einmal danke sagen, wenn 1 ich was mache.“ Ne. Das sind so viel, ob es finanziell ist, dass ich mal ihr 2 was gegeben hab oder irgendwelche anderen Sachen, die ich gerne ge-3 macht habe. Ne. Da kommt kein Dankeschön. Es kommt nach drei, vier 4 Wochen ein kleines Geschenk. Ich hab das aber nicht so gesehen als 5 Dankeschön. Das ist das Problem. Das hat mir erst der Herr T. gesagt 6 ((lacht)). Da habe ich gedacht, du musst mal umdenken. Das ist auch ein 7 Dankeschön. Ich sag, das verstehe ich erst recht net, sie hat schon kein 8 Geld und dann gibt se dafür Geld dann aus. Ich sag, das möchte ich dann 9 auch net, weil ich auf der anderen Seite muss ich es ihr ja wiedergeben, 10 weil ihr Geld ja net reicht, obwohl die ne sehr gute Rente hat, meine Mut-11 ter,und dann hab ich mit ihr darüber geredet und sag: „Mutti“, sag ich, „ich 12 möchte nicht mehr, dass du jetzt diese kleinen Geschenke für mich käufst. 13 Für mich reicht einfach ein Wort Danke, Dankeschön und das kostet kein 14 Geld.“ Sag ich: „Überleg dir das mal.“ Dann haben wir irgendwas mein 15 Mann und ich bei ihr gemacht und zum Abschied hat sie danke gesagt. Das 16 war das erste Mal. Das nimmt man in dem Moment gar net so wahr. Man 17 nimmt es im ersten Moment nicht wahr, weil das ein Wort ist, was aus dem 18 Mund einem fremd vorkommt. So richtig bewusst ist es uns erst zuhause 19 geworden ((lacht)). Mein Mann spricht: „Haste gehört, dass se danke ge-20 sagt hat?“ Ich sag: „Ja. Ich weiß gar nicht, wie ich jetzt damit umgehen soll.“ 21 Und da war ne Situation, da war ich alleine bei ihr. Das war, wie se dann 22 anfing zu kränkeln mit künstlichem Kniegelenk und Schultergelenken und 23 so was alles. Auf einmal nimmt die mich in die Arme. Wissen sie, wie ich 24 dagestanden hab? Stocksteif. Ich dachte, was ist denn jetzt passiert? Mit 25 diesem Gefühl konnte ich gar net umgehen. Konnte ich nicht umgehen. Ich 26 bin nach Hause. Mein spricht: „Was ist mir dir los?“ Ich hab erst eine Runde 27 geheult. Habe ich ihm das erzählt. Ich sag: „Ich weiß net was los ist. Meine 28 Mutter kommt auf einmal auf mich zu.“ (2) Ne. Ich sag: „Ich weiß gar net, 29 ich hab’s mir lange gewünscht, aber jetzt ist es auf einmal da und wenn’s 30 nur einmal war, ich kann net damit umgehen“ ((lacht)). Das ist schlimm für 31 einen. ((holt tief Luft)) Und so ist das bis voriges Jahr bisschen gegangen 32 und voriges Jahr kam dann die Situation, wo sie ins Pflegeheim musste, 33 weil sie ne Zeitlang nicht laufen konnte. Sie wohnte zweieinhalb Etagen 34 hoch, lebte alleine auch. Hat auch alles alleine immer gemacht, obwohl ich 35 immer gesagt hab, wenn du Hilfe brauchst, sag mir Bescheid. Aber 36 dadurch, dass ich ihr nichts recht machen konnte, ich hab net richtig ge-37 putzt, ich hab net richtig was gemacht, also sie hatte immer was auszuset-38 zen. Dann hab ich gesagt okay, wenn sie mich net braucht, soll se alleine 39 fertig werden. Geld für ne Putzfrau hatte se natürlich nicht und dann kam 40 voriges Jahr die Aktion, wo es nicht mehr ging zuhause, wo ich dann auch 41 mit ihr geredet hab. Ich sag: „Mutti, so geht’s net weiter. Du kannst net mehr 42 in die Wohnung zurück. Was machen wir jetzt?“ Ne. „Zu mir kannste net.“ 43 „Nee, dann geh ich ins Pflegeheim.“ Ich hab gedacht ((boh)), was ist denn 44 jetzt los? Dann ist se auch ins Pflegeheim durch Kurzzeitpflege und An-45 schlussheilbehandlung wieder ins Pflegeheim rein. Also sie lebt im Pflege-46 heim. Wir haben in der ganzen Zeit die Wohnung ausgeräumt mein Mann 47 und ich. Eine Drei-Zimmer-Wohnung mit großem Dachboden, mit großer 48 Garage und großem Keller, die voll waren. Kein Geld dagewesen, um ne 49 - A22- I/12 50 226 Haushaltsauflösung zu machen. Im Gegenteil, da hätten wir noch Geld mit-1 bringen müssen. Da habe ich gesagt, das müssen wir in Eigenregie ma-2 chen. Und das haben wir dann auch Gott sei Dank geschafft. Immer wieder 3 gefragt, welche Sachen brauchst du. Immer hoch ins Pflegeheim gebracht, 4 selber angucken lassen, wieder zurück, aussortiert, das wollte se haben, 5 das nicht. Ne. An Möbeln das, was sie wirklich haben wollte, weil se, da 6 oben hatte se noch ein Doppelzimmer, ähm, heben wir das auf? Haben wir 7 auch alles gemacht, alles richtig gemacht auch. Und dann, in der Zeit hatte 8 ich die Betreuung über sie, solange sie selber nicht auf die Kasse gehen 9 konnte und so andere Wege hat se mir dann unterschrieben. Aber erst, 10 nachdem ein Sozialarbeiter mit ihr geredet hat, weil sie kein Vertrauen zu 11 mir hatte. Oh. Das ist das Schlimme, wir hatten nie in dieser Hinsicht was 12 getan der Mutter. Ne. Man hat se nicht finanziell betrogen noch sonst ir-13 gendwas oder irgendwas anderem. Ein Misstrauen mir gegenüber, das ist 14 schlimm. Sie hat die Kontogewalt unserer ältesten Tochter übergeben. Die 15 spielt, meine Mutter ist ein Mensch, die spielt einen gegen anderen aus. 16 Nur, meine Tochter hat’s mir dann erzählt. Sie spricht: „Mutti, soundso…“ 17 Sag ich: „Ja, wenn du es machen willst, dann musst du aber mit den Kon-18 sequenzen auch rechnen. Wenn sie mal stirbt oder ihr was, ich sag, du bist 19 voll eingetragen da drinne.“ Ne. Ich sag: „Für mich ist das in Ordnung“, sag 20 ich, „ich kann damit umgehen.“ Obwohl es innerlich wehgetan hat, muss ich 21 ehrlich sagen. Dass sie zur eigenen Tochter, die es wirklich gut mit ihr 22 meint, kein Vertrauen hat. ………………………………. Mit meinem Bruder 23 hat sie auch keinen Kontakt, schon lange, schon jahrelang, seit der Situati-24 on mit uns hat sie mit meinem Bruder absolut keinen Kontakt. Für ihn ist 25 seine Mutter gestorben. Da müssen die die Punkte miteinander gehabt ha-26 ben. Der kümmert sich auch kein bisschen da drum. Er schreibt net zum 27 Muttertag, zu Weihnachten, zum Geburtstag, gar nix. Ich find’s traurig, aber 28 (2) kann man net ändern. Ja, und dann hab ich dann gesagt: „Okay, du bist 29 wieder selber in deiner Lage, du kannst alles selber machen.“ Hab‘ ihr die 30 die ganzen Papiere, Kontoauszüge, alles hingelegt. „Hier, mach!“ 31 …………………………… ………………………… Jetzt ist se aber wieder in 32 der Situation, wo ich alles machen muss und sie ist ruhig jetzt. Sie ist ruhig. 33 Sie ist ruhig, äh, weil sie jetzt merkt, jetzt brauch ich wirklich die Hilfe von 34 meiner Tochter. Das ist einkaufen, das ist so vieles, das ganze bürokrati-35 sche Kram, was jetzt wieder dran ist. Sie ist nämlich gestürzt jetzt Ende 36 Mai, hat sich den Oberschenkel gebrochen, hat aber an dem Bein auch ein 37 künstliches Kniegelenk und oberhalb von diesem künstlichen Kniegelenk ist 38 der Bruch, jetzt an den Rollstuhl gefesselt, kommt nächste Woche in die 39 Anschlussheilbehandlung rein nach R., ist todunglücklich, dass sie noch 40 nicht so motiviert ist, dass se aufstehen kann, das darf sie natürlich net. Wir 41 waren heut erst wieder im Krankenhaus. Das grüne Licht hat se erst be-42 kommen jetzt zum, ähm, ((holt tief Luft)) 20 Kilo. Mehr darf se net belasten 43 und hat die im Kopf drin, ach wenn ich Gehstützen hab, dann kann ich ja 44 laufen. Sag ich, in Ordnung. Der Arzt hat ihr Gehstützen verschrieben, 45 gleich im Krankenhaus ausprobiert, ob sie damit klarkommt. Kommt natür-46 lich net klar, das wusste ich ja, weil sie die Kraft einfach nicht mehr hat. 47 Aber sie hat‘s im Kopf drin gehabt und ich hab so im Stillen gedacht, 48 Mensch, sie muss noch weiter runter 49 - A22- I/13 50 227 kommen. Sie hat ihre Vorstellung, wie es vor elf Jahren war, wie sie da 1 rumgelaufen ist mit dem Bein und jetzt hat sie immer noch diese Vorstel-2 lung drinne. Aber es nützt nichts, wenn ich was sage, sondern sie muss 3 selber die Erfahrung machen. 4 I: ja 5 B: Und das hat ihr bis jetzt geholfen und heute war se natürlich todunglücklich 6 nach dem Krankenhaus. „Na, was ist denn mit dir los?“ „Ach, ich bin so ent-7 täuscht.“ Ich sag: „Mutti“, sag ich, „ich hab dir gleich gesagt, dass das mal 8 nicht geht. Du hast jetzt einfach diese Vorstellung wie es damals war. Aber 9 dass du 15 Jahre älter jetzt bist“, sag ich, „die Kraft, wo soll denn die Kraft 10 herkommen? Seit 6 Wochen liegst du nur im Bett. Wie oft habe ich gesagt, 11 steh auf, geh raus, lass dich rausheben in den Rollstuhl rein, dass de die 12 Armmuskulatur mehr bewegst“, sag ich, „du sitzt, wenn ich komme, nur im 13 Bett“, sag, „von nix kommt nix.“ „Ja, ich kann ja die Pfleger nicht immer 14 noch belasten.“ Sag: „Dafür sind die hier. Dafür bist du auf so ner Station. 15 Das ist ne Ausnahmesituation, dass du angezogen werden musst, net den 16 ganzen Tag im Nachthemd da rumsitzen. So krank biste net.“ Ne. Aber sie 17 da hinzubekommen, ne, ist schwierig. ………………………………. Sie hat 18 mittlerweile ein schönes großes Einzelzimmer auch, was mein Mann und 19 ich uns ((holt tief Luft)), ja, ihr schön eingerichtet haben mit ihren eigenen 20 Möbel soweit dies machbar war. 21 22 I: /hm/hm/ 23 B: Auch da gab‘s kein Dankeschön ((lacht)). Und da war ich sauer an dem 24 Tag. Ehrlich. Wir waren fix und fertig. Die schweren Möbel hochgeschleppt 25 und dann geh’n mr raus. Ne. Und mein Mann spricht: „Sag mal, hat die 26 eben danke gesagt?“ Sag ich: „Nee, bei mir net.“ „Nee, bei mir auch net.“ 27 Sag ich: „Ja, ist in Ordnung.“ Und dann war ich den nächsten Tag mit ihr 28 beim Arzt und da hatte sie schlechte Laune, ich wahrscheinlich auch ein 29 bisschen schlechte Laune von dem Tag vorher noch und dann sind wir an-30 einander geraten ein bisschen und da sag ich: „Ja, wenn du erst mal in der 31 Situation bist.“ Ich sag: „Ich will dir mal eins sagen, weißt du, was ich mir 32 jetzt erhofft hätte, dass du wenigstens mal danke sagst ,nachdem, was wir 33 gestern hier gemacht haben.“ Ja, das hätte sie gemacht. Gleich dieser Auf-34 ruhr. Ja, das hätte sie gemacht. Ich sag, ich hab den B. gefragt, ja, der hat 35 gesagt nee. Und der B. hat mich gefragt, bei mir haste es auch net ge-36 macht. Ja, da sei er schon an der Tür gewesen. Ich sag: „Wie bitte, sagt 37 man Dankeschön, wenn derjenige schon die Türklinke in der Hand hat? 38 Das sind fünf Meter dazwischen.“ Sag: „Wenn ich dir die Hand gebe und 39 dich in den Arm nehme und sage tschüs, dann kann man danke sagen.“ 40 Ne. Und dann sind wir von unten zum oben ins Zimmer als aneinandergera-41 ten und spricht: „Ja, du müsstest mal so krank sein wie ich, dass de net 42 mer so kannst.“ Ich sag: „Wie bitte Mutti“, sag ich, „dein Mund ist nicht 43 krank. Hier oben bist du noch klar im Kopf drinne“, sag, „und das danke, 44 - A22- I/14 45 46 228 das Wort danke kostet kein Geld“, sag, „wenn du der Meinung bist, dass du 1 immer noch auf mir herumhacken willst, na, dann musst du langsam lernen, 2 allein zu leben hier.“ Dann hat die oben auf dem Zimmer bitterlich geweint. 3 Ich hab gedacht, was machste jetzt. Gehste oder gehste net ((schluckt)) (3). 4 Und ich hab gedacht, nee, kannste net machen, sie ist ja auch herzkrank. 5 Ne? Dann kommt man wieder in diese Schiene rein, Aufregung und so. Ich 6 sag: „Mutti, ich will dir mal eins sagen, ich bin der Letzte, der dir was Böses 7 will. Aber du behandelst mich permanent so“, sag ich, „ich weiß nicht wa-8 rum, wieso du mich so behandelst, dass du kein Vertrauen zu mir hast. Du 9 hast zu wildfremden Leuten mehr Vertrauen als zu deiner eigenen Tochter“, 10 sag ich, „lass dir das mal durch den Kopf gehen. So, nun überleg mal, was 11 ich alles für dich jetzt getan hab. Ich will kein Dankeschön oder irgendwas. 12 Aber en bisschen, dass de respektvoller mit mir umgehst, dass de Respekt 13 bisschen vor mir hast, das was ich leiste. Ich sag, ich mach hier permanen-14 ten Spagat irgendwo. Ich hab auch meine eigene Familie noch. Ich hab nen 15 Verein noch, ne, und bin auch noch hier“, sag ich, „das geht net so weiter. 16 Entweder musst du dich mal gewaltig ändern, auch mal annehmen was“, 17 sag, „oder es wird wieder so wie früher, dass ich nur alle paar Wochen mal 18 komme.“ Seitdem ist meine Mutter wie umgeschlagen. Liebevoll mit mir, ne. 19 Und wenn sie, wenn wir mal aneinandergeraten oder wenn irgendwie in so 20 ne Meinungsverschiedenheit wieder ist, dann sag ich: „Weißte was, Mutti, 21 eh wir jetzt wieder was sagen, was uns beiden weh tut, lassen wir das erst 22 mal stehn jetzt.“ Ne? Sag: „Lass mal nen Tag dazwischen gehen.“ Ne. Und 23 das hilft uns beiden komischerweise. 24 25 I: /hm/hm/ 26 27 B: Also, sie ist da jetzt wirklich auf ner Schiene wieder drauf, wo ich sage, ja, 28 schön, schön, dass ich diese Schiene von meiner Mutter auch noch miter-29 leben darf. Auch wenn sie 84 ist. Man kann so alt werden wie ne Kuh. Man 30 kann immer noch dazulernen, auch als 84jährige. 31 32 I: natürlich. 33 34 B: Man hat Respekt vor dem Alter, das ist schon richtig. Ne. Aber sie können 35 net alles machen, nur weil sie so alt sind, sag ich immer. Das sollte man 36 ihnen schon rüber bringen und das tue ich auch auf ner liebevollen Art mit 37 ihr. Ne. Also, nicht dass ich jetzt durch die Wand und auch in die Schiene 38 rein gehe, sondern auf ner ruhigen Basis versuche ich es rüberzubringen 39 ihr immer wieder. Ne. Kostet natürlich auch viel Kraft. Manche Schmerzen 40 haben wir selber, dass ich manchmal, ja, nicht diese Geduld habe. 41 42 I: Sie war immer auch ne aktive Frau und dadurch ist es natürlich 43 44 B: sehr aktiv 45 I: sehr schwer 46 B: sehr aktiv 47 I: diese Beeinträchtigung zu akzeptieren. 48 - A22- I/15 49 229 B: Ja. Ja. Das ist es. Aber ich finde trotz alledem, sie hat sich gut eingefügt 1 jetzt. Die ersten halben, dreiviertel Jahre war es schwierig so, ne. Aber jetzt 2 ist das also, wenn es jetzt so bleibt bin ich dankbar, muss ich ehrlich sagen. 3 I: schön 4 B: Morgen geh ich wieder mit ihr einkaufen. Ich bin froh auch, dass mein Mann 5 da mehr Verständnis jetzt für hat, dass ich ein bisschen mehr Zeit da ver-6 bringe. Ne. Aber so ist das Leben. ((lacht)) 7 I: Vielen Dank. Wollen wir mal hier ne Pause machen? Ja? 8 B: Gut, da können wir mal ne Pause machen. 9 10 Kleine Pause; die Nachfragephase findet am20.07.2013statt, siehe CD I. 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 - A22- I/16 28 29 230 Narratives Interview mit „Lena" am 18.09.2013, Haupterzählung 1 I: Bitte erzählen Sie mir ihre Lebensgeschichte. 2 B: Ja, ich bin geboren am 23.11.74 in Lettland. Ähm (1), genau. Ich kam als 3 zweites Kind in der Familie zur Welt. (1) Ähm. Wir haben daheim Deutsch 4 gesprochen, obwohl wir in Lettland gewohnt haben. Da habe ich die Grund-5 schule auch besucht.1987 sind wir, da war ich 12 Jahre alt, sind wir nach 6 Deutschland umgezogen. Ähm (1), diese zwölf Jahre waren geprägt. Ich 7 hatte ne zweite Rolle zu Hause. Ich war eigentlich die Mama daheim (2). 8 Ähm, genau, dadurch, dass die Eltern ganz viel, ähm, Landwirtschaft hat-9 ten, Viehwirtschaft und wie man das auch alles bezeichnen sollte, hatte ich 10 die Rolle der Mama zu Hause. Ich hatte eigentlich auch den sechsten (1), 11 mein sechstes Geschwisterchen im Grunde genommen fast erzogen, sozu-12 sagen. Ja, dann kamen wir hierher nach Deutschland und das war, das 13 sehr schwer für mich hier, weil wir ja die deutsche Sprache zwar gespro-14 chen haben, aber nicht geschrieben, nicht gelesen. Also, da musste ich 15 komplett neu von der 6. Klasse alles komplett aufholen. Das war ein harter 16 Kampf. Ähm, ich wollte aber in der Realschule bleiben. Auf keinen Fall 17 runtergehen, denn ich war immer schon ne sehr gute Schülerin und (1) das 18 hat wieder mal sehr viel Kampf gekostet deswegen. Aber ich hab’s ge-19 schafft. Ich bin geblieben. Ähm (2), und ich hatte dann irgendwann mal nen 20 Abschluss von der Realschule, als beste Schülerin Realschule abgeschlos-21 sen von der ganzen Schule. Ich bin eigentlich so der Typ, dass ich sehr viel 22 kämpfe. Bis ich was aufgebe, ist eigentlich, das dauert lange. Ich habe 23 meine Ausbildung als Bankkauffrau gemacht. Während der Zeit (1) haben 24 meine Eltern das Haus hier gebaut und ich habe sehr viel auch finanziell die 25 Eltern unterstützt. ((holt tief Luft)) Äh, selber habe ich meine eigenen Wün-26 sche eigentlich viel zurückgestellt. Ich kannte eigentlich gar nicht eigene 27 Wünsche, weil ich das sehr gut konnte, für andere sorgen, auch zu sehen, 28 was andere brauchten. Genau. Ähm (1), das war mir damals gar nicht so 29 bewusst. Ähm, ich wollte einmal, das kann ich mich gut erinnern, da wollte 30 ich eigentlich sehr auf ne Bibelschule gehen. Hätte gerne da so ne Ausbil-31 dung noch gemacht, aber ich hab mich nicht getraut ((gedehnt)) das 32 durchzuziehen, weil ich irgendwo schlechtes Gewissen hatte und Beden-33 ken hatte, wie meine Eltern ohne meine finanzielle Hilfe auskommen wür-34 den. (2) Genau. Ähm (1). Na ja. Und, ähm, ich hatte eigentliche viele Sa-35 chen, die ich gerne gemacht hätte, zurückgestellt. Ähm. Geprägt war das 36 aber auch durch die Gemeindezugehörigkeit. Wir waren in einer Baptisten-37 gemeinde in A. Eigene Wünsche (2), wie zu leben, eigene Vorstellungen 38 waren nicht erwünscht. Es gab Vorgaben, nach denen man sich zu richten 39 hatte. Ja, eigenes Denken war (1), ja, was man gedacht hat, war vielleicht, 40 ähm, nicht so wichtig ((lacht)). Man musste in den Rahmen passen. Genau. 41 Ich hatte nie in den Rahmen gepasst, gab’s viel Ärger. Aber ich hab, egal, 42 ich geh trotzdem den Weg. Äh (1). Aber nach der Ausbildung hatte ich 43 trotzdem mir Vieles gegönnt. Ich hab eine Australienreise gemacht. Wir sind 44 auch in die Türkei geflogen. Also, da habe ich mir dann schon irgendwann 45 mal mehr gegönnt, sag ich jetzt mal. ((holt tief Luft)) Ähm, in der Gemein-46 dezugehörigkeit hatten wir ne schöne Zeit, weil wir ne riesige Jugendgrup- 47 -A23- I/1 48 231 pe hatten und wir waren ungefähr 80 Leute. Wir hatten eine wunderschö-1 ne Zeit miteinander gehabt. Wir haben viel Spaß, viel unternommen. Aber 2 auch da habe ich wieder übernommen, Reisen zu organisieren für so eine 3 (1) ((lacht)). Das war Wahnsinn. Wenn ich überlege, das waren 80 Leute. 4 Für 80 Leute ein Haus zu finden, finanziell alles zu regeln. Ich hab das mir 5 zugetraut. Ich hab’s auch gemacht. Ja, ähm (1). In dieser Zeit hatte ich 6 mich dann natürlich auch in meinen Mann verliebt. Er hat damals studiert, 7 Theologie studiert. Ähm (1), ich hätte natürlich auch viele anderen, sag ich 8 jetzt mal, ich hatte auch viele andere Verehrer, wie auch immer das. Aber 9 nein, das war der W. Heute verstehe ich das, warum das so ist. Weil ich 10 hab jemanden gebraucht, für den ich sorgen kann. (1) Genau. Ähm. Die 11 anderen waren eigentlich, äh, gestandene Männer im Leben ((lacht)). Das 12 ist mir heute erst bewusst. Damals wusste ich eigentlich das noch nicht. Ja, 13 ähm, (1) genau. Er hat studiert. Studiert hat er in der Schweiz, so dass 14 man eigentlich gar nicht genau, ähm, (1) wir haben uns nur am Wochenen-15 de gesehen halt. Klar, Beziehung kann man das nennen. Ich würd heute 16 sagen, das war keine gute Beziehung ((holt tief Luft)). Ich hatte damals 17 auch sehr gewollt, dass wir mit jemandem noch Gespräche führen, aber er 18 hat es abgeblockt und ich hab es nicht durchgesetzt (1), warum auch im-19 mer, ich hatte Angst gehabt, ich würde diese Beziehung verlieren. Also 20 hab ich alles dafür getan. Okay, dann machen wir’s so, wie er das möchte. 21 (1) Ja, (1) ähm. Ich war sehr beeindruckt von seiner Persönlichkeit. Er war 22 höflich, er konnte gut reden, er war charmant. Ja, wie halt, er hat studiert. 23 Aber im Grunde genommen, wie er studiert hat, was er studiert hat, ich hät-24 te damals eigentlich schon aufmerksam werden können, müssen – wie 25 auch immer, dass er ein Studium abgebrochen hat. Was dahinter wirklich 26 gesteckt hat, hab ich mir nicht die Mühe gemacht, das zu erfragen. Später 27 ist mir das natürlich aufgefallen, sind die Augen aufgegangen, dass er ei-28 gentlich auch damals schon während des ersten Studiums Alkoholprobleme 29 hatte. Das war nur so ein bisschen vertuscht und (1), genau. Aber ich hatte 30 später auch Erlebnisse gehabt und ich hab’s trotzdem nicht so realisiert, 31 weil, es war früher in der Gemeinde, wo wir waren, war Alkohol eigentlich 32 verboten. Das war ein Thema, das war komplett tabu. Und, ähm, dass ich 33 ihm das gar net so zugetraut hätte, dass er eigentlich ein Alkoholproblem 34 hat. Ja, das war eigentlich so. Wir haben geheiratet 2000. Sind auch nach 35 G. gezogen. Weg, ganz von hier. Das war eigentlich sehr gut für uns zu 36 zweit, weil da war eigentlich so manches dann, ähm,hat angefangen zu 37 bröckeln, dass was wir geglaubt haben, was war richtig, was war nicht rich-38 tig, das war ne gute Zeit. Es war aber auch, ähm, mit ihm, wo das erste Mal 39 das Erwachen kam, wo er angefangen hat, dann hat halt zu trinken und, 40 ähm, ich damit überhaupt nix anfangen konnte. Ich konnt aber auch nie-41 mandem was sagen, weil (1) in der Gemeinde war‘s Thema tabu und, ähm, 42 (1) solche Leute wurden einfach ausgeschlossen. Die gab’s dann einfach 43 nicht. Ja, ähm. Sein Vater war aber auch der Leiter der Gemeinde. Das war 44 auch so ein Kreislauf, der dann angefangen hat. Er hat dann auch später 45 gesagt, er hat sehr gelitten durch die Zeit, weil der Vater das war, er konnte 46 nicht selber denken und seine eigene Sichtweise konnte er nicht vertreten, 47 weil es würde gegen den Vater gehen. Und das hat so nen Kreislauf dann 48 angefangen und, ähm, naja. Er hat irgendwann mal Studium dann halt ei- 49 -A23- I/2 50 232 gentlich auf mein Drängen abgebrochen sozusagen, weil ich gesagt hab, 1 es bringt nichts. Und ich bleib da auch nicht, wenn du nur säufst. Also sind 2 wir wieder zurück. Er wollte auf keinen Fall, aber ich wollte auch nicht dort 3 bleiben, weil ich gesagt hab, er kümmert sich nicht, er säuft sich zu Tode im 4 Grunde genommen. Meine Familie ist hier unten und da will ich auch nicht 5 bleiben. Es war ne harte Zeit, weil, ähm, es gab viele Anschuldigungen 6 dann, auch von den Gemeindemitgliedern, halt, ähm (2), ja, dass es an mir 7 liegt, dass ich so ein Drachen ein bisschen bin. Ja, weil er war so ((hm)), so 8 lieb, so gut und sonst was und eigentlich, ja. (1) Aber ich hab dann irgend-9 wann mal nicht nachgegeben. Ich habe viel gesucht. Irgendwann bin ich 10 selber ausgetreten, weil ich gesagt hab, ich halt das nicht mehr aus, was 11 auch gut war. Dadurch war mir so ne Last von den Schultern gefallen und 12 ich konnte einfach meinen Weg gehen, den ich gehen würde und da war 13 auch so, dass mir keiner mehr was zu sagen hatte in der Hinsicht. Und ich 14 war einfach frei in dem Sinne, den Weg zu gehen. Eigentlich den, den ich 15 für richtig gesehen hab. (2) ((holt tief Luft)) Von der Gemeinde gab’s keine 16 große Hilfe. Es gab einfach Ohnmacht. Mehr nicht. Ja, und dann war das 17 so, dass wir, ähm, lange so gelebt haben. Es gab auch en ((ph)), wir haben 18 zusammen gelebt, 6 Jahre so? Immer mit Auf und Ab, Auf und Ab und 19 ständig das immer dieses nicht wissen, wie das Wochenende verläuft, ob er 20 jetzt betrunken wird oder nicht. Ja. Ich hatte natürlich gesehen, er hat keine 21 Ausbildung. Also braucht er eine Ausbildung. Ich habe 200 Bewerbungen 22 geschrieben für ihn, damit er eine Ausbildung kriegt. Er hat sie auch ge-23 kriegt. Er hat sie gekriegt. Nur leider natürlich, ähm, hat das, er hat damals 24 Diplom-Betriebsstudium im dualen Studium gemacht. Er hat’s auch ge-25 schafft trotz Trinken, trotz allem, aber ohne sein Diplom, weil er die Diplom-26 arbeit das dann praktisch net geschafft hat. Ja, es hat mir natürlich sehr 27 wehgetan, weil ich mir extra Urlaub genommen hab. Ich hab ja dafür ge-28 kämpft, dass er ne Ausbildung sozusagen hat. Heute sagt er, was hab ich 29 überhaupt für nen Abschluss? Stimmt auch. Kann man so und so sehen. 30 Aber, ja, es hat nicht nur im Nachhinein (2) was ich alles unternommen ha-31 be, damit er’s endlich mal rafft, wo sein Leben hingeht. Ja, das war so, bis 32 ich die Selbsthilfegruppe gefunden hab. Es gab mehrere Wege, bis ich 33 dann, ich war erst bei einer Gruppe. Ich bin zwar hingegangen, aber ich 34 konnte irgendwie nicht weiter. Ich kam nicht weiter. Genau. Und dann bis 35 wir irgendwann mal in die Selbsthilfegruppe nach F. kamen durch nen Zei-36 tungsartikel. Genau. Und da hab ich eigentlich vieles angefangen erst zu 37 sehen, was ich selbst mache. Und dass ich mich selber verändern müsste 38 erst mal, bevor er sich verändert. Und das ist für mich wahnsinnig schwer, 39 weil das ist das Schwierigste überhaupt, weil es ist einfacher, immer den 40 anderen zu verändern als sich selber. Und ich hab auch, ich kann das na-41 türlich auch, weiß auch alles besser, ich hab’s ja auch in der Kindheit gut 42 geübt ((lacht)). Die Geschwister haben auch gelitten unter meiner Führung, 43 aber, ja. Es, es fällt mir bis heute auch schwer und ja, das ist halt das. Äh, 44 es fällt mir auch sehr schwer, jemandem nein zu sagen. Das muss ich auch 45 gut lernen. Auch dann zu sagen, ich mach das nicht mit. Aber ich bin sehr 46 froh, dass mir rechtzeitig doch die Augen da aufgegangen sind, sag ich jetzt 47 mal. Dass ich, ähm, das einfach so der Punkt, wo ich gesagt hab, meinen 48 -A23- I/3 49 233 Mann kann ich nicht verändern, werde ich auch nicht. Ich werde ihn da 1 auch noch nicht abhalten, es sei denn, er versteht es selber, wohin der Weg 2 geht. Aber das war für mich wichtig, dass ich gesagt hab, was für, es gibt 3 sicher von Generation zu Generation das gleiche Muster weiter. Es gibt ja 4 sozusagen die soziale Vererbung. Und dann habe ich dann halt zum ersten 5 Mal gesagt, den Kreislauf möchte ich jetzt unterbrechen, damit es nicht 6 von einer Generation zur nächsten weitergegeben wird. Genau. Weil ich 7 weiß, ich, (1) ich schimpf zwar sehr oft über die Schwiegermutter, weil sie ja 8 alles für ihn macht und auch die Eltern, aber im Grunde genommen mache 9 ich auch vieles. Vielleicht in ner anderen Form, aber ich mach’s auch. Und 10 damit ich einfach, wo ich gesagt hab, ich möchte nicht, dass mein Kind ei-11 nes Tages in so ner oder in so ne Abhängigkeit rein gerät, damit das unter-12 brochen ist. Weil ich glaub, das war, ja. Obwohl wir bei uns in der Familie, 13 sage ich jetzt mal, meine Mama hat nen Bruder gehabt, der sehr getrunken 14 hat. Von Papas Seite gab’s niemanden, der so war. Aber es gibt ja nicht nur 15 das Trinken. Es gibt ja auch Arbeitssucht. Die kann man ja auch damit defi-16 nieren und, ähm, ja. Das ist auch so kein gesundes Verhalten merkt man 17 schon. Aber es ist auch sehr schwer, da herauszukommen, finde ich. Da 18 braucht man sehr viel die Gruppe, sonst schafft man‘s nicht. Ich bin sehr 19 froh um Herrn L., weil da ist es wirklich auch durch seine Bücher, wo’s 20 man so einem richtig gespiegelt kriegt, was man eigentlich macht. (1) Ge-21 nau ((holt tief Luft)). Ja, ich denke, das war’s eigentlich. Aber mein Mann, 22 wollte ich noch sagen, der macht jetzt seine, glaube ich, dritte Therapie? 23 Morgen fängt er seine, doch, es ist die dritte. Und ich hab immer noch so, 24 ähm (2). Die erste war eigentlich nicht so, da war ich noch ziemlich auf 25 Wolke 7 bin ich geschwebt, dass ich gedacht hab ((poh)), die Therapie und 26 danach wird alles gut. Aber es ist nicht so. Wir meiden immer noch Ausei-27 nandersetzungen und es stimmt schon, der Herr K. hat es auch gesagt, es 28 liegt sehr oft nicht an dem Alkohol. Ähm, wir haben ein Beziehungsprob-29 lem. Und das ist unser Problem. Und das ist wirklich so das, wo ich dann 30 sehe, stimmt. Und wenn jetzt kein Alkohol? Aber es gibt Sachen, die mich 31 auf die Palme bringen und wir können nicht miteinander reden, wir kön-32 nen’s nicht stehen lassen. Ich fang sehr schnell an natürlich auch zu heu-33 len, das ich damit den anderen dann natürlich auch sehr klein mache, 34 schlechtes Gewissen rein krieg. Das, also, wir können, wir haben auch nie 35 gestritten großartig oder sonst irgendwas, was eigentlich auch net gesund 36 ist oder einfach Sachen auszuhalten, das haben wir alles net gemacht. 37 Deswegen, ich würd sagen, wir haben im Grunde genommen, wenn auch 38 Alkohol wegfallen würde, würd was anderes kommen vielleicht doch. Also, 39 das ist bei uns schon. Und ich sag mir mal so, ich glaube, wir brauchen 40 auch als Paar, wenn das sein sollte, wenn, dann brauchen wir wirklich auch 41 Hilfe. Sonst würden wir das gar nicht so schaffen, ja. Oder ich würde halt al-42 les wieder machen. Ich weiß, ich tendier auch, ich könnt mir gut wieder vor-43 stellen, ich weiß, ich hab das nur wieder gemerkt, als der W. die erste The-44 rapie gemacht hat. Dann sind wir nochmal zusammen gezogen, zwei Mona-45 te hat es gedauert bis zum ersten Rückfall, und diese Zeit habe ich wieder 46 fast alles angefangen wieder zu machen. Also, was heißt hier, doch, also. 47 Ich hab halt mich weniger auseinandergesetzt, sondern erst mal die schöne 48 Zeit genossen, aber trotzdem die Sachen viel auch gar nicht angesprochen 49 -A23- I/4 50 234 oder so was. Es fällt mir selber ehrlich das zu sagen, was ich denke, was 1 ich fühle, sehr, sehr schwer, auf den Punkt zu bringen vor allen Dingen. 2 I: Und jetzt macht er die wievielte Therapie? 3 Ich glaube, das ist jetzt ((ne)) ein, zwei, es ist die dritte. Und da hab ich na-4 türlich auch, als wir jetzt, ich hab dann, ich weiß, ich hab gesagt, das bringt 5 also, ich hab dem immer wieder gesagt, das bringt nichts, wenn du eine 6 zweite Therapie machst, das ist kein, das ist nur eine Überbrückung der 7 Zeit, hab ich immer wieder gesagt. Also, und das hat ihm natürlich auch 8 nicht gepasst, weil er dann natürlich gesagt hat: Lass mich“ Lass mich 9 doch mal den Weg gehen und erst, wenn ich alles gemacht hab und es 10 dann nicht funktioniert, dann werde ich vielleicht das machen, was du 11 denkst. Aber ich mach erst, was ich will.“ Das heißt, ich habe immer wieder 12 gesehen, also, das ist meine persönliche Meinung, er kann zehn Therapien 13 machen. Wenn die nur zwei, drei Monate dauern und nachher kommt man 14 ins alte Leben wieder zurück. Es funktioniert nicht. Also, nicht bei jedem, 15 sag ich mal. 16 I: //hm, hm, hm// 17 B: Und ich hab einfach gedacht sehr oft, er müsste eigentlich in so ne Ge-18 meinschaft rein, wo die zusammen leben, wo die lernen, sich auseinander-19 zusetzen, wo die Persönlichkeit gefestigt wird. Ähm (1). Deswegen habe ich 20 auch eher immer auf so was tendiert und er hat immer wieder gesagt, ich 21 gehe nicht dahin, weil ich verlier dann alles. Ich muss für alles Rechen-22 schaft abgeben und das will ich auf keinen Fall. Ich will noch immer das 23 machen, was ich will. Genau. Und, ähm, das ist mir natürlich auch sehr 24 schwer gefallen, immer wieder das ihm nicht auf die Nase zu binden ((ge)). 25 Aber jetzt hab ich zum Schluss gesagt, das solltest du selber lernen, also 26 machen. Aber es fällt mir schwer ((holt tief Luft)), aber jetzt machst du. 27 Nach zwei Therapien hat er jetzt vor kurzem gesagt: „Also, ich glaube, es 28 bringt nichts, einfach ne Therapie zu machen. Ich muss auch in betreutes 29 Wohnen irgendwas nehmen, weil ich krieg das nicht hin.“ Und dann hab ich 30 gesagt, ja, aber es ist auch manchmal hab ich auch recht, wenn ich’s wei-31 ter sehe. Aber ich kann das nicht sehr oft. Weil ich denke, die Zeit, die ver-32 geht. Die wertvolle Zeit und das finde ich einfach so schade. Ja, weil es ist 33 irgendwo schon, ich meine das sind 13 Jahre so ins Land gegangen. 13 34 Jahre sind ne lange Zeit. Eigentlich und da, wo ich jetzt sage, ich gebe un-35 sere Beziehung fast auf. Also, mir ist jetzt nicht mehr viel geblieben, die 36 aufzugeben. Da hab ich sehr oft das Gefühl, dass er das ganz schön merkt 37 und ihm liegt das noch mehr, als jetzt mir und, ähm, er versucht das doch 38 irgendwie noch. Aber, obwohl ich merk jetzt, ich bin nicht mehr so wie ich 39 früher mal war. Ich glaub, dass das auch, also, da kommen wir beide jetzt 40 nicht mehr so zurecht. Ich bin froh, wenn er da ist, wenn er da auch mehr 41 Zeit verbracht hat und wenn er wieder geht. 42 I: ja 43 B: Weil, mich stört alles. Alles ((sehr gedehnt)), sag ich jetzt mal und das ist 44 -A23- I/5 45 235 schon krass, weil ich denk, das ist so ein Punkt erreicht, wo das wirklich 1 nicht mehr viel davon ist, um komplett alles aufzulösen. 2 I: Sie leben jetzt auch getrennt? 3 B: Ja, ja, wir leben getrennt. (2) Genau, wir leben zwar getrennt, aber doch, 4 sage ich jetzt mal, ab und zu unternehmen wir zusammen was. Gerade weil 5 der B. acht Jahre ist und der sich das sehr gewünscht hat auch. (1) Ähm, 6 mittlerweile ist es so, dass er weniger sich das wünscht. Früher hat er sehr 7 gelitten, sehr geweint, und ich muss sagen, das was er durchgemacht hat, 8 das ist krass, was die Kinder erleben. Und er hat ihn noch nicht mal so viel 9 gesehen, erlebt, also, dass er so betrunken war. Aber einfach dieses nicht 10 halten, was man verspricht, dass, wenn man sich verabredet, dass man 11 nicht sagt, ins Schwimmbad geht und das das alles aus dem Kopp, das 12 geht morgen nicht mehr und das ist schon krass. 13 I: Ja. 14 B: Also, das ist so schlimm, so hart, würde ich sagen, dieses einfach, denke, 15 egal, wer es macht, aber wenn’s die Eltern machen, das zieht den Boden 16 unter den Füßen weg. Wenn man sich nicht auf seine Eltern verlassen 17 kann, und ich denke, gerade auch auf seinen Vater verlassen kann, das ist 18 schon krass. Also, das ist, wie viel Tränen, wie viel Wut er, ähm, so in sei-19 nem wirklich in seiner Seele hat und bis vor kurzem hat er gesagt: „Mama, 20 ich hasse ihn“, sagte er. Ja, und dann, das kann ich verstehen irgendwo, 21 weil diese Zeit, und er sagt halt auch, manchmal hat er schon gesagt: „Ma-22 ma, das tut mir so weh. Die anderen Kinder kommen nach Hause und der 23 Papa kommt auch heim.“ Sagt er: „Wenn ich sehe, wie die sich freuen und 24 ich hab das nicht.“ Und das stimmt auch. Das ist auch so. Der hat es wirk-25 lich nicht so. Und, ähm, (1) ja, das ist schon krass. Aber vorher, wo er klei-26 ner war, da hat er sehr viel gelitten. Also, was das Kind nachts auch ge-27 weint hat und manchmal geschrien hat nach ihm, das glaubt man gar nicht, 28 was die Kinder so durchmachen. Und deswegen, das kann ich dann oft gar 29 nicht nachvollziehen, dass man dann so, aber Sucht ist Sucht. Da kann 30 man nicht. Das ist einfach ne veränderte Persönlichkeit. Das hat so den 31 Menschen verändert. 32 I: Ja, 33 B: Der ist nicht mehr der, der er mal war eigentlich. Das ist krass, weil man 34 denkt immer, man kennt zwei Menschen. Und das ist so schwer, damit um-35 zugehen, weil er ist eigentlich, wenn er clean ist, ist er so gescheit, so nor-36 mal, so bodenständig, so, man kann mit ihm vieles erleben. Er würd auch 37 Vieles machen, aber wenn er wieder getrunken hat, oder, ich vermute, 38 dass dann noch Spielsucht dabei ist, jetzt dazu gekommen ist. Ähm, er sagt 39 zwar nicht, aber ich habe ihn mal gefragt und er hat gesagt, ähm, dass er 40 ab und zu schon gesessen hat und gespielt hat. Aber laut den Tests bei 41 den, ähm, was gibt es da, bei den, das war in der Therapie. Er sollte einen 42 Test machen und dann hat er gesagt, laut dem Test wäre er nicht spiel-43 süchtig. Ich sag: „Hallo, wenn du dich hinsetzt, wenn du sonst die Zeit damit 44 vergeudest, dann bist du spielsüchtig. Das hat noch nichts im Test zu sa- 45 -A23- I/6 46 236 gen.“ Aber der Test ergibt, ich bin’s nicht, sozusagen. Also, das hat schon, 1 ich weiß auch früher, dass er ab und zu, äh, Hasch, sag ich jetzt mal, gezo-2 gen hat, aber, wenn ich immer gefragt hab, ob noch andere Drogen im 3 Spiel sind, hieß es nein. Aber irgendwann glaubt man ja gar nichts mehr. 4 Dann werden wir mal sehen. 5 Punkt ((lacht)). 6 Kleine Pause; die Nachfragephase schließt sich an, siehe CD I. 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 -A23- I/7 32